Entscheiden in Organisationen

Der Organisationsberater Othmar Sutrich beschreibt im ersten Teil seiner Artikel-Reihe, wie Sie als Führungskraft und Organisation Ihr Entscheidungsverhalten verbessern können.

Ohne Übertreibung kann man fundiert argumentieren, dass ein würdiges Leben und Überleben auf unserem Globus stark davon abhängt, ob genügend viele Führungskräfte und Experten in Organisationen schnell genug lernen, nachhaltig besser zu entscheiden. Denn Organisationen aller Art - vor allem auch Wirtschaftsorganisationen - sind genau jene Orte, wo (nicht getroffene) Entscheidungen die größten Folgewirkungen auslösen.

Der amerikanische Satiriker Ambrose Bierce erklärte einmal den Begriff "selbstverständlich" mit "nur-mir-selbst-verständlich". Dieses Wortspiel drängt sich bei der Frage auf: Was ist eigentlich Entscheiden in Organisationen? Für jeden Menschen ist Entscheiden selbstverständlich, und doch: Schon der erste schärfere Blick zeigt, dass diese sogenannte Selbstverständlichkeit  keineswegs banal ist. Sie ist auch überraschend wenig gut ausgeleuchtet. Die Zeit ist überreif, das Entscheiden in Organisationen besser zu verstehen um es besser zu gestalten, macht doch die aktuelle Krise einmal mehr schmerzlich erkennbar, wie wenig das Entscheiden in Organisationen, d. h. wie wenig die Dynamiken im Umgang mit Risiken in den Unternehmen verstanden werden.

Gerade jetzt wird, stärker als je zuvor, augenscheinlich, zu welchen tief greifenden und weit reichenden Auswirkungen in globalem Ausmaß die Qualität der Entscheidungsprozesse in Organisationen – im Guten wie im Schlechten - führen kann, und wie hilfreich ihre nachhaltige Verbesserung wäre. Es gab noch nie so viel latente Bereitschaft, vertieft zu verstehen, wie der Umgang mit Risiken in Organisationen „funktioniert“ – nämlich grundlegend anders als die meisten denken. Dieser nüchterne Blick schafft die Voraussetzung für einen notwendigen, potenziell sehr bedeutenden Professionalisierungsschub im Leadership- und Managementhandwerk. Es ist in vielen Unternehmen höchste Zeit für eine Neukonzeption des Entscheidens. Da ist jede einzelne Initiative jeder einzelnen Führungskraft und jedes Experten in ihrem jeweiligen Entscheidungsspielraum nützlich und wichtig.

Der Raum des Entscheidens

1. Risiko. Organisationen sind Entscheidungen, die zu Folgeentscheidungen führen (Luhmann). Entscheiden ist dementsprechend das Kernstück von Management und Leadership, und nicht sein Blinddarm, wie es manchmal scheint. "With good judgment, little else matters. Without good judgment, nothing else matters." (Tichy/Bennis, 2007). Was wirklich in einer Führungskraft und einer Organisation steckt, zeigt sich unterm Strich und untrüglich an der Qualität der Entscheidungen. Der inhaltliche Dreh- und Angelpunkt des Entscheidens ist Risiko. Wo es keine Unwägbarkeiten und Risiken gibt, gibt es nichts zu entscheiden. Wo keine attraktiven Gelegenheiten vorliegen, deren Realisierung auch scheitern kann, gibt es nichts zu entscheiden. Jede Entscheidung ist riskant, sie wird getroffen, um Chancen zu nutzen und birgt notwendigerweise Gefahren. Diese janusköpfige Eigenart wird nur dann zum schwerwiegenden Problem, wenn man - in welcher Organisation immer - eine nachhaltig verzerrt einseitige Perspektive auf die Risiken einnimmt: Wer nur die Chancen sieht, und das zu lange > Bankenkrise. Wer nur die Gefahren sieht, und das zu lange > Kreditklemme.

Auf der unsichtbaren, psychodynamisch-persönlichen Ebene läuft parallel zum Verarbeiten von Risiken in Organisationen immer der Umgang mit Komplexität und Mehrdeutigkeit mit. Auf dieser Ebene, aber nur auf dieser, geht es um die persönlichen Präferenzen beim Verarbeiten von Mut / Risikobereitschaft und Gestaltungswillen einerseits, und die Präferenzen beim Verarbeiten von Vorsicht und Angst, der oft geleugneten Schwester des Mutes, andererseits. (Wie Sie als Führungskraft zu einer erweiterten Praxis des Risikomanagements in Organisationen kommen können, werden wir in einem späteren Beitrag dieser Artikelserie beleuchten.)

