Unternehmen versenken, Teil 2

Dass viele vom Management nach außen hin als Erfolg präsentierte Veränderungsprojekte sich firmenintern etwas anders darstellen, weiß jeder aus eigener Erfahrung. Gefährlich wird diese Schönrederei aber, wenn Manager anfangen ihre eigenen Lügen zu glauben und dazu übergehen, bereits sichtbare Probleme und Folgekosten eines von ihnen gepushten Changeprojektes konsequent zu leugnen und auszublenden.

Der Fall des bereits im ersten Teil beschriebenen Versicherungsunternehmens zeigt eindrücklich, welche fatale Konsequenzen solche „zukunftsweisende“ Entscheidungen im Rahmen von Change-Projekten haben können, vor allem dann, wenn Hinweise auf die tatsächlichen Wirkungen nicht als wertvolle Informationen gewertet, sondern als Kritik veränderungsunwilliger Mitarbeiter diffamiert werden.

Illusion Personalkostensenkung

Die Absicht: Wir „straffen die Organisation“ indem wir bisher regional verteilte Stellen an einem Ort konzentrieren. Damit sparen wir Personal ein.

Die Wirkung: Der Teil der Mitarbeiter, der „abgebaut“ werden soll, wird tatsächlich abgebaut, von den Mitarbeitern, die fortan in die zentralen Niederlassungen pendeln sollen, bleiben aber weit weniger als geplant, weshalb dem Unternehmen plötzlich reihenweise Leute abgehen, die man dringend zur Bewältigung der laufenden Aufgaben gebraucht hätte. Die Folge ist ein enormer Stau in der Bearbeitung: so werden Schadensmeldungen erst mit einem halben Jahr Verspätung (!) bearbeitet, Auszahlungen erfolgen viel zu spät und verärgerte Makler, Kunden und Partnerfirmen wie Werkstätten treten eine negative Mund-Zu-Mundpropaganda unvorstellbaren Ausmaßes los. Die Rechtsanwaltskosten explodieren, weil aufgrund der Überbelastung der verbliebenen Mitarbeiter viele bisher gütlich am Telefon geregelten Fälle nun vor Gericht geklärt werden, da den Anwälten der Klienten nach dem fünfzehnten vergeblichen Anruf der Kragen platzt.

Das Unternehmen bemerkt, dass die eben noch als „überflüssig“ angesehenen, entlassenen Mitarbeiter über Fachwissen verfügt haben, dass zur Bearbeitung von Versicherungsakten notwendig wäre, bei den als „Feuerwehr“ eingesetzen Hilfskräften, die mithelfen sollen, den Rückstau abzuarbeiten in kurzer Zeit aber nicht aufgebaut werden kann. Daher explodiert die Fehlerrate, die eh schon überarbeiteten, verbliebenen Sachbearbeiter fluchen über die unzähligen Nachbearbeitungen und schlussendlich entscheidet man, einen Teil der Akten durch einen externen Dienstleister bearbeiten zu lassen. Die Summe der hier pro bearbeitete Akte gezahlten Summe beträgt in kürzester Zeit ein Vielfaches der eingesparten Personalkosten, wird allerdings nicht als Personalkosten verbucht, sondern als Sachaufwand, wodurch der Selbstbetrug (wir haben Personalkosten eingespart) gegenüber der Unternehmensspitze aufrechterhalten werden kann.

Illusion elektronischer Akt

Die Absicht: Wir führen ein neues EDV-Programm ein, schaffen damit den „elektronischen Akt“, vereinfachen und beschleunigen die Bearbeitung und sparen Personal.

Die Wirkung: Entsprechend der Grundidee des „elektronischen Aktes“ sieht man nun viele der früher nur im Akt enthaltenen Daten auf einen Blick am Bildschirm – natürlich erst, nachdem die aufwendige Dateneingabe durchgeführt wurde. Aufgrund der vielen zusätzlichen „features“ ist das System allerdings wesentlich langsamer als das Vorgängermodell, was die Bearbeitung eines Aktes zum Ärger von Kunden und Mitarbeitern enorm verlangsamt statt wie versprochen zu beschleunigen. Speziell in der Anfangsphase erweist sich das neue Programm, das mit enormen finanziellen Aufwand entwickelt wurde, zudem als höchst fehleranfällig. Systemabstürze und damit verbundenen Arbeitsunterbrechungen sind an der Tagesordnung.

Der „elektronische Akt“ ist eine schöne Idee und tatsächlich sind nun mehr Daten im System erfasst. Ohne den Akt in Hand kommt man in aller Regel dennoch nicht aus. Allerdings dauert es nun wesentlich länger, den Akt zu beschaffen, da das Archiv zentralisiert wurde.

Illusion Ersetzbarkeit

Die Absicht: Da aufgrund des „elektronischen Aktes“ jeder Mitarbeiter nun auf Knopfdruck den ganzen Akt vor sich hat (so zumindest die Annahme), lösen wir also die direkten Zuständigkeiten und Verantwortungen der Sachbearbeiter auf und bilden Arbeitsteams. Ab jetzt ist jeder für alles zuständig und das neue Telefonsystem teilt Anrufer nach dem Zufallsprinzip auf die verschiedenen Teams auf.

Die Wirkung: Defacto ist jetzt keiner mehr für irgendwas zuständig. Für den einzelnen Kunden gibt es keine direkten Ansprechpartner mehr. Ruft man mehrmals an, kommt man jedes Mal zu einem anderen Mitarbeiter, und muß seine Geschichte mehrmals erzählen. Die Annahme, alle Informationen würden im System gespeichert, stimmen so nicht. Es finden sich eher Stichworte, Gesprächsfetzen. Vieles ist für den nächsten, der ins System blickt, ohne den Background des zugrundeliegenden Gesprächs nicht mehr genau rekonstruierbar. Spezifisches, über die Zeit aufgebautes Wissen über einzelne Kunden – „ah, der Herr X, ja ich weiß schon, ich kann mich erinnern, das machen wir bei Ihnen so und so“ – wird damit obsolet, die Betreuungsqualität vermindert sich rapide, die Beschwerden erreichen neue Rekordwerte, da die Fehlerquote ernorm zunimmt. Kundenwissensvernichtung vom feinsten, sozusagen.

Illusion Standardisierbarkeit

Die Absicht: eine ganze Reihe von Tätigkeiten ist standardisierbar. Dazu brauche ich keine Spezialisten, das können auch Mitarbeiter im Callcenter.

Die Wirkung: Diese Annahme trifft in vielen Bereichen einfach nicht zu. Statt dessen werden so systematisch Fehlerquellen eingebaut. Z.B. von Telefonistinnen falsch angelegte Akte, die hinterher mit extremen Arbeitsaufwand korrigiert werden müssen. Statt so wie früher jeden Kunden individuell zu behandeln, behandelt das Unternehmen nun alle gleich – schlecht. Dementsprechend schlecht entwickeln sich die Unternehmenszahlen. Wenn Sie ein gutes Beispiel für den Satz sucht „Manchmal ist die versuchte Problemlösung das eigentliche Problem“, dann halten Sie sich an dieses Unternehmen.

07.2001

...zurück zum Seitenanfang

Teilen: