Wer sich einsetzt, setzt sich aus!

Werner Schmidt, Geschäftsführer der Trainings- und Beratungsfirma integra4, über den Zusammenhang von Selbstverantwortung, Macht und Selbstvertrauen, die zahlreichen Strategien, Verantwortung abzuschieben und Möglichkeiten, sie wieder zurückzugewinnen.

Was heißt für Sie "Selbstverantwortung"?

Als ich Geschäftsführer bei Ericsson war, war es Ende der 90er-Jahre meine Aufgabe, in Österreich das Unternehmen massiv zu verkleinern, weil bestimmte Bereiche aus dem Land abgezogen wurden. Ich musste damals etwa 2000 Mitarbeiter kündigen oder mittels Management-Buyouts ausgliedern. Das war alles andere als lustig, ich habe sehr geschwitzt und stand vor einer meiner größten Herausforderungen. Ich habe bei diesen Gesprächen einige Männer weinen sehen. Also habe viel Zeit investiert und bin mit den Leuten auch am Wochenende zusammengesessen und habe intensive Gespräche geführt, weil ich echte Bedenken hatte, dass sich manch ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin etwas "antun" könnte. Im Lauf dieser Gespräche habe ich begonnen, mein Vorgehen zu ändern. Weg von dieser Haltung des gut Zuredens, des einfühlsamen In-Watte-Packens, hin zu dem Ziel, die Menschen dazu zu ermutigen, für ihr Schicksal Verantwortung zu übernehmen und ihnen ihr Schicksal auch zuzumuten. Das war zwar sehr hart und ich habe mich gefragt, ob es mir überhaupt zusteht, mit meinem Gegenüber so zu sprechen, ich bin aber sinngemäß zu dem Ergebnis gekommen: "Ja, die Wahrheit ist den Menschen zuzumuten." Das ist eigentlich viel respektvoller, weil es das Gegenüber nicht entmündigt, sondern für voll nimmt. Das Spannende war, dass die Leute dann tatsächlich begonnen haben, in die Kraft zu gehen. Sie haben aus dieser ungeschminkten "Konfrontation mit der Realität" nicht nur Kraft geschöpft, diese spezielle Situation zu meistern, sondern damit nachhaltig auch für andere Situationen und Überlegungen in ihrem Leben Kraft geschöpft. Für mich überraschend haben sich dann viele Leute  für die klaren Worte bedankt, und eine Reihe von Personen, die ich damals kündigen musste, wurden später, als ich mich selbstständig gemacht hatte, sogar meine ersten Kunden. Sie erzählten mir dann, dass dieses Ereignis damals sehr hart für sie war und sie mich zuerst gehasst haben, weil sie in dem Augenblick auch nicht zwischen meiner Funktion und meiner Person trennen konnten, dass sie mein Verhalten aber als fair und korrekt erlebt und daraus viel gelernt haben. Und einige haben gemeint, dass dieser Schock sich als gute Chance erwiesen hat, die Weichen in ihrem Leben neu zu stellen und es ihnen jetzt wesentlich besser ginge als früher.

Was bedeutet hier Selbstverantwortung? Selbstverantwortung für die Kündigung?

Selbstverantwortung beginnt aus meiner Sicht bei schonungsloser Akzeptanz. Ganz pragmatisch gesagt: Sprich es aus! Erst wenn man es ausgesprochen hat, hat man es wirklich akzeptiert. Es geht darum anzuerkennen, was ist und Verantwortung für sein Leben und den Umgang mit diversen Situationen zu übernehmen. Mein Grundsatz ist: Sie können keine Lösung finden, wenn Sie nicht einmal die Ist-Situation anerkennen. Also: "Ja, ich wurde gekündigt. Ich bin traurig, enttäuscht, wütend, aber es ist, wie es ist. Ich werde damit fertig werden und einen anderen Job finden, der mir Spaß macht." Es geht also darum, die eigenen Möglichkeiten zu erkennen und dann auch tatsächlich zu nutzen, statt im Lamentieren stecken zu bleiben.

Was wäre das Gegenteil von Selbstverantwortung?

Der Gegenpart zu verantwortlich ist verantwortungslos. D.h. ich gebe meine Verantwortung weg, lasse sie los, entledige mich ihrer. Auch hier treffe ich eine Entscheidung, aber eben eine, die mich schwächt, weil ich meine Verantwortung nach außen – auf andere - schiebe. Alle anderen sind für meine Situation, mein Schicksal verantwortlich, nur ich nicht. Damit mache ich mich selbst zum Opfer, ich beraube mich selbst meiner Energie und Kraft und vor allem meiner eigenen Handlungsmöglichkeiten. In dem Augenblick, in dem ich die Verantwortung abgebe, mache ich mich selbst kraftlos, ich leugne meine Kraft.