2. Prozess. Jede Entscheidung kann nur so gut sein wie der Prozess, der sie hervorbringt und der ihr folgt. Dieser einfachen Erfahrung wird niemand ernsthaft widersprechen, oder? Und doch: Dem widerspricht unser aller Erfahrung, dass die meisten Führungskräfte Entscheiden unausgesprochen als ein Ereignis, einen Event verstehen und praktizieren. (Und die klassische Managerausbildung fördert großflächig immer noch dieses schrecklich nachteilige Rollenverständnis.) Wie viele Führungskräfte sitzen wie viele Stunden an ihrem Schreibtisch, moderieren ein Meeting, oder starren (mit welchen Gefühlen?) auf ein Excel-Sheet und fühlen sich in dieser Sekunde verantwortlich, eine eigenständige Wahl zu treffen? Das klassische Verständnis von Entscheiden ist: eine Erklärung, die aus dem Kopf einer Führungskraft quasi herausspringt, und die auf Erfahrung, Bauchgefühl, vorangegangener Sammlung von Informationen, oder einer Mischung der drei Komponenten beruht. Zum Beispiel die Entscheidung, ob ein Produkt mit schwachen Umsätzen aus dem Markt genommen werden soll oder nicht. Eine "Event-Führungskraft" wird sich diese Frage für sich allein durch den Kopf gehen lassen, Rat bzw. die Meinung anderer einholen, Berichte lesen, sich die Frage weiter durch den Kopf gehen lassen, schließlich Ja oder Nein sagen und die Organisation in Trab setzen, um diese Entscheidung umzusetzen.  Die in den letzten Jahrzehnten sprunghaft gestiegene Komplexität im Wirtschaft- und Organisationsleben macht diese klassische Vorstellung von Entscheiden immer misserfolgreicher und gefährlicher, weshalb wir etwas später vertiefen werden, wie jede Führungskraft "Entscheiden als Prozess gestalten" kann.

3. Die Vorstellung von "Organisation". Mindestens genauso tragisch, und jedenfalls mindestens genauso das Lernen wirkungsvoll blockierend, wirkt die vorherrschende Vorstellung über den weit unterschätzten und unbeachteten Stellenwert von "Organisation" und "Team" im Prozess des Entscheidens. Auch dazu künftig ein vertiefender Artikel, aber hier zum Einstieg ein paar orientierende, Rahmen setzende Stichworte: Wenn von gelungenen oder misslungenen Entscheidungen die Rede ist, dann ist in 90 Prozent der Fälle von heldenhaften, zaghaften, wankelmütigen, ehrgeizigen, machtgetriebenen, einfühlsamen oder hartherzigen Personen die Rede: Unsere Medien - und wir alle! - lieben die Komplexität der Wirklichkeit extrem verkürzende Personality-Stories. Dennoch ist unbestreitbare Tatsache, die wir alle in Organisationen Tätigen bestens kennen, dass das Entscheiden zwar von Personen angestoßen wird und von persönlichen Präferenzen und Abneigungen geprägt ist, sicher aber der Prozess gleichermaßen durch die sozialen Interaktionen, die Gruppendynamik in Führungs-, Projekt- und vielen anderen Teams bzw. Netzwerken ziemlich unvorhersehbar entfaltet. Und, noch komplexer, wirken die Grunddimensionen von Organisation, streng Rahmen setzend ein: Die Organisationskultur, die Strategie, die Strukturen und letztendlich die Prozesse bestimmen, was überhaupt auf die Agenda kommt und wie entschieden wird.

Was sind die Schlüsse, die aus dieser starken Diskrepanz zwischen herkömmlicher Beschreibung des Entscheidens in Organisationen und der tatsächlichen Kräftedynamik im Spannungsfeld von Persönlichkeiten in ihren Rollen, von Teams / Netzwerken und der Organisation insgesamt, zu ziehen sind? Die Schlüsse sind gleichermaßen logisch einfach, wie reich an möglichen persönlichen Konsequenzen und Lern-Herausforderungen für Führungskräfte: Um Entscheiden zu verstehen, um es besser zu gestalten, ist es erforderlich auf alle 3 selbständige, autonome "Systeme des Entscheidens" gleichermaßen und in ihrem Wechselspiel, ihrer Verschränkung zu achten. Billiger ist ein nachhaltiges Verbessern des Entscheidens in Organisationen nicht zu haben. Wer nur auf eines der 3  Systeme des Entscheidens achtet und die beiden anderen ausblendet, kann der Sache nicht gerecht werden. Einfacher ist die Aufgabe der notwendigen Neukonzeption nicht zu beschreiben, aber komplizierter muss es auch nicht sein.

