Rollenklarheit

Dr. Ruth Seliger über "Rollenklarheit" als wichtiges Element professioneller Führung.

Der Begriff Rolle ist dem Theater entlehnt und legt möglicherweise die Idee nahe, dass es hierbei um Theaterspielen, um Unehrlichkeit, um Masken gehen könnte. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch zutreffend.
Im Theater erwarten die Zuschauer, die Beobachter, dass die Schauspieler im Rahmen des Stücks bleiben und ihren Text sprechen. Auch innerhalb anderer Professionen erwarten die Beobachter oder Mitspieler, dass man sich im Rahmen seiner Rolle verhält. Wenn Sie zum Arzt gehen, erwarten Sie zu Recht, dass er Sie nach Ihrem Befinden fragt, sie untersucht, Ihnen ein Medikament verschreibt – und Ihnen nicht den Großteil der Ordinationszeit von den eigenen Eheproblemen und den eigenen Magenschmerzen erlebt. Sie würden dann sagen, der Arzt sei "aus der Rolle gefallen" und habe sich "unprofessionell verhalten".

Eine Rolle beschreibt ein Verhalten, das in bestimmten sozialen Situationen zu zeigen ist. Rollen beschreiben Verhaltenserwartungen anderer Personen an einen selbst. Rollen denkt man sich also nicht selbst aus, die werden einem von den "Mitspielern" zugewiesen.

Jedes soziale System – wie Gruppe, Familie, Organisation – kennt verschiedene Rollen, die den Platz des Einzelnen im System, das dort gewünschte Verhalten und die Beziehung zu anderen Mitgliedern des Systems definieren. Sie selbst stehen auch immer in vielen Rollen, je nachdem, in welchem Rahmen Sie sich gerade bewegen: als Staatsbürger, als Konsument im Supermarkt oder als Kunde bei Ihrem IT-Provider, in Ihrer Familie als Vater oder Mutter, Onkel oder Tante, als Mitglied in Ihrer Interessensvertretung etc. Überall wird von Ihnen erwartet, dass Sie sich an Verhaltenserwartungen halten und nicht aus der Rolle fallen.

Rollen in Organisationen

In Organisationen entstehen professionelle Rollen, indem die Beiden Systeme Mensch und Organisation miteinander in Verbindung treten. Rollen verbinden Menschen mit Organisationen. Menschen sind ja nicht Teile, Elemente einer Organisation, sondern eigene Systeme mit eigener innerer Logik: Menschen leben dafür, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, sie sind bedürfnisgesteuerte Systeme. Organisationen sind Instrumente, die den Zweck haben, bestimmte Aufgaben zu erfüllen, sie sind aufgabengesteuerte Systeme.

Die Unterschiedlichkeit dieser Systemlogiken wird für beide Teile dann zum Problem, wenn sie kooperieren müssen. Organisationen können ihre Aufgaben ohne Menschen nicht erfüllen, Menschen können ohne Arbeit (und daher oft ohne Organisationen) nicht ihre Bedürfnisse befriedigen. Sie müssen sihc daher aufeinander einlassen.

Diese Verbindung von Menschen und Organisation wird meistens in einem Arbeitsvertrag definiert, dessen Inhalt in der Beschreibung der Rolle (des erwünschten Verhaltens) durch die Organisation und den Erwartungen der Person an die Organisation (Gehalt, Arbeitsbedingungen, Karrieremöglichkeiten, etc.) besteht. Organisationen kaufen also bestimmtes, erwünschtes Rollenverhalten ein und bieten dafür bestimmte Gratifikationen an. Eine Rolle ist damit das Ergebnis eines Handels zwischen Person und Organisation.

Warum sind Rollen wichtig?

Rollen erfüllen eine wesentliche Aufgabe in Organisationen: Sie reduzieren Komplexität. Menschen sind nichttriviale Systeme, das bedeutet, sie tun, was sie wollen: Sie sind autonom, unberechenbar und unsteuerbar. Organisationen könnten mit dieser Unberechenbarkeit aber nicht arbeiten. Die Komplexität, die dadurch entstünde, wäre unbeherrschbar, die Organisation könnte ihre Aufgabe nicht erfüllen. Organisationen brauchen berechenbare Partner, die sich wie triviale Systeme verhalten.

Rollen schränken die Verhaltensmöglichkeiten von Menschen ein. .Die Rolle macht den Menschen berechenbar, trivial. Damit werden Menschen zwar nicht zu trivialen Systemen, aber sie verzichten in ihren Rollen auf viele Möglichkeiten sich zu verhalten, sie zeigen sich trivial. Rollen schränken also einerseits den Verhaltensspielraum ein, geben zum anderen aber auch Sicherheit. Wer seine Rolle kennt, muss sich nicht immer wieder fragen, was er in jeder Situation tun soll. Die Rolle definiert, was zu tun ist und was nicht.

Wo bleiben Authentizität, Ehrlichkeit, Offenheit?

Wenn ich in Seminaren über Rollen spreche, dann wird an dieser Stelle immer wieder gesagt: Ja, aber man sollte als Führungskraft doch vor allem authentisch, ehrlich, offen sein! Ich bin skeptisch. Bleiben wir bei dem Beispiel des Arztes: Möchten Sie sich wirklich von einem Arzt behandeln lassen, der Ihnen ganz offen und ehrlich über seine privaten Probleme erzählt und Ihnen seine authentischen Gefühle zeigt, etwa dass er heute gar keinen Bock auf Ihre Krankengeschichte hat? Möchten Sie selbst eine Führungskraft haben, die Ihnen morgens ihren authentischen Ärger mit ihrem pubertierenden Sohn serviert oder Ihnen ganz offen und ehrlich die Meinung sagt? Ich wünsche Ihnen eine professionelle Führungskraft, die in ihrer Rolle klar ist, die Ihnen Orientierung und Feedback gibt, die für Sie berechenbar ist. "Wer nach allen Seiten offen ist, ist nicht ganz dicht", sagt ein Sprichwort.

Hinter dem Wunsch nach Offenheit und Ehrlichkeit steht ein verständliches Bedürfnis, von anderen Menschen nicht hintergangen, hereingelegt und belogen zu werden. Offenheit und Authentizität erscheinen als Schutz gegen solche negativen Erfahrungen. Aber gerade hier zeigt sich der Nutzen von Rollen und Rollenklarheit. Einforderbares und berechenbares Rollenverhalten ist ein guter Schutz gegen Willkür und Verletzungen. Wenn Organisationen Vertrauen aufbauen wollen, dann sind klar definierte und vereinbarte Rollen der beste Weg dazu. Vertrauen reduziert Komplexität, weil es die Erwartungen an das künftige Verhalten anderer Beschreibt. Rollen schaffen damit Vertrauen, Sicherheit und Berechenbarkeit. Sie sind für Menschen und Organisationen lebensnotwendig.

Zum Text:  Begriffsklärung: Position – Funktion – Rolle
Zur Übung:  Die Rollenlandkarte

Autor: Dr. Ruth Seliger, "Dschungelbuch der Führung"

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