Synergien entstehen nicht von selbst

Reine Strukturveränderungen verändern nicht automatisch bisherige Arbeitsprozesse und –gewohnheiten, was Siemens Österreich zu einer wichtigen Lernerfahrung verhalf.

Die Idee war bestechend: Mitte der 90er-Jahre gab es drei Produktionswerke in Wien, mit zwar unterschiedlichen Produkten, aber einer sehr ähnlichen Produktionstechnologie. Da alle drei Standorte wirtschaftlich in keiner guten Position waren, lag es aus Sicht des Konzerns nahe, die Werke zusammenzuführen, um „Synergien zu nutzen“. Gesagt, getan. 95/96 entstand so das Elektronikwerk Wien, kurz EWW, mit ca. 1.400 Mitarbeitern und über 200 Mio. Euro Umsatz. Einziger Schönheitsfehler: die erwarteten Verbesserungen wollten sich nach der Fusion nicht einstellen. Im Gegenteil. Die Qualität sackte weiter ab, die Liefertreue ließ zu wünschen übrig, die Unzufriedenheit der Kunden wuchs und die Verluste nahmen bedrohliche Ausmaße an. Planlosigkeit, viele Hierarchiestufen, parallele Organisationseinheiten und Konkurrenz zwischen den drei Werkteilen prägten das Bild.

Ein Werk, drei Kulturen

1997 kam es dann zu einem Wechsel der Spitze des EWW. Im Frühjahr installierte man mit Helmut Brunner einen neuen technischen, im Herbst mit Mag. Arnulf Wolfram einen neuen kaufmännischen Leiter. Auf der Suche nach der passenden Unterstützung bei den notwendigen Veränderungen kam Helmut Brunner in Kontakt mit Karin Schneiderbauer, die als EDV-Leiterin der Siemens AG Österreich gerade ihren Bereich einem umfassenden Veränderungsprojekt unterzogen hatte und als Projektleiterin gewonnen werden konnte. „Zuerst hatte ich die Idee, einen KVP-Prozess zu starten“, erzählt Helmut Brunner rückblickend, „aber dann wurde schnell klar, daß das viel zu kurz greifen würde. Es ging um eine viel tiefergehende und weitreichende Kulturänderung. Die Leute haben zwar räumlich zusammen gearbeitet, aber wie von unsichtbaren Wänden getrennt. Die drei völlig unterschiedlichen Kulturen haben einfach weiter bestanden.“

Also entwickelte das neu Top-Management mit Frau Schneiderbauer und dem externen Berater Mag. Wolfgang Filz von der Firma „Strategische Personalentwicklung“ ein Konzept mit Namen „Veränderungsmanagement“, holte sich das O.K. der Konzernspitze und startete den Prozess im Herbst 97. Die wichtigsten Schritte waren:

Aufrütteln durch Selbsterkenntnis

     

