Wer gut entscheidet, kann nichts falsch machen

Entscheiden als zentrale Führungskompetenz, die man systematisch entwickeln kann.

Im Einleitungsteil dieser Artikelserie "Entscheiden in Organisationen" im Leaders Report 12-2009 (siehe http://www.leaders-circle.at/sutrich-entscheiden.html ) habe ich Führungskräfte und Personalentwickler an das eigentlich Selbstverständliche erinnert: Entscheiden ist das Herzstück von Führung. Der Kernsatz lautete: "Wird gut entschieden, dann ist sonst wenig wichtig. Wird nicht gut entschieden, dann ist alles andere unwichtig." Ich versuchte plausibel zu machen, warum die Zeit reif ist, in die Bereitschaft und Fähigkeit gut zu entscheiden, nachhaltig mehr zu investieren. Ich stellte drei Aspekte vor, die den "Raum des Entscheidens" ausmachen: Erstens die janusköpfige Eigenart von Risiko. Zweitens, dass jede Entscheidung nur so gut sein kann wie der Prozess, der sie hervorbringt und der ihr folgt. Drittens, dass ein nachhaltiges Verbessern des Entscheidens in Organisationen simultan auf den drei Systemebenen Organisation – Team – Personen (in Rollen) konzipiert werden muss. Der Hauptteil des Artikels skizzierte die jeweiligen Charakteristika der fünf Phasen des Entscheidungsprozesses.

Der vorliegende zweite Beitrag steht nun unter der Leitidee "Wer gut entscheidet, kann nichts falsch machen". Er fokussiert darauf, was Führungskräfte selbst tun können, um durch gezieltes Lernen on-the-job zu einem wirkungsvolleren Entscheidungsverhalten zu kommen. Und indirekt: wie Besser-Entscheiden als Leitkonzept für eine auch in 20 Jahren noch unverändert höchst relevante Führungskräfte- und Organisationsentwicklung dienen kann.

Für jede einzelne Führungskraft sind in ihrer Aufgabe die persönliche Unsicherheit, das latente Unbehagen und der Mangel an sicheren Orientierungspunkten stärker zu spüren. Wer diesen Tatbestand leugnet, macht bereits den ersten Weichen stellenden Fehler, d.h. wird sein Potenzial gut zu entscheiden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht voll ausschöpfen.

Unstrittig ist, dass die Achtsamkeit für die "inneren persönlichen Auslöser und Muster" im Entscheidungsverhalten des Unternehmers wie auch aller Führungskräfte mehr gefordert ist denn je. Wie bereit und fähig sind Führungskräfte, der höheren Risikolage bewusst und nachhaltig gerecht zu werden? Wie achten sie darauf, gerade in ihren persönlichen Vorlieben und Abneigungen als Entscheider ein gutes Vorbild zu geben? Es erstaunt immer wieder, wie relativ selten Führungskräfte sich ihrer großen Vorbildwirkung - im Guten wie im Schlechten - bewusst sind. Jede Führungskraft hat die Wahl, diesen Tatbestand primär als Gefahr oder primär als Gelegenheit zu formulieren. Die Gefahr und das Ärgernis bestehen darin, dass ich als Führungskraft einige lieb gewordene Gewohnheiten, Prioritäten und vielleicht mein Zeitmanagement verändern sollte. Das kostet Energie und der Erfolg ist unsicher. Der Chancenaspekt ist auch klar: Wir leben in wunderbaren Zeiten für Leute, die mit Augenmaß bewusster Verantwortung übernehmen wollen und mit "irgendwie Mitschwimmen" nicht zufrieden sind!

Drei Grundeinstellungen stellen die Weichen

Unternehmern und Führungskräften, die interessiert sind, sich dem Entscheiden bewusster und mit lernender Neugier zu widmen, stehen drei Weichen stellende Grundeinstellungen zur Verfügung:

