Die OE-orientierte Potenzialeinschätzung

Mag. Dagmar Untermarzoner über grundlegende Mängel bei den üblichen Ansätzen der Potenzialeinschätzung und eine sinnvolle Alternative.

Was unterscheidet eine OE-orientierte Potenzialeinschätzung vom üblichen Verständnis einer Potenzialeinschätzung?

Ein zentraler Unterschied im Verständnis ist, dass Potenzialeinschätzung kein Einmal-Ereignis ist, keine punktuelle Maßnahme, sondern ein Prozess, der bestimmte methodische Standards hat. Zweitens ist Potenzialeinschätzung an der Schnittstelle von Organisation und Person angesiedelt, weshalb sie auch nicht ohne Verständnis der Rollen und Teilrollen funktioniert. Es reicht nicht, nur die einzelne Person anzuschauen, sondern man muss die gesamte Kette betrachten und sich fragen: Welche Leistungsprozesse liegen hinter dem Anforderungsprofil? Welches Wissen, welche Fähigkeiten sind für das Anforderungsprofil relevant? Es genügt aber definitiv nicht, das beim Kunden abzufragen, weil es einer eigenen Expertise und Beratungsleistung bedarf, diese Anforderungen der Leistungsprozesse in Fähigkeiten und Mindsets zu übersetzen.

Die These ist also, dass sich heute zwar viele Unternehmen sich mit dem Thema Talentmanagement und der Suche nach Schlüsselpersonen beschäftigen, die gewählten Zugänge und die eingesetzten Potenzialeinschätzungsinstrumente den Anforderungen, die Unternehmen heutzutage an sie stellen sollten, aber nicht genügen?

Ja. Meine erste Kritik ist, dass man sich auf Instrumente verlässt, aber kein Instrument per se eine sinnvolle Aussage liefert. Z.B. heißt es in einem Test, jemand verhält sich so und so. Das stimmt aber in hohem Maße nicht. Tests spiegeln die Organisationsrealität nicht wider, weil sie kontextlos eine Selbsteinschätzung abfragen. Das Problem der Diagnostik ist, dass sie versucht, so etwas wie Objektivität zu konstruieren. Ein Test ist aber per se nicht objektiv, weil er auf Denkmodellen basiert, er bildet Denkmodelle ab. Das ist im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs in der Testtheorie schon völlig klar. Das Problem ist, dass man in der Potenzialeinschätzung in der Praxis dem wissenschaftlichen Diskurs total nachhängt.

Die zweite Kritik ist, dass die meisten Potenzialeinschätzungen nichts von Organisation verstehen. Sie beschäftigen sich nicht damit, welche Geschäftsprozesse dem Anforderungsprofil zugrunde liegen. Am Beginn muss aber die Frage stehen: In welchen Leistungsprozessen ist diese Person tätig und wie übersetzt man das in Fähigkeiten? Man muss daher als Berater eine konkrete Vorstellung von diesen Leistungsprozessen haben, um zu wissen, welche Fähigkeiten verlangt werden. Andernfalls ist das so, als würde ein Arzt den Patienten fragen: Mit welcher Operationsmethode soll ich das jetzt machen?

Drittens macht es einen großen Unterschied, ob ich Potenzialeinschätzung als etwas sehe, wo eine Person pseudoobjektiv "fremdeingeschätzt und beurteilt" wird oder als ein Entwicklungsinstrument an der Schnittstelle von Organisation und Person, von dem beide profitieren. Es ist ein Entwicklungsschritt für alle Beteiligten, wenn sie sich selbst und andere besser beobachten und beschreiben können. In dem Fall muss ich sie so gestalten, dass der Untersuchte selbst versteht, was seine Eigenheiten sind. Das geht nur in Form einer Beratungsleistung, z.B. als eine Art Workshop mit der Person für einen Tag. Im besten Fall habe ich mit der Person vorher ein Gespräch, bei dem ich ihr erkläre, was wir machen, was die Beratungsleistung ist, und wo ich sie frage, ob sie sich darauf einlassen will, mehr über sich selbst zu verstehen. In diesem Fall geht es eben nicht um Fremddiagnostik, sondern um einen gemeinsamen diagnostischen Prozess, das Verstehen von Arbeitsprozessen und Teilrollen, den damit verbundenen Anforderungen, den eigenen Stärken und Schwächen und dem Maß der Passung.