  • Die Erkenntnis, etwas verändern zu müssen, war nicht sonderlich ausgeprägt. Die Organisation war wie gelähmt, es herrschte Ratlosigkeit. Daher bestand der erste Schritt in dem Bemühen, umfassendes Bewusstsein zu schaffen für die Notwendigkeit einer Veränderung. Erst wenn die Mitarbeiter selbst die Dramatik der Situation erfassen und zu dem Schluss kommen würden, dass es so nicht weitergehen könnte, würde die Bereitschaft entstehen, sich aktiv an der Veränderung zu beteiligen. Die niederschmetternden Zahlen wurden von der neuen Leitung offen auf den Tisch gelegt, Probleme und Szenarien diskutiert und das geplante Vorhaben vorstellt.
  • Den Beginn machte dann ein Pilotprojekt in der „Flachbaugruppe“ – unterteilt in Automatenfertigung und Handbestückung - dem ersten Prozessschritt in der Produktion, Zulieferer für die meisten anderen Produktionsbereiche und der Bereich mit den offensichtlichsten Problemen. Hier gab es die größten Reibungsverluste und die größten Qualitätsprobleme.
  • Wie die neue Organisation ausschauen könnte, war bereits zwar bereits von der neuen Führung in der Projektvorbereitung angedacht worden - etwa die Zusammenfassung der drei bisher getrennt agierenden Produktionslinien in einen Prozessschritt und die Vermischung der bisher getrennt vor sich hin agierenden Kulturen -, doch oberstes Prinzip war, es der Mannschaft zu überlassen, in Modellbildungs-Workshops festzulegen, wie die Flachbaugruppe in Zukunft organisiert sein sollte. Dieses Vertrauen erwies sich als berechtigt. Die Leitfrage des Workshops war: Was würden wir tun, wenn es das alles nicht gäbe, und die Firma würde beschließen: wir brauchen jetzt so eine Fertigung. Wie würden wir es machen? Ohne jede Vorgeschichte? Angeregt durch das Fallbeispiel eines anderen Unternehmens begannen die Ideen der Mitarbeiter nur so zu sprudeln. Dass die teilweise radikalen Änderungsvorschläge bei keinem der Anwesenden Widerspruch auslöste, hatte, wie sich bald herausstellen sollte, einen einfachen Grund. Aufgrund der langjährigen Erfahrungen der Mitarbeiter nahm keiner von ihnen an, dass ihre Vorschläge auch umgesetzt werden würden. Um so größer war dann die Überraschung und der Kulturbruch, als die im Workshop beschlossenen Änderungen bereits am nächsten Tag in Kraft traten. Und so gab es am Montag nach dem ersten Workshop im EWW plötzlich drei Führungsebenen weniger.
  • Zeitversetzt zu den Workshops wurde die bisherige Hierarchie mit Einrichtern, Vorarbeitern, Meistern und Fertigungsleitern aufgelöst und Assessment-Center abgehalten, um die neu geschaffenen Positionen „Coach“ als Leiter des Fertigungsbereichs sowie die Teamfunktionen „Arbeitsplatzbetreuer“ und „Team-Koordinatoren“ zu bestimmen. In Summe führte das zum fast völligen Austausch des Mittelmanagements, welches teilweise in andere Positionen wechselte oder aus dem Unternehmen ausschied. Zur gleichen Zeit wurde intensiv an der Gesamtstrategie -u.a. dem Aufbau einer neuen Produktschiene - und am Teambuilding des Leitungskreises gearbeitet.

Ein Prozess ist nie zu Ende

Das Pilotprojekt in dem Flachgruppenbau – zuerst in der Automatenbestückung, dann in der Handfertigung und den Supportbereichen - dauerte rund vier Monate, dann folgte die Ausweitung auf die Bereiche Endfertigung, Controlling, Abwicklungszentrum und Fertigungsvorbereitung und deren Umstrukturierung bis Juni 98. Der Umbau des gesamten Werkes vollzog sich somit innerhalb eines dreiviertel Jahres. Um den in Gang gekommenen Prozeß weiter zu stützen, begann man dann mit dem Aufbau eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses und einem neu konzipierten Ideenmanagement.

Insgesamt wurden im Projekt „Veränderungs-Management“ 29 Gruppenveranstaltungen durchgeführt, an denen ca. 300 Mitarbeiter beteiligt waren. Die Kosten beliefen sich auf rund 800.000 Euro, der Großteil davon kalkulatorische Arbeitskosten. Die sich durch das gesamte Unternehmen ziehende Veränderung brachte Umbauten, Übersiedelungen und Personalrochaden, bedingte Produktionsausfälle und führte dazu, dass das Betriebsergebnis in der Anfangsphase erst einmal gewaltig in den Keller fuhr, bevor die Kehrtwendung einsetzte. Umso wichtiger war es daher gewesen, den Konzernvorstand angemessen auf diesen Verlauf – es wird erst schlechter, bevor es besser wird - vorzubereiten, um auszuschließen, dass das Projekt wegen der weiteren Verschlechterung der Zahlen plötzlich gestoppt werden würde.

Mit nunmehr 1.300 Mitarbeitern und einem Umsatz von 225 Mio. Euro brachte das folgende Geschäftsjahr 89/99 dann nun nicht die erhoffte schwarze Null, sondern bereits einen Gewinn von rund 2,18 Mio. Euro.

Autor: Peter Wagner, 11.1999

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