  • Lassen Sie sich vollkommen auf eine Sache ein. (Sofern sie Ihnen wichtig ist.) Gutes Entscheiden fordert die Ressourcen und fördert die Potenziale der ganzen Persönlichkeit, das ist das Schöne und Verantwortungsvolle, das Befriedigende und Produktive daran. Jeder weiß, zumindest unterbewusst: Will man einer Sache ausweichen oder sie nur irgendwie schnell vom Tisch haben, kommt sie unangenehm oft als größer gewordener Bumerang und Zeitfresser zurück. Die nicht getroffenen Entscheidungen sind die Teuersten. Qualität, Geschwindigkeit und Produktivität Ihrer Führungsarbeit steigen sprunghaft, wenn Sie "nur" das entscheiden beziehungsweise in einen Entscheidungsprozess einbringen, was im Grunde rational oder intuitiv schon klar und damit "eigentlich" überfällig zu entscheiden ist. Nicht getroffene Entscheidungen blockieren Energie, getroffene schaffen Energie und Platz für neue Erfahrungen.
  • Sehen Sie Entscheiden als einen durch viele Balanceakte bestimmten Prozess. Gutes Entscheiden ist gerade deshalb so anspruchsvoll und lohnend, weil in vielen Balanceakten ein mittleres Maß anzustreben ist. Natürlich fällt es nicht jeder Führungskraft gleich leicht, alle der folgenden zwölf Balanceakte ausgewogen hinzukriegen.

Balanceakte / Pendelbewegungen, die gutes Entscheiden kennzeichnen

zu viel sowohl ... Dimensionen ... als auch zu viel
Realität missachten; nur Nervenkitzel zählt Chancen sehen, nutzen, ausbauen 1. Primäraufgabe, "Risiko abwägen" Gefahren sehen, annehmen, mildern, ausweichen Bedrohung in allem sehen (angstgelähmt)
tollkühn sein; Highlander-Feeling Mut einsetzen; Selbstvertrauen / Vertrauen 2. Handlungsorientierung, Wagemut vs. Vorsicht Zweifel + Selbstkritik (als Gegengewicht) verzweifelnd, ungläubig, depressiv
unverdaubar viel Neues initiieren, oder Inkompatibles zur Kultur Verändern = Innovation/ Kreativität fördern 3. Changeaspekt Bewahren =Stabilität / Orientierung geben konservieren, blockieren und aussitzen (bis zum Untergang)
Überdehnung; Überforderung; Leistungsbumerang Möglichkeitssinn = Anspruch/Vision hochhalten 4. Wollen Wirklichkeitssinn = Wirklichkeit erkennen wer nur die Wirklichkeit anerkennt und nicht auch Möglichkeiten ...
zukunftsblind; Zusammenhänge Ignorieren operativ, schnelle Wirkungen 5. Entscheidungshorizont & -wirkung strategisch, langfristig, weittragend, nachhaltig grandiose Entwürfe ohne Bodenhaftung; realitätsfremd
nur mit sich selbst beschäftigt; unverbunden mit Außen / Markt Innenfokus 6. Blickrichtung Außenfokus immer außer sich; unverbunden mit Innen
nicht zeitgerecht zu Fokussierung, und Verbindlichkeit kommen offen, neugierig sein; Fragen kunstvoll stellen 7. Wechsel zwischen "weit" und "eng" entschlossen sein: Antworten aus der Exploration ableiten zu schnell "wissen", Tunnelblick, nicht loslassen; diktatorisch
atemlos, rastlos, gefühllos für Zeit, Stop-and-Go, „Speed kills“ – aber wen? schnell und früh entscheiden; beschleunigen 8. Tempo, Timing, Fluss, Rhythmus umsichtig, bedächtig; auf Zeitfenster warten; Tempowechsel Chancen verpassen; unbeeindruckbar von Umwelttempo
Haudrauf; simpel statt einfach; shit-back-guarantee angemessen reduzieren; auf das Wesentlich vereinfachen 9. Komplexität managen bewusst dem Thema und der Situation angemessen aufbauen sich im Wald der Unwägbarkeiten/Unentschiedenheit verirren
kaltschnäuziges Kalkül Betonung der Sachlogik des Themas 10. Sach- vs. Beziehungslogik Betonung der Menschen, Interessen, Loyalitäten, Politik nur von Interessen, Loyalitäten gefesselt sein,
inhaltsfixiert; auf der Inhaltsseite vom Pferd fallen Fachkompetenz (organisieren) 11. Integration von Sache & Prozess Prozesskompetenz (organisieren) Alles nur laufen lassen;
Machterhalt wird zum Selbstzweck und schadet Einsatz der Macht für Machterhalt 12. Machteinsatz Einsatz der Macht für Dienst an Menschen und Sache Idealismus u.a. macht blind für die Mächtigen und Kompromiss
  • Schließlich gilt es drittens Ihr persönliches Anspruchsniveau als Führungskraft mit nüchternem Blick auf die Wirklichkeit zu paaren: Ideal ist ein hoher Anspruch, gepaart mit Augenmaß und Bodenhaftung. Ohne einen sehr nüchternen Blick für die Wirklichkeit (zum Beispiel der Grenzen der eigenen Willens- und Urteilskraft), was manchmal schmerzlich und unangenehm sein kann, ist gutes Entscheiden, das zum Realisieren des hohen Anspruches führt, nicht zu haben.

Angenommen, Sie haben für sich innerlich diese drei Weichen gestellt: Was sind dann gute nächste Schritte? Die Reise sollte mit einer Einschätzung der Differenz zwischen eigenem Anspruch und Wirklichkeit beginnen; da ist der Blick auf das eigene Zeitmanagement aufschlussreich.

Der Blick auf das eigene Zeitmanagement

"Unternehmer und Führungskräfte sollten nicht nur ihre Arbeitslast und Produktivität steigern, sondern primär den Prozent-Anteil ihrer nachhaltigen Produktivität. Das heißt die richtigen Dinge getan zu kriegen, in guter Qualität, rechtzeitig, Ressourcen (inklusive ihrer eigenen) schonend beziehungsweise wieder auffüllend."(1). Zeitmanagement ist offensichtlich eng verwandt mit Entscheiden, nur der Zusammenhang von Entscheiden und (bewirkten oder unterlassenen) Veränderungen ist noch enger.

  • Häufig ist die Entscheidung "Wofür verwende ich meine (beste) Zeit, wofür nicht?" und die Einsicht "Womit verschwende ich meine Zeit und / oder die meiner Mitarbeiter?" wenig bewusst beziehungsweise folgt mehr oder weniger verfestigten Gewohnheiten.
  • Welche Anteile meines eigenen Zeiteinsatzes können guten Gewissens als nachhaltig bezeichnet / klassifiziert werden?
  • Der beste Ansatzpunkt, die nachhaltige Produktivität zu erhöhen, ist, Phantom-Arbeitslast (Paul/Stroh) zu reduzieren. Phantom-Arbeitslast wird - natürlich unbeabsichtigt – wechselweise auf zwei Wegen produziert. Menschen versuchen, über "schnelle Abkürzungen" zum Ziel zu gelangen, die zweckmäßig, bequem und naheliegend sind, aber nicht effektiv. Oder sie vermeiden, schwierige essenzielle Aufgaben anzupacken beziehungsweise versuchen sie "nebenbei" zu erledigen. Einige klassische Kostproben für unbewusste Entscheidungen, die unweigerlich zeitaufwändige Phantom-Arbeitslasten nach sich ziehen:
    (1) die wenigen wichtigen Entscheidungsprozesse im Team oder Unternehmen suboptimal laufen lassen, statt sie zu klären und straffen;
    (2) Entscheidungsprozesse vermeiden, die zu Desinvestitionen in Programme und Projekte führen;
    (3) Strategisch notwendige innovative Projekte nicht zu starten;
    (4) überfällige Personalentscheidungen nicht zu treffen;
    (5) in Krisenphasen der Hektik oder dem Abtauchen nicht konsequent gegenzusteuern. 
  • Die Konsequenzen von Phantom-Arbeitslast zeigen sich in einem Teufelskreis von teurer Nacharbeit, verärgerten Kunden, chronischen Abteilungskonflikten, zeitraubenden unproduktiven Meetings und verschwendeter Zeit durch das „Lösen“ immer wieder derselben Probleme. Phantom-Arbeitslast hat die höchst unangenehme Eigenschaft, dass sie im Gewand des sehr Realen und Unvermeidlichen daherkommt und so die tägliche Arbeitszeit um Stunden verlängert ohne einen signifikanten Nutzen zu stiften. Als Unternehmer oder Führungskraft halten Sie damit unabsichtlich einen Teufelskreis in Gang in dem die Arbeitsbelastung, die durch das „Lösen“ dieser zusätzlichen Probleme entsteht, den Arbeitsdruck erhöht, der wiederum mehr Stress auslöst, was schließlich die Abneigung und / oder Unfähigkeit, sich tiefgehend genug und konzentriert schwierigen Aufgaben zu widmen, nährt.

Vielleicht helfen zwei zusätzliche Fragen weiter?