Sagen die Testbefürworter nicht, das Tests ja nur Verhaltensdispositionen aufzeigen?

Ja. Nur liefern sie eben Verhaltensbeschreibungen, die ohne den konkreten Kontext, das Verstehen der biographischen Gewordenheit, keinen Sinn ergeben. Testergebnisse geben mir zwar Suchrichtungen vor, aber letztlich erklären kann mir nur der Teilnehmer, der Untersuchte, wie das zu verstehen ist.

Potenzialeinschätzung als PE- oder OE-Instrument, wo ist der Unterschied?

Zum einen halte ich die Teilung PE und OE an sich für problematisch, zum anderen verführt diese Teilung dazu, sich bei der Potenzialeinschätzung auf die Personenseite zu beschränken. Es sagt zwar jeder "wir machen eh ein Anforderungsprofil", nur kann man das gar nicht richtig machen, wenn man nichts von Organizational Design versteht.

Was meint Organizational Design?

Das bedeutet, dass ich den Zusammenhang verstehe zwischen der Strategie der Organisation - wohin sind die unterwegs - der Frage, wie erbringen die ihre Leistungen - wie schauen also die Leistungsprozesse aus - und der Frage, wie bildet sich das in Rollen ab - welche Rollen konstruieren die, um diese Leistungen zu erbringen?

Nehmen wir ein Beispiel aus der Industrie zur Verdeutlichung dieser Teilrollen: In einem Unternehmen gibt es eine neue Organisationseinheit, die für die zentrale Vertriebssteuerung in mehreren Ländern zuständig ist und vor Ort den Vertrieb aufbauen soll. Diese Experten der Zentrale führen also zum einen die Vertriebseinheiten in den Ländern und helfen mit, dort Projekte durchzuführen. Gleichzeitig ist der Manager dieser Einheit aber auch Mitglied im Gesamtführungsteam und zudem handelt es sich inhaltlich um eine Entwicklungseinheit, die die Fähigkeiten der Leute in den Ländern unterstützen muss. Als die Einheit gegründet wurde, war den Beteiligten aber selbst nicht klar, was "Entwicklung" bedeutet. Die Idee war: "Unsere Leute sagen denen dort, wie es geht." Doch für Entwicklung  braucht es ein Lehr- und Lernverständnis, es braucht Train-the-Trainer-Fähigkeiten und das Wissen, was Coaching ist und wie bei Personen Lernen stattfindet. Denken in Teilrollen bedeutete in diesem Beispiel: Diese Personen steuern den Vertrieb, müssen für Entwicklung der Niederlassungen in den Ländern sorgen und sind drittens in die Gesamtsteuerung eingebunden, müssen also im Gesamtgeschäftsführungsteam mitarbeiten.

Als Beraterin muss ich mich daher fragen: Wenn die der Gesamtgeschäftsführungstätigkeit nachgehen, brauchen sie welche Fähigkeiten? Wenn die Entwicklungsarbeit leisten, brauchen sie welche Fähigkeiten? Wenn sie den Vertrieb steuern, brauchen sie welche Fähigkeiten? Z.B. brauche ich im Vertrieb „Jäger“, jemanden, der selbst gerne das Wild jagt und erlegt. Wenn man aber jemand anderen entwickelt, muss man mehr im Hintergrund stehen. Aus den unterschiedlichen Anforderungen dieser Teilrollen ergibt sich: Ich benötige Personen mit einer besonderen Mischung: Leute, die diese Jägermentalität besitzen, aber gleichzeitig ein hohes Entwicklungsinteresse und eine hohe Lernfähigkeit haben, eine hohe soziale Beweglichkeit. Das kann ich nicht den Klienten fragen, sondern das muss ich als Berater wissen. Wenn man hier klassische Vertriebsleute nimmt, werden die das andere nicht machen, weil ihnen das fehlt, sie nicht interessiert, bzw. ihrer Mentalität widerspricht. D.h. ich muss auf die Grundfähigkeiten schauen: Ist der sozial beweglich und an Neuem interessiert, ist der an einer Selbstreflexion interessiert? In der Praxis ist immer wieder zu beobachten, dass Firmen in so einem Fall das dominante Vertriebsprofil nehmen und dann sagen: "Der ist gut geeignet, weil ein toller Vertriebler. Ok, mit Lernen und Entwicklung tut er sich ein bisschen schwer, aber das wird schon werden." Dabei ist das die Hauptfähigkeit, die die Person in diesem Unternehmen in einem Jahr brauchen wird. Wird so eine Person trotzdem ausgewählt, stellt sich meist schon kurz darauf heraus, dass sie nicht in der Lage ist, die anderen auszubilden, weil sie als typischer Vertriebler ein eitler Knopf ist, der immer eigene Trophäen sammeln und sich selbst mit den Federn schmücken will, statt sich zu sagen: Ich helfe denen dort, selbst Erfolge zu erzielen.

