Konkurrenz benebelt die Sinne

Fünf Mythen über die angeblichen Vorteile von Konkurrenz

Möglicherweise stehen wir unmittelbar vor einer kopernikanischen Wende, was unser Verständnis des menschlichen Zusammenlebens betrifft. Das historische Fenster ist günstig und steht weit offen, weil wir trotz – oder wegen – a) einer hochspezialisierten Wissenschaft, b) eines nie dagewesenen Stands der Technik und c) eines beispiellosen ökonomischen Reichtums gleich mehrere globale Krisen von lebensbedrohlichem Ausmaß produziert haben: Lebensmittel- und Energiekrise; Finanz- und Wirtschaftskrise; Verteilungs- und Demokratiekrise. Irgendetwas ist hier fundamental schiefgelaufen, und immer mehr Menschen sind bereit, alte Denkgewohnheiten über Bord zu werfen und sich für einen grundlegenden Systemwandel zu öffnen.

Vielleicht setzt sich schon in den kommenden Jahren die Erkenntnis durch, dass Konkurrenz ein gefährliches soziales Gift ist. Nicht in der Überdosis, sondern prinzipiell. Ich sehe es als strukturelle Krisenursache, dass wir die Konkurrenz zum Leitwert des Wirtschaftens und Zusammenlebens gekürt und das strukturelle Gegeneinander zur Norm und Normalität erhoben haben. Die politischen und ökonomischen Eliten haben uns über Wesen und Wirkung der Konkurrenz Sand in die Augen gestreut und diese als etwas Positives hingestellt. Das hat wiederum damit zu tun, dass den Mächtigen nichts mehr nützt, als wenn wir alle einander konkurrenzieren und dabei die Fähigkeit zur Solidarität und Kooperation verlernen. Fünf Mythen haben das Supergift Konkurrenz salonfähig und zum politischen Leitziel gemacht.

Mythos 1: Der Mensch neigt von Natur aus zur Konkurrenz

In der Menschennatur ist die Möglichkeit, aber nicht die Notwendigkeit zur Konkurrenz enthalten. Wir streben von Natur aus nach Zielen, aber wie wir das tun – in kooperativer Weise oder durch Konkurrenz –, darüber sagen unsere Gene nichts aus. Das Muster, nach dem wir unsere Ziele verfolgen, ist kulturell erlernt und somit eine freie Willensentscheidung. (Der Umstand, dass heute fast alle Auto fahren, beweist auch nicht, dass Autofahren in den Genen festgeschrieben ist.) Was kulturell erlernt wurde, kann wieder umgelernt werden. Die Menschennatur bietet uns genauso die Möglichkeit zu Solidarität und Kooperation wie zu Ellbogeneinsatz und Konkurrenz. Die 30 000 Menschen, die in Deutschland ehrenamtlich in den Tafeln Lebensmittel an Bedürftige austeilen, handeln nicht gegen die Menschennatur; sie haben sich vielmehr aus freien Stücken dazu entschieden zu kooperieren.

Mythos 2: Konkurrenz führt zu hoher Leistung

Oft behauptet, nie bewiesen. Im Gegenteil: Neun von zehn Studien besagen, dass mit Kooperation höhere Leistungen erzielt werden als mit Konkurrenz. Der Grund dafür ist recht einfach: Die Kooperation motiviert mit positiven emotionalen Erfahrungen: Wertschätzung, Vertrauensbildung, gemeinsame Zielerreichung: Dein Erfolg ist auch mein Erfolg. Konkurrenz motiviert hingegen mit Angst, Druck und Stress. Deshalb geht es vielen Menschen in Konkurrenzsituationen schlecht. Das Nicht-schlechter-sein-Dürfen oder Besser-sein-Müssen als andere ist eine klassische extrinsische Motivation (die von außen drängt) im Unterschied zur intrinsischen (die von innen kommt). PsychologInnen sind sich einig, dass intrinsische Motivation stärker wirkt als extrinsische; extrinsische Motivation untergräbt sogar die intrinsische: Je stärker ich meine Aufmerksamkeit darauf lenke, wie gut ich im Vergleich zu meinen Konkurrenten bin, desto weniger kann ich mich auf die eigentliche Tätigkeit konzentrieren und darin aufgehen. Wer sich einer Beschäftigung oder Beziehung ganz hingibt, braucht keine Konkurrenz, um eine gute Leistung zu erbringen. (Eine Sache gut machen zu wollen und besser sein zu wollen als andere, sind zwei grundverschiedene Dinge.)

