Wann gelingt der Seminartransfer?

Im Jänner 2002 hielt Prof. Dr. Heinz Mandl vom Institut für Pädagogische Psychologie und empirische Pädagogik der Ludwig Maximilians Universität München einen vom AVL-Institut organisierten Vortrag zur Frage, wie Weiterbildung den gewünschten Erfolg bringt.

Vor einiger Zeit führte Institut von Prof. Mandl folgendes Experiment durch: Betriebswirtschaftsstudenten im achten Semester absolvierten ein Unternehmensplanspiel, bei dem die Leitung einer Jeansfabrik simuliert wurde, in der eine Reihe von Entscheidungen zu treffen waren. Es stellte sich heraus, dass die BWL-Studenten, obwohl sie in Bezug auf Unternehmensführung nach den acht Semestern schon viel theoretisches Wissen aufgenommen hatten, sich enorm schwer taten, dieses Wissen im Planspiel auch anzuwenden. Diese BWL-Studenten wurden in der Folge mit einer Gruppe von Psychologie- und Pädagogik-Studenten verglichen, die das Planspiel ebenso absolvierten. Entgegen allen Erwartungen  spielten die Psychologie-Studenten 800.000 Mark Gewinn ein, die BWL-Studenten hingegen nur 400.000.

Dabei war das ursprüngliche Ziel der Untersuchung ganz ein anderes. Man wollte die Vorgehensweisen und Strategien von ausgebildeten Leute mit denen„naiver“ Leute ohne das nötige Fachwissen vergleichen. Das Ergebnis war allerdings kein Einzelfall. Ähnliche Befunde gab es dann auch in anderen Wissensbereichen wie der Medizin, und – so die These – es ließe sich sicher auch in vielen beruflichen Weiterbildungssituationen zeigen. Eine Frage, die sich daraus ergab, war: Warum bleibt Wissen oft so träge und kommt nicht zur Anwendung?

Wissen ist träge

Prof. Mandl führt diese „Trägheit des Wissens“ auf mehrere Faktoren zurück: Beispielsweise auf die traditionelle Lehr- und Lernauffassung: So gehen viele Lehrende bei der Vermittlung von Buchwissen immer noch von der Annahme aus: Wenn ich die Materie dargestellt habe, dann wird der Lernende es schon „haben“, wenn er nur genau aufpasst und es wirklich wissen will. Eine weitere Annahme ist: Wenn jemand die Theorie hat, dann kann er das in der Praxis schon irgendwie machen, er kann die Lücke zwischen Theorie und Praxis selbst schließen.

Demgegenüber stellt Prof. Mandl die konstruktivistische Lernauffassung, die eng mit den Ergebnissen der neueren Gehirnforschung zusammenhängt: Danach ist das Gehirn ein höchst aktiv informationsverarbeitendes System, kein passiver Filter für Reize, die von außen aufgenommen werden, d.h. das Gehirn hat gestaltende Kraft. Lernen ist daher kein passiver Prozess, kein rezeptives Aufnehmen. Und Wissen daher auch kein Gut, das von einer Person zur anderen weitergereicht werden kann, sondern jeder muss sich sein eigenes Wissen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt aktiv erarbeiten.

Lernen ist ein aktiver Konstruktionsprozess

Wir nehmen daher Informationen nicht 1:1 auf , sondern jeweils vor einem schon vorhandenen bestimmten Hintergrund. Und mit dem Wissen, das wir im Hintergrund haben, konstruieren wir die Informationen und verbinden die neuen Infos mit unserem eigenen Wissen. Jeder nimmt von einem Seminar ganz unterschiedliches mit, je nachdem welche Erfahrungen und welches Wissen er im Hintergrund hat.