Opferspiele sind in Unternehmen ebenso weit verbreitet wie im Privatleben und auf gesellschaftlicher Ebene: Ich würde ja so gerne, aber es geht nicht, weil…. Ja, aber….

Ich entgegne den Leuten dann immer: "OK, wenn es stimmt, was Sie sagen, dass es keine Lösung für das Problem gibt, dann akzeptieren Sie die Situation! Denn Jammern ändert nichts an der Situation, Sie fühlen sich dabei nur selbst schlechter und nerven alle anderen in Ihrer Umwelt." Und siehe da: Plötzlich werden die Leute kreativ und dann fließen die alternativen Optionen nur so aus ihnen heraus. Natürlich können sie etwas tun – und sei es nur, eine andere Haltung dazu einzunehmen -  die Frage ist, ob sie das auch wollen. Oder ob sie lieber weiterhin über das Bekannte jammern als das Unbekannte zu wagen. In den meisten Fällen geht es nicht um Können oder Nicht-Können, sondern es geht um Mut, Angst und Feigheit. Ein Weg, um mit der eigenen Kraft in Kontakt zu kommen, ist, die üblichen Fluchtwege zu blockieren. Ich muss, wie in der Kriegsführung, dafür sorgen, dass es keine Rückzugsmöglichkeit mehr gibt, um unabdingbar entschlossen zu handeln. Entschlossen zu handeln, heißt nicht, keine Angst zu haben, sondern es heißt, die eigene Angst zu akzeptieren und trotzdem zu handeln, um zu merken, wie frei man auf der anderen Seite sein kann.

"Es ist meine Verantwortung, ich bin verantwortlich" ist ja vor allem einmal eine eigene, innere Entscheidung, oder?

Ja. Verantwortung übernehmen, sich verantwortlich fühlen, bedeutet: sich hinstellen, Stellung beziehen, sichtbar werden - damit auch angreifbar - und davor haben viele Menschen Angst. Wer sich einsetzt, setzt sich aus! Aber wenn ich mich traue, wächst das Selbstvertrauen, das Vertrauen in mich selbst, in die eigene Kraft, die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Stellung zu beziehen, ist eine sehr kraftvolle Aktion. Man fühlt sich voller Energie, "im Besitz seiner Kräfte" und gewinnt damit Vertrauen in sich selbst, sprich Selbstvertrauen. Sie sehen schon, die Wortwahl signalisiert der Umwelt ziemlich eindeutig, wie die Person mit dem Thema Verantwortung umgeht.

Gleichzeitig gibt es in Organisationen tatsächlich viele Entscheidungen, auf die man keinen oder kaum einen Einfluss hat. Sozusagen Rahmenbedingungen des eigenen Handelns.

Als gute Führungskraft z.B. ist es mein Job, so viele kraftvolle Alternativen wie möglich einzubringen, bis die Entscheidung fällt. Wenn die Entscheidung dann aber gefallen ist, tue ich dem System nichts Gutes, wenn ich sie unterminiere und dagegen arbeite. Genau das machen aber viele Führungskräfte: "Das war die Entscheidung meines Chefs, ich selbst bin ja ganz anderer Meinung." Das ist kein Zeichen von Führungs-Kraft, sondern eher ein Ausdruck von Führungs-Schwäche. Meine Empfehlung ist, Person und Funktion zu trennen und klar zu kommunizieren: "In meiner Rolle als Abteilungsleiter habe ich das jetzt umzusetzen und das werde ich auch tun. Ich habe im Vorfeld alles getan, um Alternativen einzubringen, bin damit nicht durchgekommen. Das macht mich traurig, aber in meiner Rolle als Führungskraft habe ich jetzt den Auftrag, das umzusetzen und das werde ich auch tun. Also lasst uns darüber reden, wie wir das machen."

Die Frage ist, habe ich im Vorfeld wirklich alle Alternativen aufgezeigt? Denn viele regen sich nur auf, bemühen sich aber nicht um Alternativen, geschweige denn kämpfen darum.