Was letztlich bedingt, den ganzen Prozess bis zur Entscheidung zu begleiten und dabei auch klar Stellung zu beziehen, oder?

Genau. Es ist mein Job und meine Verantwortung als Berater, ein klares Bild davon zu bekommen, welche Leistungen die Person erbringen muss. Dazu brauche ich ein differenziertes Bild von Prozessmanagement. Z.B. um hier zu erkennen: Aha, es geht hier sowohl um Vertriebs- als auch um Entwicklungsprozesse wie um Führungsprozesse, die wiederum eine hohe soziale Sensibilität brauchen. Solche Leistungsprozesse in Fähigkeiten zu übersetzen - da liegen die höchsten Fehlerquellen. Dieses Übersetzen und das Vorweg-Nehmen-Können, was die Organisation künftig brauchen wird, ist eine Beratungsleistung, eine Expertenleistung, und das kann man als Berater nur dann, wenn man das nötige generalistische Wissen hat. Denn nur wenn man versteht, wo die Strategie hingeht, wie die konkreten Prozesse ausschauen und wie man Teilrollen und deren Anforderungen in Fähigkeiten übersetzen kann, ist man in der Lage, im Recruiting die Entwicklung quasi vorweg zu nehmen.

Das Problem dabei ist: Wenn Potenzialeinschätzung eine punktuelle Maßnahme ist, bekommt man als Externer normaler Weise nie die Organisationsrealität zu Gesicht, weil man dazu weder die Zeit und auch nicht den Auftrag hat. Wenn ich einen Einblick in die Organisation bekommen kann, kann ich das gut machen, denn dann kreiere ich ein Bild für die Rolle. Aber wenn ich nur punktuell an der Recruitingecke hänge, bin ich eigentlich schon verloren. Ich bekomme kein richtiges Bild der Rolle. Dazu müsste ich die Leute bei der Arbeit sehen, auch mal mitgehen oder bei Meetings teilnehmen. Fehlt das alles, bleibt man letztlich an einer Personendiagnostik hängen.

Wie übersetzt man nun Leistungsprozesse in Fähigkeiten?

Noch ein Wort zum Thema Verantwortung. Eine durchaus übliche Vorgangsweise von Anbietern ist, mit ein oder zwei bestimmten Instrumenten zu arbeiten (für die man die Lizenz hat) und dem Kunden zu sagen: "OK, lassen Sie uns im ersten Schritt ein Anforderungsprofil erstellen. Sagen Sie mir bitte, welche Fähigkeiten Ihnen da wichtig sind." Also nimmt der Kunde die vorhandene Stellenbeschreibung zur Hand und kreuzt am Testprofil an, welche Dimensionen, Fähigkeiten ihm wichtig sind. So werden Anforderungsprofile konstruiert, ohne konkrete Vorstellungen von den zugrundeliegenden Prozessen und ohne die nötige Expertise zu haben.