Fällt dieser Check der "persönlich-nachhaltigen Produktivität" zu Ihrer Zufriedenheit aus, dann ist dies natürlich sehr befriedigend, weil ziemlich selten. Sie könnten sich hier mit gutem Gewissen entscheiden nicht mehr weiter zu lesen! Oder, um noch tiefer gehende Sicherheit zu gewinnen, sich zwei zusätzlichen Check-Fragen stellen:

  • Erziele ich meine Produktivität als Führungskraft manchmal vielleicht über den zu hohen Preis des verschwenderischen Abrufens der Ressourcen meiner engeren Mitarbeiter und "Zuarbeiter"; hat das Optimieren meiner Produktivität vielleicht eine relative Verantwortungs- und Entscheidungsscheu meiner Mitarbeiter zur Folge?
  • Und: Wozu kann ich als (Lern-) Vorbild und Multiplikator im Unternehmen alle anderen Führungskräfte und Experten permanent einladen und provozieren, damit sie ihre Potenziale, gute Entscheidungsprozesse zu initiieren, zu unterstützen und zu verantworten kontinuierlich mehr ausschöpfen? "Mein Lernprozess, bewusster und besser zu entscheiden hat erst wirklich eingesetzt, als mein Vorstandskollege ins Unternehmen kam. In der intensiven Auseinandersetzung mit einer anderen Person haben wir schrittweise an Qualität gewonnen." (Zitat eines Unternehmers)

Bewusstes, nachhaltig angelegtes Lernen beginnt mit vertrauensvollen Dialogen, die sich in jenen Teams und Netzwerken, in denen die einzelne Führungskraft Einfluss hat, peu á peu ausbreiten. Eine bedauerliche Erfahrung zeigt, dass viele Menschen beim Entscheiden über ein weit größeres Potenzial verfügen als ihnen zum einen bewusst ist und zum anderen im Unternehmen abgefordert wird. Hier liegt ein noch ungehobener Schatz, dessen ökonomische Relevanz nur intuitiv zu bemessen, aber sicher sehr groß ist. Darüber hinaus haben wir die, auf den ersten Blick erstaunliche, Erfahrung gemacht, dass es Führungskräften keineswegs leicht fällt, über ihre Kraft und Grenzen, ihre Muster und eventuell auch Stolpersteine beim Entscheiden zu reden, d.h. konstruktiv "laut nachzudenken" und über mehr Bewusstsein zu mehr Wahlmöglichkeiten und damit mehr persönlicher Wirksamkeit zu kommen.

Diese beiden, immer wiederkehrenden Beobachtungen – das große unausgeschöpfte Potenzial und die intuitive Zurückhaltung, über die eigenen Entscheidungsmuster zu reden - haben unseren Forschergeist angeregt. Max Lanzenberger und Ulrike Sutrich haben gemeinsam mit dem Autor vor einigen Jahren hauptsächlich für Führungskräfte und Führungs- bzw. Projektteams ein Instrument mit dem Ziel entwickelt, das Gespräch über dieses Potenzial für die Betroffenen anzuregen und Sicherheit gebend zu strukturieren.

LINK: Das KAIROS-Entscheiderprofil©

Ausblick:

Im dritten Beitrag werden wir einen Blick auf die wichtigsten Entscheidungen mit der Risiko-Brille werfen. Jede Führungskraft kann, für sich selbst und gegenseitig mit den anderen im Team, Entscheiden inhaltlich auf den Punkt bringen und Entscheidungsprozesse produktiv voranbringen, in dem sich die Beteligten über den inhaltlichen Kern und den Risikogehalt des zu Entscheidenden verständigen:

  • Was sind die 5 wichtigsten und mit großer Unsicherheit verbundenen Entscheidungen, die das Unternehmen durch die Beiträge meines Verantwortungsbereiches nachhaltig voranbringen?
  • Welche davon sind überfällig und besonders kritisch? Wie können wir ihnen besondere Aufmerksamkeit und höhere Qualität angedeihen lassen?
  • Was sind, bezogen auf eine konkrete Entscheidung, die Risiken – mit immer beiden Seiten der Medaille: den Gelegenheiten und den Gefahren des Scheiterns – die jetzt gerade verhandelt werden?
  • Welche sind bisher unerkannt, fragwürdig gewichtet, unausgesprochen, noch verschwiegen?
  • Was kann ich tun und was können wir im Team tun, damit die oft zurückgehaltenen oder selektiv geäußerten Risikoeinschätzungen offener und couragierter auf den Tisch kommen?

Anmerkung:

(1)Paul, Marylin / Stroh, Peter: Managing Your Time as a Leader, Systems Thinker, April 2007

Über den Autor: Seit mehr als 10 Jahren entwickelt der Othmar Sutrich gemeinsam mit einer Reihe von Kollegen, von denen Bernd Opp besonders hervorzuheben ist, Schritt für Schritt ein Konzept für „Besser Entscheiden in Organisationen“. Es umfasst Instrumente und Methoden, Übungen, Designs und Arbeitsformate für Führungskräfte und Projektmanager, für Coaches und Trainer, für Personal- und Organisationsentwickler.´

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Dkfm. Othmar Sutrich, Sutrich Organisationsberatung