Ja. Da komme ich zur Authentizität. Wenn ich selbst weiß, dass ich nicht alles getan habe, sondern zu faul oder feig war, klar Stellung zu beziehen, Argumente einzubringen und darum zu kämpfen, genau dann beginnt das Anschuldigen anderer. Dann lenke ich ab und weiche aus und bin nicht mehr in der Kraft. Jetzt hat jemand anderer die Macht, ich bin ohnmächtig. Nur wenn ich Verantwortung für mein Tun und Nicht-Tun übernehme bzw. bei mir behalte, bleibe ich in der Kraft.

Ich sage immer: Vorne gerührt, brennt hinten nicht an. Wenn Sie von vorn herein sagen, was Sie ängstigt und was Ihnen Sorgen macht, haben Sie hinten die Schwierigkeiten nicht mehr. Wenn Sie also z.B. vorne sagen: "Ich habe große Bedenken, dass wir in einen Personalabbau hineinschlittern", dann hat es eine Chance, dass Sie wirklich etwas ändern können. Ebenso wie die Aussage: "Ich habe Bedenken, dass wir uns nicht genug mit dem Problem auseinandergesetzt haben und dadurch in einen Strudel von Entscheidungen kommen, die wir alle noch bereuen werden."

Gilt man dann nicht als Rechthaber, "hab ich doch gleich gesagt". Un die anderen denken sich: Der will sich nur absichern!

Wenn es aus dem Selbstwert heraus kommt, dann nicht. Ich muss bei mir bleiben, statt zu sagen: Das ist doch ein Blödsinn, das kann nicht gutgehen. Es geht nicht darum, den anderen angreifen, Schuld zuzuweisen und darüber zu streiten, wer was vernachlässigt oder nicht gemacht hat, sondern es geht um klare Ich-Botschaften, um meine Sorgen, meine Angst, darum meine Betroffenheit zu äußern. Interessant ist, dass diese Art von Botschaften den Empfänger "übersetzungsfrei" erreicht. Ich-Botschaften sind eine empfängergerechte Kommunikation, denn das Gefühl geht ohne Übersetzung rüber. Die wirkliche Weltsprache ist nicht Englisch, sondern die Körpersprache.

Nicht jeder ist Führungskraft und auch Führungskräfte sind mit vielen Rahmenbedingungen konfrontiert.

Es stimmt, dass Unternehmen komplexer geworden sind, sich immer öfter in einer Matrix organisieren, wo Verantwortungen diffundieren und es politische Spiele gibt. Sich ohnmächtig zu fühlen, heißt, sich ohne Macht zu fühlen. Macht kommt von machen, d.h. die Person muss was machen. Ein typisches Beispiel für organisationsintern Jammerzirkel sind "sinnlose" Meetings: Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Jeder ist frustriert, Mitarbeiter ebenso wie Führungskräfte. Ich habe Seminarteilnehmern schon häufig die Aufgabe gestellt: "Suchen Sie zu dem Thema fünf Handlungsmöglichkeiten, die Sie noch hätten durchführen können, außer verärgert zu sein und über die Situation zu jammern." Da kommen dann Ideen wie: Ich könnte nicht mehr hingehen; ich könnte im Vorfeld alle anschreiben und sagen, ohne Agenda werden wir das Meeting nicht mehr durchführen; ich könnte den Antrag stellen, das Meeting gänzlich zu stornieren oder es durch ein anderes zu ersetzen, oder die Dauer zu halbieren, oder es im Stehen durchzuführen oder die Teilnehmerzahl zu halbieren, was auch immer. Das Wichtigste bei dieser Übung ist, dass die Leute erkennen, dass sie für die Situation, auch wenn sie nicht der Boss sind, Verantwortung übernehmen können. Das nennt man Selbstverantwortung. Mit diesem "Selbstverantwortungstrick" habe ich auch die Macht (statt der Ohnmacht), weil ich etwas machen kann. Ich ermächtige mich selbst. Ich bin immer wieder überrascht, wie viele Möglichkeiten es gibt, in Organisationen kraft der Person etwas zu bewegen, auch und gerade dann, wenn man nicht kraft einer bestimmten Funktion agieren kann. Ich glaube, dass das viele Menschen unterschätzen. Meist sind sie einfach zu faul (warum soll ich mir das antun?) oder sie wollen kein Risiko eingehen (warum soll ich mich so weit aus dem Fenster lehnen?). Auf den ersten Blick mag das einfacher erscheinen, aber der Preis, den sie dafür zahlen, ist ein Verlust an Lebendigkeit, ein Verlust an Vitalität, ein Verlust an Beziehung zu sich selbst. Stattdessen pflegen sie dann ihren Frust und ihre Depression.