Mich erinnert das immer an die Situation, als uns der Graphiker vor einigen Jahren gefragt hat: "Wie wollt ihr die Homepage haben?" Um das sinnvoll beantworten zu können, hätte ich wissen müssen, welche Möglichkeiten es gibt. Als Nicht-Profi kann ich aber nur das sagen kann, was ich mir mit meinem Laienwissen vorstellen kann. Nur ein Profi weiß, was welches System leisten kann. Der Effekt dieser Vorgangsweise ist, dass man oft erst am Ende des Prozesses draufkommt, was man hätte machen können und was man davon gebraucht hätte. Wenn man dann derKundenach der Beobachtung anderer Homepages fragt, "warum haben wir das und das nicht gemacht", lautet die Antwort: "Das habt ihr am Anfang nicht gesagt. Ihr wolltet das so. Ihr habt das so entschieden." Aber was habe ich da wirklich entschieden? Einen Blödsinn. Diese Verantwortung muss also der Profi übernehmen. Er muss sagen, was es braucht und wie das funktioniert. Viele Berater versuchen sich abzusichern, indem sie die Organisation fragen, doch die Konstruktion der Kompetenzprofile ist Beratungsleistung, nicht Klientenleistung.

In den Anfangsjahren habe auch ich versucht, das mit den Klienten zu eruieren. Irgendwann habe ich begonnen, den Kunden zu sagen: "Ich schreibe Ihnen jetzt einmal zusammen, was diese Personen brauchen." Dann habe ich z.B. die drei wichtigsten Schlüsselfähigkeiten beschrieben und gemeint: „Auf die kommt es vor allem an. Das ist das, was Sie suchen. Z.B.: Ihr müsst vor allem nach Lernbereitschaft suchen und nach Kooperationsbereitschaft und euch fragen: Ist der in der Lage, Interessen von anderen wirklich zu sehen, von dem zu differenzieren, was er will und das als etwas Gleichwertiges anzuerkennen? Oder ist jemand so gestrickt, dass er die anderen primär als Instrument für sich selbst sieht?" Das hat ihnen selbst dann die Richtung gegeben, wonach sie suchen sollten. So habe ich als Beraterin immer mehr die Verantwortung übernommen.

Und erst zum Schluss schaut man, gibt es dafür geeignete Instrumente?

Genau.

Dazu müsste man aber wieder Experte sein, um die verschiedenen Instrumente zu kennen  und beurteilen zu können, wo welches Instrument gut oder weniger gut geeignet ist.

Man sollte als Berater meiner Ansicht nach sowieso instrumentenunabhängig sein. Nur haben die meisten Berater eben ein oder mehrere Instrumente, für die sie eine Lizenz haben und die sie dann natürlich zu verkaufen versuchen. Inzwischen habe ich vielleicht 10 Instrumente, mit denen ich arbeiten kann und je mehr ich habe, desto weniger brauche ich sie überhaupt noch. Manchmal helfen sie, Dinge prägnanter zu machen. Das Übliche ist in den Unternehmen nach wie vor, dass sie irgendwelche Tests machen, statt den ganzen Prozess durchzudenken. Und der zweite Fehler ist, dass die Potenzialeinschätzung nicht über Selbsteinschätzung passiert.

Was heißt das?

Beratung der Selbsteinschätzung heißt, dass ich einem Kandidaten in einer wertschätzenden Art und Weise helfe, sich selbst besser zu verstehen. Wenn man ihm, wie es immer wieder vorkommt, nur sagt - "Sie passen in drei Dimensionen und in zwei nicht" - dann "beurteilt" und "richtet" man diese Person in Form einer Fremdeinschätzung. Damit sich jemand aber überhaupt selbst erkennen und öffnen kann, muss man gemeinsam mit dieser Person schauen: "Was macht jetzt Ihr persönliches besonderes Talent aus? Unabhängig von der Stelle." Ich muss zuerst einmal die Person verstehen. Dann ist der zweite Schritt: Wie passt das zur Organisation? Und – in der Praxis mindestens genauso wichtig - wenn es wo nicht passt, wie kann er das vielleicht anders kompensieren? Denn das nächste Problem ist ja, dass die meisten Anforderungs- oder Kompetenzprofile insofern nur wenig mit der Realität zu tun haben, als man keine Leute findet, die dem "Idealprofil" entsprechen. Also muss man sich mit den Fragen auseinandersetzen: Was kann die Person noch lernen und wo und wie kann sie das üben? Wie hoch ist hier das Risiko für die Organisation? Wie lange muss sie der Person Raum für die nötige Entwicklung geben? Jemanden auf ein Seminar schicken reicht bei weitem nicht. Oft geht es um Entwicklungsspielräume von mind. 2-3 Jahren, damit sich z.B. im Konfliktverhalten wirklich etwas ändert. Häufig trifft man hier auf ein sehr triviales Verständnis davon, wie sich Fähigkeiten aufbauen lassen.