Entscheiden als Prozess gestalten

Wie schon oben im Text angedeutet, zeigen unsere Forschungen und praktischen Erfahrungen als Manager und Organisationsberater / Coaches überraschend deutlich, dass es einen auffallenden Unterschied gibt zwischen Führungskräften (aller hierarchischen Ebenen) die zu guten Entscheidungen kommen und jenen, denen das nicht (so oft) gelingt. Die ersteren anerkennen, dass alle Entscheidungen Prozesse sind und dass sie sie dementsprechend als solche gestalten und verantworten. Die zweiten halten an der klassischen Vorstellung fest, dass Entscheidungen Ereignisse / Events sind, die sie selbst unter Kontrolle haben (müssen). Wenn also Führungskräfte wirklich daran interessiert sind, die Fähigkeiten ihres Unternehmens zu verbessern besser zu entscheiden, dann ist der erste und wichtigste Hebelpunkt, nur ein einziges Veränderungsziel in ihrem eigenen Verhalten durchgängig anzustreben: viel weniger auf das Argumentieren und das Durchsetzen (oder Entkräften) von vorgefassten Meinungen (inklusive der so heiß geliebten eigenen) zu setzen, und stattdessen konsequent einen Prozess des Erkundens und Dialoges zu fördern, jeden willkommen zu heißen, der konstruktiv dazu beitragen kann, und im Prozess bis zum formellen Beschluss und darüber hinaus offen und bereit für Überraschungen zu bleiben. Ihre Rolle als Führungskraft verschiebt sich damit vom (permanenten) Meinungsmacher und –durchsetzer zum kunstvollen Prozessmanager und Gestalter der intensiven Prozessdynamik (zumindest wenn es sich um wichtige Entscheidungen und Weichenstellungen handelt).

Die 5 Phasen des Entscheidungsprozesses

Zur Entscheidung im engeren Sinn – wenn die Mächtigen in einer Organisation einen formellen Beschluss fassen bzw. verkünden, den Daumen heben oder senken, ein Budget freigeben, einem Projekt "grünes Licht" geben – gesellen sich im wirklichen Leben noch zwei Phasen vorher und zwei Phasen nachher. Wer für alle fünf Phasen gleiche, ausgewogene Achtsamkeit aufbringt – und dazu sind einzelne Persönlichkeiten ziemlich selten geneigt, d. h. dazu sind reife und gut durchtrainierte Teams, oder in einer ersten Ausbaustufe sich gut ergänzende Paare, grundsätzlich viel besser befähigt – der erhöht die Wahrscheinlichkeit von nachhaltig besserer Entscheidungsqualität signifikant!

1. Phase "Quellgebiet".

Das ist eine Phase, der viel zu selten die ihr – auch ökonomisch - gebührende Beachtung geschenkt wird. In ihr kann immer wieder die ganze Energie getankt werden, die in den folgenden Phasen des Prozesses nur zu gut gebraucht wird. Hier geht’s darum sich der Wirklichkeit zu stellen, wie ängstigend oder überwältigend sie sein mag. Hier geht’s darum, leise innere und äußere Signale wahrzunehmen, die auf die Notwendigkeit von Entscheidungen und das Verändern von bisher erfolgreichen Gewohnheiten hindeuten. Hier geht es oft nicht um mit harten Fakten belegbares Erfahrungswissen, sondern um Intuition. Hier geht’s um den richtigen Riecher, darum Unsicherheiten auszuhalten, um sich Einlassen, um die verborgenen Eingänge zur Goldmine. Wer sich auf die Unsicherheit in dieser Phase einlässt, schafft die besten Voraussetzungen für hohe Qualität und Energie in den folgenden 4 Phasen.