Das eine ist die persönliche Ebene, aber es gibt doch auch eine strukturelle Ebene. Es gibt ja wirklich Unternehmen mit widersprüchlichen Zielen, einem Muster "organisierter Unverantwortlichkeit", wo sich Mitarbeiter denken, egal was ich mache, ich verliere. Man will eine Lösung finden, denkt viel darüber nach, kommt aber auf keinen grünen Zweig.

Es gilt der altbekannte Satz, nach dem die wenigsten wirklich leben: Love it, change it or leave it. Akzeptieren, verändern oder wechseln! Wenn ich die Situation nicht akzeptieren kann, wird es Zeit, sie zu verändern. Indem ich mich ändere, meine Haltung bzw. mein eigenes Verhalten auf meine Umwelt bzw. auf bestimmte Rahmenbedingungen. Und wenn ich das nicht für möglich oder für zu aufwändig und mühsam erachte, kann ich die Entscheidung treffen, zu wechseln. Viele Mitarbeiter entscheiden sich für das Jammern, weil sie keine Möglichkeiten sehen, wegzugehen und glauben, das sei der einzige Job, der für sie vorgesehen ist. Viele resignieren und jammern über die Firma, aber in Wirklichkeit meinen sie ihre eigene Kraftlosigkeit und Unfähigkeit, einen neuen Job zu suchen. Wenn Menschen aber erkennen, welche Ressourcen sie haben und ihr Leben selbstverantwortlich in die Hand nehmen, passieren sagenhafte Dinge.

Bei dem Personalabbau bei Ericcson ist die echte Umkehr bei vielen passiert, als sie selbst Verantwortung für ihr Leben übernommen, die Realität mit ihren Ängsten bewusst wahrgenommen und ihre eigenen Ressourcen erkannt haben, in das Selbstwertgefühl hineingegangen sind und für sich gute Lösungen gefunden haben. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich sage nicht, dass das immer lustig ist oder angenehm, aber es ist eben auch nicht aussichtslos oder unmöglich. Ich persönlich glaube: Erst mit dem Anerkennen der ganzen Wahrheit, der ganzen Fratze der Realität ist Veränderung möglich. Nicht akzeptieren, was ist, ist Verdrängung, ist Schmerzvermeidung. Wenn es Heilung geben soll, muss ich den Schmerz akzeptieren. Schmerz ist Realität, Unsicherheit ist Realität. Ein "Zauberwort" ist: Nicht entscheiden, sondern wählen! "Ich wähle das". Wenn ich mich in einer Situation wiederfinde, in der ich nicht zufrieden bin, dann habe ich nur vergessen zu wählen. Damit hole ich die Person wieder in die Vorstellung von Machbarkeit hinein. Es muss für sie machbar erscheinen, sonst kommt sie nicht ins Handeln.

Was setzen Sie dem Jammern, der organisierten Unverantwortlichkeit konkret entgegen?

Die meisten Menschen sagen immer – wie eine Schallplatte, die hängt - was sie alles nicht können. Ich antworte darauf immer mit: Sondern? Das ist auch so ein Zauberwort. Mitunter haben sich Menschen so in ihrem Jammern eingerichtet, dass sie richtig wütend werden, wenn sie in die Nähe machbarer Alternativen, eines konkreten Tuns kommen. Sie fühlen sich ertappt und es ist ihnen peinlich, wenn Ausflüchte als solche entlarvt werden. Dann kommen Sätze wie: "So eine Frechheit! Was erlauben Sie sich!" Eine andere typische Möglichkeit, (Aus)Flüchte zu stoppen, ist: "Sie haben also schon alles probiert? Das klingt spannend, erzählen Sie! Was waren die letzten fünf Aktivitäten? Wann haben Sie was unternommen?" Das ist den Betroffenen immer furchtbar peinlich. Plötzlich ist es total ruhig im Raum und dann werden sie wütend oder aber sie beginnen, darüber nachzudenken und sind bereit zur "Umkehr". Ich nenne das immer: Man muss den Trance-Zug, den Tagträumerzug, erst zum Stoppen bringen, damit er dann wieder in eine andere Richtung anfahren kann. In Summe habe ich die besten Ergebnisse erzielt, wenn das Gegenüber ins Schweigen verfällt. Durch Lärm entsteht nichts.

...zurück zum Seitenanfang

Teilen:

Werner Schmidt, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens integra4