Wenn es keine ganzen Rollen mehr gibt, sondern nur mehr Teilrollen, wie etwa Vertriebler mit Entwicklungsaufgaben, haben Sie es häufig mit einander widersprechenden Rollenprofilen zu tun. Ein guter Vertriebler ist z.B. selten eine gute Führungskraft, weil er meist teamunfähig ist, das kann er auch gar nicht sein, weil er allein vorankommen muss. Ähnliches gilt z.B. im Immobilienbereich, wenn Vertragsmanager gesucht werden, d.h. Verwaltungsleute, die gleichzeitig Projekte managen sollen. Jemand der gut verwaltet, ist in der Regel ein schlechter Projektmanager.

Die meisten Organisationen versuchen immer, Personen einer der drei klassischen Rollen zuzuordnen: Ist die Person Führungskraft, Projektmanager oder Fachexperte? Aber die Wirklichkeit ist heute total vielschichtig, es gibt heute kaum mehr eindeutige Rollenprofile. Ein Projektmanager ist eigentlich eine Mischung aus Fachexperte, Integrator zwischen Prozessen und Führungskraft ohne disziplinäre Entscheidungsmacht. In der Stellenbeschreibung steht aber: Die Person muss Projektmanagement können. Dabei sind die Projektmanagement-Instrumente das, was die Leute noch am wenigsten brauchen bzw. am leichtesten lernen können. Eigentlich müssen sie vor allem Integratoren sein, unterschiedliche Perspektiven anerkennen und integrieren können. Der Punkt ist: Wenn ich das mit den Teilrollen nicht verstehe, verstehe ich auch nicht, warum ich Anforderungsprofile anders bauen muss.

Warum unterscheiden Sie zwischen Fähigkeiten und Mindsets?

Weil dieser Unterschied zwischen Fähigkeiten und Mindsets – den grundlegenden Haltungen - von entscheidender Wichtigkeit ist. Bei der Kooperationskompetenz kann eine Person z.B. die Fähigkeit haben, sich abzustimmen, aber sie hat nicht den Mindset, d.h. den Willen und die Grundeinstellung: "Ich respektiere und sehe uns als gleichwertige Experten und das Gespräch als gleichwertigen Diskurs." Das ist eine Grundeinstellung. Die kann auch sein: "Ich schaue, dass du für mich maximal nützlich bist und verhalte mich  sokooperativ, dass ich von dir bekomme, was ich will" Was nützt es, wenn jemand eine Fähigkeit hat, aber ein ganz anderes Mindset als ich es brauche? Genau auf dieses Mindset wird selten geschaut und wenn, kann es sicher nicht mit Tests erhoben werden

