Talent braucht Übung und Gelegenheiten

Erfolg, so die weitverbreitete Meinung, hat vor allem mit der Persönlichkeit und besonderen Talenten zu tun. Doch diese Erklärung ist höchstens die halbe Wahrheit, denn sie greift viel zu kurz.

Eishockey ist die populärste Sportart in Kanada. Schon im Kleinkindalter beginnen viele kanadische Kinder mit diesem Sport und für jede Altersstufe gibt es eine eigene Liga. Talentscouts durchstreifen das ganze Land, um besondere Talente möglichst frühzeitig zu entdecken. Sind diese Kinder dann zu Jugendlichen mit 15, 16 Jahren geworden, spielen "die Besten der Besten" dieser Altersgruppe in der Major Junior-A-League um den Memorial Cup. Ausgewählt werden diese jungen Spieler, so die Überzeugung aller Beteiligten, ausschließlich nach ihrem Talent, nach ihren besonderen Fähigkeiten.

Eine seltsame Häufung

Mitte der 80er-Jahre, erzählt der amerikanische Autor Malcolm Gladwell in seinem neuen Buch "Überflieger", fiel einem kanadischen Psychologen und seiner Frau bei einem Blick in das Spielerverzeichnis jedoch ein eigenartiger Umstand auf: eine extreme Häufung der Geburtsdaten der Spieler in den ersten drei Kalendermonaten Jänner bis März. Neugierig geworden untersuchten sie das Phänomen genauer, wühlten sich durch sämtliche Spielerverzeichnisse der Top-Liga, derer sie habhaft werden konnten und siehe da, das Ergebnis war eindeutig: 40 Prozent aller Spieler in der Elite-Liga waren in den Monaten Jänner bis März geboren, 30 Prozent zwischen April und Juni, 20 Prozent zwischen Juli und September und gerade einmal 10% zwischen Oktober und Dezember. Wie war das möglich? Bald fand sich die Erklärung: Der Stichtag für die Einstufung in die einzelnen Altersklassen ist der 1. Jänner. Was nichts anders bedeutet als dass ein Kind, das am 2. Jänner geboren ist, in der gleichen Klasse spielt wie Kinder, die erst gegen Ende desselben Jahres Geburtstag haben. Wenn es dann um die Auswahl geeigneter "Talente" für die Junior-League geht, genau im Alter von 9-10 Jahren, können mehrere Monate bis fast ein Jahr Altersunterschied in der gleichen "Altersklasse" einen beträchtlichen Unterschied in der körperlichen Reife bedeuten. Folglich werden genau diese Kinder - die etwas größeren und mit etwas besseren Koordinationsfähigkeiten ausgestatteten-  ausgewählt. In der Folge bekommen diese "besonderen Talente" ein intensiveres Coaching, sie spielen mit besseren Teamkollegen und sie spielen 50 bis 70 Spiele in der Saison im Gegensatz zu 20 bis 30 Spielen jener Kinder, die in der "nächstschlechteren" Spielklasse zurückbleiben. Selbst wenn also die ausgewählten Kinder am Beginn nur ein klein wenig besser sind (und dies aufgrund des Glücks des früheren Geburtstags) – nach zwei bis drei Jahren, in denen sie doppelt oder dreifach so viele Spiele absolviert haben wie die ehemaligen Mitspieler, sind sie dann tatsächlich besser und haben stark erhöhte Chancen, weiter in der Eishockey-Pyramide aufzusteigen.

Ob Eishockey, Baseball, Fußball oder zahlreiche andere Sportarten – das Muster ist dasselbe:

  • Wenn es eine Entscheidung gibt über "sehr gut" oder "gut" in einem sehr frühen Alter
  • wenn die "talentierten" dann von den "untalentierten" getrennt werden
  • und wenn die "talentierten" dann ein besonders intensives Training und eine besondere Aufmerksamkeit bekommen,
  • dann endet das damit, dass eine kleine Gruppe von Personen, die am nähesten zum Stichtag geboren ist, über die Zeit betrachtet einen großen, kaum mehr einholbaren Vorteil erhält.

Im englischen Fußball ist der Stichtag der 1. September. Eine in der 90er-Jahren in der ersten Liga durchgeführte Untersuchung ergab denn auch – wen überrascht das jetzt noch – dass 288 Spieler zwischen September und Dezember geboren waren, hingegen nur 136 zwischen Juni und August. Inzwischen ist der Stichtag im internationalen Juniorenfußball der 1. Jänner und ein Blick auf die Auswahl der Tschechischen Auswahl mit 21 Spielern zeigt: 6 Spieler sind im Jänner geboren, 6 im Februar, 3 im März, 4 zwischen April und Juni und gerade einmal 2 Spieler im August und September. Danach überhaupt keiner mehr. 15 von 21 Spielern haben ihren Geburtstag in den ersten drei Monaten.