2. Phase "Land der Suche".

Viele Entscheidungsprozesse gehen schlicht und ergreifend deshalb schief, und müssen schief gehen, weil sie – siehe oben – viel eher einem möglichsten schnellen Downloading von Meinungen und Durchsetzen von Interessen entsprechen, wo schließlich der Ober den Unter sticht. Und seine Daseinsberechtigung daraus ableitet. Alle wissen das schon im vorhinein, alle (außer den Mächtigen) langweilen sich und geben viel weniger als ihr Bestes. Ein Entscheidungsprozess, der seinen Namen verdient und die investierte Zeit wert ist, lässt sich nicht von den Symptomen irreführen, sondern geht an den Kern des Problems, macht Gebrauch von einer – vielleicht auch kunstvoll orchestrierten – Perspektivenvielfalt. Er produziert echte statt Alibi-Alternativen, er produziert echte Risikobilanzen. Wer nicht wählen kann, hat nicht wirklich etwas zu entscheiden! Bei Entscheidungen, die wichtig sind oder gar dramatisch, muss spätestens in dieser Phase das Mobilisieren und Motivieren der Organisation beginnen.

3. Phase "formeller Beschluss / Entscheidung im engeren Sinn".

Hier schlägt die große Stunde der Mächtigen und formal Verantwortlichen. Da der grundsätzliche Übergang vom Denken und Planen in das konkrete Tun und Investieren von mehr Zeit und Sachmitteln hier stattfindet, verdient diese Phase zu Recht ihren berühmten Stellenwert. Hier geht’s um das Übermitteln von inhaltlicher Kraft und intuitiver Glaubwürdigkeit aus dem engeren Kreis der „Entscheider“ an die Organisation. Und jeder angemessen bescheidene und effiziente Entscheider wird ohne Umschweife eingestehen, dass all die vielen Anderen, die in den Phasen 1 und 2 bzw. 4 und 5 des Entscheidungsprozesses die Mitverantwortung tragen, genau so wichtig sind für den Erfolg der Organisation wie sie selbst, die im Rampenlicht stehen. Hier kommt es auf Chronos und Kairos an: Der Energiepegel steigt weiter, wenn man sich auf die Zeitpläne verlassen kann und wenn die Gunst der Stunde und das richtige Timing aufeinander abgestimmt sind.

4. Phase "Umsetzung".

Für erstaunlich viele Manager ist, wenn sie einmal entschieden haben, der Rest nicht mehr wirklich interessant. Und sie rauben sich damit natürlich selber den vielleicht interessantesten, langfristig am meisten befriedigenden Teil ihrer Lernreise. Weil: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. (Erich Kästner) Ohne der Umsetzung ist eine „Entscheidung“ nur Absichtserklärung und Wunschdenken, negativ formuliert: Etikettenschwindel, der früher oder später zum Bumerang wird. Hier geht’s darum, das Gedachte und Gewollte an der Wirklichkeit zu überprüfen, sich von der Wirklichkeit belehren zu lassen, real zu gestalten, neue Gewohnheiten zu verankern.

5. Phase "Feedback bzw. Lessons Learned". 

Die Phase 5 fristet im Alltag der operativen Hektik der meisten Organisationen dasselbe unverdiente Schicksal geringer Beachtung wie die Phase 1. Schon während des Entscheidungsprozesses, aber meist am ergiebigsten als angemessener Abschluss, bieten sich wunderbare Möglichkeiten aus den Erfahrungen – und da sind Erfolge wie Misserfolge / erwiesene Fehleinschätzungen gleich viel wert – sich der Kraft und Energie, Gestaltungskraft und Besonnenheit für die nächsten wichtigen Entscheidungsprozesse zu versichern.

Wir Berater haben auf unseren Landkarten noch 2 weitere Regionen verzeichnet. Die "Terra Incognita" verweist auf die unbewussten Regeln betreffend gute und schlechte Risiken im Rahmen einer konkreten Organisationskultur hin. Und der "Archipel der Kontemplation" ist der Ort, wohin man sich gelegentlich, vielleicht gemeinsam mit einem Coach, zurückziehen kann, um sich mit Distanz und in Ruhe einen guten Überblick über das Entscheidungsgeschehen in der Organisation zu verschaffen und die eigene gestaltende Rolle dabei zu reflektieren.

Anmerkungen:

1) Mehr dazu auf www.besser-entscheiden.org
2) siehe dazu eindrucksvoll David A. Garvin / Michael A. Roberto: What You Don’t Know About Decision Making, Harvard Business Review, Seite 108-116, September 2001.
3) Wer vertieft an "Entscheiden als Prozess gestalten" interessiert ist, kann (gegen Entgelt) den "Reiseführer durch einen scheinbar vertrauten Kontinent" über die webpage www.besser-entscheiden.org bestellen.

Autor: Dkfm. Othmar Sutrich MBA ist Inhaber der Sutrich Organisationsberatung mit Büros in München und Wien.

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