Für Personalführung braucht es Menschen, die Leute mögen. Leute mögen heißt: Ich bin grundsätzlich interessiert am anderen. Interessiert daran, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Das kann man dann weiter herunter brechen auf Zuhören können, etc. Zuhören ist eine rezeptive Einstellung. Es gibt Menschen, die zwar zuhören können, aber kein Interesse am anderen haben. D.h. es braucht auch die Neugier am anderen. Das bekommt man über keinen Test raus, sondern dadurch, dass man die Leute in der Potenzialeinschätzung fragt, "Was geht Ihnen durch den Kopf?" und beobachtet, wie die Person mit der Situation umgeht. Interessiert sie sich für die Situation? Beschäftigt sie sich damit? Wenn das jemand nicht macht, ist das bereits eine wichtige diagnostische Erkenntnis. Leute mögen heißt nicht, dass die Person gerne mit anderen "tratschen" muss. Das wird im Management immer verwechselt: Interesse am anderen und Geselligkeit. Ein Einzelgänger kann durchaus hoch interessiert sein an anderen Menschen. Der braucht das Sinnhafte, aber nicht das Gesellige, während Tests üblicherweise das Gesellige messen. Das Interesse an anderen würde man über ganz andere Dimensionen herausfinden. Man sieht es in der Begegnung: Interessiert sich der für das, was hier passiert? In welcher Art ist er wofür aufmerksam? Nimmt er mit der Gegenwart Kontakt auf oder wartet er, dass ihm jemand sagt, was zu tun ist? Neben der Verhaltensfähigkeit braucht es also auch das emotionale Wollen, daher erscheint es mir so wichtig, zwischen Fähigkeiten und Mindset zu unterscheiden.

Wird die Entscheidung auch beraten und wenn ja, wie kann man sich das vorstellen?

Man kann eben nicht einfach ein Gutachten abliefern und dann sagen: So jetzt entscheiden Sie. Sondern ich muss mich mit dem Entscheider hinsetzen und das mit dem durch besprechen. Er muss verstehen was ich meine: "OK, in dem und dem Bereich könnte das gehen, die Chancen sind dort, die Risiken sind da. Der ist zwar in dem Bereich super, aber für das müssen Sie ihm jemanden zur Seite stellen. Gibt es so jemanden, den man ihm zur Seite stellen könnte, der das abfangen aus?" Ich muss mit ihm die Teilrollen durchgehen: Wo hat die Person Probleme, haben Sie an das schon gedacht? Ich muss also die Personalentscheidung selbst beraten. Wenn man das als externer Berater nur als Gutachten überreicht, ist das ähnlich, wie wenn Ihnen der Radiologe das Röntgen in die Hand drückt und sagt, jetzt entscheiden Sie!

Bekommen die Leute da nicht die Krise im Sinn von: Das ist so aufwändig, da muss ich mir so viel überlegen, das ist so kompliziert. Kann man das nicht einfacher haben?

Nein, in der Realität sind alle dankbar, wenn man das so macht, weil sie sonst so tun müssten, als könnten sie aufgrund eines Gutachtens kompetent entscheiden. Im Idealfall sitzen Bewerber, Auftraggeber und ich zusammen und besprechen die Ergebnisse, reden darüber, was der Auftraggeber will und führen gemeinsam einen Diskurs, in dem der Bewerber dem Auftraggeber erklärt, wo sein Können ist , wo er seine Schwächen sieht, wie gut es seiner Ansicht nach passt und wie er sich vorstellen könnte, dass er das eine oder andere Manko kompensiert. D.h. hier geht es darum, gemeinsam zu verstehen, was für das Unternehmen wichtig ist, was daher für die Stelle wichtig ist und welche Möglichkeiten der Kandidat beitragen kann und wo dabei die Chancen und Risken sind. Dadurch kommt es nicht zu dem üblichen Täuschungsprozess, wo jeder nur seine beste Seite herzeigt und dann immer das böse Erwachen kommt, sobald die Person ihren neuen Job antritt, sondern bereits im Recruiting beginnt der ernsthafte Dialog zwischen Person und Organisation. Spätestens an diesem Punkt merkt man, ob man im Vorfeld das Organization Design richtig verstanden und abgebildet hat. Als Berater muss ich sozusagen fünf Schritte weiterdenken als der Auftraggeber, weil der in dem Moment darauf schaut, ob er die richtige Person bekommt. Er ist total auf die Person fokussiert. Die Beratungsleistung besteht darin, die Person zu sehen und den gesamten Kontext.