Mythos 3: Konkurrenz macht Spaß

Es ist bezeichnend, dass bei Diskussionen über ökonomische Konkurrenz reflexartig der sportliche Wettbewerb bemüht wird, um zu beweisen, dass Konkurrenz normal und natürlich ist und Spaß macht. Abgesehen davon, dass es offenbar nicht überzeugt, dass ökonomische Konkurrenz Spaß macht, weshalb der Sport aushelfen muss: Selbst im Sport hört sich der Spaß für die meisten auf, wenn aus Spiel ein Wettkampf wird. Plötzlich geht es nicht mehr um den Prozess, sondern um das Ergebnis: das Siegen. Und das ist für die meisten nicht so lustig. Denn die meisten verlieren. Und selbst die, die gewinnen, erfahren nicht nur die Bewunderung, sondern meistens auch den Neid aller anderen, selbst der engsten TrainingskollegInnen. Der Sieg von heute kann, davon abgesehen, schon morgen einer Niederlage weichen. Deshalb schmeckt ein Sieg nicht wirklich süß. SpitzensportlerInnen müssen sich mit negativen Gefühlen wie Verbissenheit, Selbstzweifel und Angst vor Anerkennungsverlust herumschlagen. Hingegen gehen Menschen in Spielen, in denen es um den Prozess geht und bei denen niemand verlieren kann, regelrecht auf: Sie haben Spaß. In einer Studie bevorzugten zwei Drittel aller Burschen und alle Mädchen Spiele, bei denen niemand verliert, gegenüber Spielen, wo die einen gewinnen und die anderen verlieren.

Mythos 4: Konkurrenz wirkt charakterbildend

Dieser Mythos rührt wohl daher, dass Konkurrenz scheinbar dazu führt, dass Menschen an sich arbeiten, um weiterzukommen. Doch das Ziel ihrer Arbeit ist ausschließlich das Besser- Sein als andere, das Siegen und Demütigen. Und das ist doch eine sehr merkwürdige Form des An-sich-Arbeitens. Studien zufolge zeigen erfolgreiche SportlerInnen "wenig Interesse an Unterstützung und Fürsorge durch andere, ein geringes Bedürfnis, für andere zu sorgen und geringe Gruppenanschlussfähigkeit". Eine andere Studie zeigt, dass "Freundlichkeit, Sympathie und Uneigennützigkeit" auffallend abwesend unter erfolgreichen SportlerInnen sind. Eine dritte besagt, dass stark wettbewerbsorientierte Kinder weniger empathisch sind als schwächer wettbewerbsorientierte Kinder. Womit wird hier Charakter verwechselt? Mit blinder Zielorientierung und rücksichtsloser Durchsetzungskraft? Der Charakter kann nicht der große Nutznießer der Konkurrenz sein: Möchten Sie mit der wettbewerbsfähigsten Person im Dorf befreundet sein? Eben. Die Psychologin Karen Horney fasst zusammen:"Wettbewerbsorientierung führt zu Neid gegenüber den Stärkeren, zu Verachtung gegenüber den Schwächeren und zu generellem Misstrauen gegenüber allen."

Mythos 5: Konkurrenz stärkt das Selbstwertgefühl

Das glatte Gegenteil liegt vor: Wer Wettbewerb braucht, um sich gut zu fühlen, dem mangelt es offenbar an Selbstwert. Sie oder er fühlt sich nicht wert, ohne besser zu sein als jemand anderer. Wettbewerbsverhalten ist als Defizit-motivierte Charaktereigenschaft mehr eine Notwendigkeit als ein Bedürfnis. Je gesünder eine Person, desto geringer das Bedürfnis zu konkurrieren. SportsoziologInnen berichten von charakterstarken Persönlichkeiten mit hohem Selbstwertgefühl, die Wettbewerbe aus Prinzip meiden. Wenn wir ein Verhalten als ungesund beschreiben, weil es Defizit-motiviert ist oder auf ein geringes Selbstwertgefühl zurückzuführen ist, dann ist gesunder Wettbewerb ein Widerspruch in sich. Wettbewerbsorientierte Personen sind weit davon entfernt, ein bedingungsloses Selbstwertgefühl zu haben. Sie sind übermäßig davon abhängig, wie gut sie bestimmte Dinge gemacht haben und was andere über sie denken. In einer wettbewerbsorientierten Kultur wie der unseren kennt jeder das Gefühl der Scham und des Selbstzweifels, wenn man einen Wettbewerb verloren hat. Loser ist zum weltweiten Schimpfwort geworden. In einer groß angelegten Studienauswertung in Bezug auf die Auswirkung auf das Selbstwertgefühl besagten 87 Studien, dass Kooperation einen positiveren Effekt auf das Selbstwertgefühl hat als Konkurrenz, nur eine Studie kam zum gegenteiligen Ergebnis. Kurz, Wettbewerb ist ein hochgradiges Charakter-, Beziehungs- und Gesellschaftsgift. Wir sollten ihn aus den politischen Programmen streichen und aus unserem kulturellen Wertekanon bannen. Kooperation führt erwiesenermaßen zu solidarischerem Verhalten und größerer Hilfsbereitschaft, zu stärkerer Freundschaftsbildung und Zuneigung, zu mehr Vertrauen und Sicherheit. Kooperation ist besser für die Persönlichkeitsentwicklung, sie macht mehr Spaß als Konkurrenz und verursacht weniger Stress. Wir sollten die Kooperation zum durchgängigen Prinzip des menschlichen Zusammenlebens machen: in der Nachbarschaft, in der Erziehung, in der Wirtschaft, in der Politik.

Zum Autor:
Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch: "Kooperation statt Konkurrenz". Mag. Christian Felber ist freier Publizist und Autor (u.a. des Buchs "Neue Werte für die Wirtschaft") sowie Mitbegründer und Sprecher von Attac Östererich,

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Mag. Christian Felber