Chancenreiche versus chancenarme Umwelt

Die erste Schlussfolgerung aus diesen Beispielen ist: Die heutigen Top-Spieler waren zwar vielleicht schon als Kinder besser als die meisten anderen, doch nur ein klein wenig besser als ihre Kollegen in der Kindermannschaft – und das vor allem aufgrund von ein wenig mehr körperlicher Reife aufgrund eines frühen Geburtsdatums. Doch dieser kleine Vorsprung verhalf diesen "auserwählten" Kindern zu einer besonderen Gelegenheit: einer besonderen Förderung, die den anfänglichen geringen Vorsprung sukzessive vergrößerte. Die zweite Schlussfolgerung ist, dass dieses System der Talente-Erkennung und –auswahl nicht gerade sehr effizient ist, schließt es doch ziemlich genau die Hälfte aller Kinder davon aus, später zu den Erfolgreichsten zu gehören. Solche beschränkenden oder begünstigenden, den Erfolg erst ermöglichenden oder verhindernden Rahmenbedingungen gibt es aber nicht nur im Sport. Sie finden sich überall. Auch in der Kunst und in der Wirtschaft.

Talent entfaltet sich nur durch Übung

In den frühen 90er-Jahren führte der Psychologe K. Anders Ericsson mit einigen Kollegen eine aufschlussreiche Untersuchung an der Berliner Akademie für Musik durch: Mit Hilfe der Professoren unterteilten sie die Violin-Studenten in drei Gruppen: Die "Stars", die "Guten" und jene, die wahrscheinlich keine professionelle Musikerkarriere einschlagen, sondern im öffentlichen Schulsystem als Musiklehrer arbeiten würden. Alle diese Studenten wurden dann mit derselben Frage konfrontiert: "Über den bisherigen Verlauf Ihrer ganzen Karriere gesehen, seit Sie die Geige zum ersten Mal in die Hand genommen haben, wie viele Stunden haben Sie insgesamt geübt?" Fast alle Studenten hatten mit rund 5 Jahren begonnen. In den ersten Jahren hatten alle praktisch gleich lang geübt, im Durchschnitt 2-3 Stunden die Woche. Aber schon im Alter von 8 Jahren traten deutliche Unterschiede auf: Die "Stars" begannen, mehr zu üben als alle anderen. Mit 9 Jahren bereits 6 Stunden die Woche, 8 Stunden mit elf und bereits 16 Stunden mit 14 Jahren, bis sie schließlich mit 20 Jahren rund 30 Stunden die Woche übten. In Summe rund 10.000 Stunden. Im Gegensatz dazu kamen die  "guten" Studenten auf insgesamt rund 8.000 Stunden, während die künftigen Musiklehrer gerade mal etwas über 4000 Stunden erreichten. Ganz ähnliche Ergebnisse zeigten sich beim Vergleich von Pianisten. Am Überraschendsten an dieser Studie aber war, dass die Psychologen kein einziges "Naturtalent" finden konnten – einen Musiker, der es "mühelos" an die Spitze geschafft und nur einen Bruchteil der Zeit geübt hatte. Die Conclusio lautete vielmehr: Wenn es jemand einmal aufgrund seiner Fähigkeiten auf eine Top-Musikschule geschafft hat, dann unterscheidet nur mehr eines die Top-Performer von den Guten: Wie viel der Einzelne gearbeitet, sprich geübt hat.

Diese magische Schwelle von 10.000 Stunden Übung zieht sich durch die verschiedensten Gebiete. Ob Musik, Sport oder Computerprogrammierung, ohne dieses hohe Maß an Einsatzbereitschaft und Übung scheint sich Talent nicht voll zu entfalten. Allerdings – und hier kommt wieder die Umwelt ins Spiel – ist die Chance, überhaupt intensiv üben zu können, mitunter nur zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten möglich. Deutlich sichtbar wird dies immer wieder beim Auftauchen neuer Technologien. Betrachtet man beispielsweise die Biographien des "Genies" Billy Joy, einem der Mitbegründer von Sun Microsystems oder von Bill Gates, dann fällt auf, dass es hier eine Art doppeltes  "window of opportunity" gab. Zum einen sind fast alle späteren Mitbegründer der heutigen großen IT-Firmen in einem engen Zeitraum von 1953 bis 1955 geboren, d.h. sie waren Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre gerade 16-18 Jahre alt und sie waren genau an den Orten, an denen sie die beste Chance vorfanden, damals rare und teure Programmierzeit an den neuesten Großrechnern zu ergattern: Joy an der University of Michigan, die als erste Uni einen time-sharing-Rechner installierte, an dem mehrere Personen gleichzeitig arbeiten konnten und Bill Gates in der Privatschule Lakeside, die als eine der ersten Schulen des Landes einen Computerraum einrichtete und einen neuen time-sharing Computer ankaufte, der mit einem Hauptrechner verbunden war. Joy und Gates waren zweifellos talentiert UND sie waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort UND sie stürzten sich begeistert auf die angebotenen Chancen und kämpften einfallsreich darum, so viel wie möglich programmieren zu können, wodurch sie bereits nach wenigen Jahren weit mehr Programmierpraxis aufweisen konnten als fast alle anderen Menschen dieses Planeten.

Quelle: Maxwell Gladwell: Überflieger (im Original "Outliers"), Campus Verlag, 2009, Euro 20,50

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