Personalentscheidungen sind ja mit die teuersten Entscheidungen. Dem gegenüber stehen wenige  Beratertage für eine Schlüsselstelle, wenn man das in einer neuen Organisation und Branche ordentlich macht. Das ist im Vergleich eine vernachlässigbare Summe. Bis man falsche Leute wieder los wird, dauert es mindestens ein Jahr und kostet nicht nur das Jahresgehalt, sondern in der Zeit passiert ja noch ein enormer Schaden, denn solche Manager beginnen die Organisation nach ihren Vorstellungen sofort umzubauen Frustrierte Mitarbeiter, weitere Fluktuation, verzögerte oder gescheiterte Projekte, etc. Aber eines stimmt. Ohne OE-Wissen kann man keine solide Potenzialeinschätzung machen, das ist meine Grundthese.

Bekommen die Firmen da nicht alle Zustände, weil sie einen Berater für das Recruiting holen und der dann zwei Jahre im Unternehmen sitzt?

Die Frage ist, wollen sie ein gutes Recruiting machen oder nur ein möglichst schnelles, das sich dann später regelmäßig rächt? In dem von mir beschriebenen Prozess lernen alle Beteiligten, Auftraggeber ebenso wie Kandidaten. Sie setzen sich mit dem Organizational Design auseinander, mit den Leistungsprozessen, mit den Fähigkeiten und Mindsets und sie erkennen, dass, dass sie nicht nur isoliert an einem Hebel drehen können. Als Beraterin muss ich den diagnostischen Auftrag so wahrnehmen und verstehen, dass ich den Auftrag habe, einen Beitrag zur Gesamtentwicklung der Organisation zu machen. Ich muss auf das Ganze schauen, statt mich nur für den siebten Zwerg von links zuständig zu fühlen. Denn Personenentscheidungen haben immer Implikationen auf Prozesse. Wenn ein Manager z.B. kein Kooperationsverständnis hat, geht er ins Unternehmen und baut die Prozesse um und zwar so, dass sie zu seinem Mindset passen. Wenn ich den Auftraggebern das sage und erkläre, fallen ihnen sofort selbst zig Beispiele ein. "Ja, genau, so war das bei dem und dem auch." Das schließt ja an ein Wissen an, dass viele Menschen haben, die in Organisationen tätig sind. Genauso gilt: Wenn jemand nicht gern in Teams arbeitet, wird er keine Teams einrichten, sondern die Kommunikation sternförmig organisieren. Er kann gar nicht anders, denn er kann ja nur in seinem Modus wirksam werden. Das ist die Aufklärungspflicht, die man als Berater hat. Ich muss als Berater vorwegnehmen können, was sie in der Organisation zukünftig brauchen, damit Potenzialeinschätzung Sinn macht. Dazu muss ich mich mit der Organisation beschäftigen und zwei, drei Schritte vorausdenken. Wo wollen die eigentlich hin? Eine gute Beratung muss die Organisation auf die Gesamtentwicklung aufmerksam machen.

Ist die nicht immer weniger abschätzbar? Heute in die Richtung, morgen in die andere Richtung?

Darum schaue ich immer auf die Grundkompetenz Beweglichkeit - geistige und emotionale Beweglichkeit wenn ich abschätzen kann, dass das nicht stabil sein wird. Dann schaue ich nicht so sehr darauf, dass ich die momentan benötigten Fähigkeiten entwickle, sondern dass ich dort Dinge anstoße, die die geistige und emotionale Gesamtbeweglichkeit stärken. Oder dass ich Leute aufnehme, die auch in der Lage sind, vollkommene Kehrtwendungen zu bewältigen. Das zu beschreiben, zu reflektieren, was jemand daraus gelernt hat und wie man das an andere weitergibt, ist da eine wichtige Fähigkeit. Das sind Grund-Mindsets und Meta-Fähigkeiten, aber die findet man heute in keinem Anforderungsprofil. Das checke ich in einer Potenzialeinschätzung immer ab und das gebe ich dem Auftraggeber als Ergebnis, auch wenn der nicht danach gefragt hat.

Wenn ich mir als Firma die Frage stelle - Woran muss ich denken, wenn ich über Potenzialeinschätzung nachdenke, wenn ich sie in Auftrag gebe oder wenn ich sie sinnvoll in mein Unternehmen einzuführen will? – dann ist die Antwort eben weit umfassender als es die klassische Potenzialeinschätzung nahelegt.

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