Lernen ist also ein aktiver Prozess und ein Konstruktionsprozess. Es ist aber noch mehr, nämlich ein sozialer Prozess, denn es passiert vor allem in der Auseinandersetzung mit anderen Personen, und es ist ein situativer Prozess. Lernen findet immer in Situationen statt, das ist zwar an sich trivial., aber die Frage - Welche Situation ist für das Lernen, vor allem aber für den Transfer des Gelernten entscheidend – ist es bereits nicht mehr.

Denn nun steht beim Lernen plötzlich nicht mehr der Lerninhalt im Mittelpunkt, sondern die Gestaltung geeigneter Lernumgebungen, adäquater Lernsituationen.

In Bezug auf Seminare heißt das:

     

  • Lernen anhand konkreter Probleme: durch das Anknüpfen an aktuelle Probleme der Teilnehmer, an authentische Fälle und durch das Einbringen persönlicher Erfahrungen
  • Lernen, indem die Lernenden in authentische Problemsituationen versetzt werden, die reales Handeln erfordern
  • Lernen in multiplen Kontexten: indem zumindest auf verschiedene, multiple Anwendungssituationen verwiesen wird bzw. den Lernenden im besten Fall verschiedene Kontexte/Situationen geboten werden, in denen sie das Gelernte anwenden müssen.
  • Lernen unter multipler Perspektive: indem verschiedene Sichtweisen verdeutlicht werden bzw. die Lernenden angeregt werden, das Gelernte aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren.
  • Lernen in einem sozialen Kontext: indem zumindest Phasen mit Gruppenarbeit in den Unterricht eingebaut werden bis hin zum Lernen in Expertengemeinschaften, learning communities, wie es immer mehr Firmen im Rahmen ihres Knowledge-Managements pflegen.
  • Lernen durch eine neue sicht von „Instruktion“ als Bereitstellen von Information und Ressourcen, gezieltes Feedback, Unterstützung bei Fragen und Problemen und die Bereitstellung gut strukturierter Aufgaben.

Transfer beginnt schon vor dem Lernen

Über die Anwendung des Gelernten wird schon vor dem Lernen entschieden. Wie jeder interne Weiterbildungsexperte weiß, werden die Grundlagen für erfolgreichen Transfer schon dann gelegt, wenn zwischen Führungskraft und Mitarbeiter der konkrete Anlass geklärt werden (oder eben auch nicht), die konkreten Ziele des Lernenden, die entscheidende Frage, wo und wie das neu Gelernte dann am Arbeitsplatz angewandt und vielleicht auch an andere weitergegeben werden soll. Bei der Allianz in Deutschland, so ein Beispiel von Prof. Mandl, wurde vor einigen Jahren solch eine Vorgangsweise eingeführt und die in diesen Vorgesprächen festgelegten Ziele dann an die Trainer weitergeleitet.

Je genauer diese Vorbereitung, desto präziser erfolgt natürlich auch die Auswahl der erforderlichen Maßnahmen. Danach kommen dann, um beim Beispiel zu bleiben, eigene Transfergespräche, bei denen geklärt wird, inwieweit diese Lernaufgaben im Training bearbeitet wurden, inwieweit der Teilnehmer seine Ziele erreicht hat, wie es bei der Umsetzung läuft und welche Unterstützung aus Sicht des Teilnehmers zur erfolgreichen und nachhaltigen Umsetzung nun noch nötig sei? Dass die Aufgabe, nach dem Training intern als Multiplikator zu fungieren und Kollegen die neuen Kenntnisse auch zukommen lassen, die Auseinandersetzung mit dem Gelernten intensiviert und festigt, ist übrigens mittlerweile ebenso weithin bekannt wie wenig verbreitet.

Lernen durch Teilhabe

Interessanter Ansatz, eh schon lange bekannt, aber noch einmal formuliert: Ein weiterer wichtiger Zugang zur Frage „Wo gibt es Situationen, wo man  Wissen erwirbt, das man dann auch anwenden kann?“ nennt sich „Cognitive Apprenticeship“. Dabei wird das uralte Lehrling-Meister-Verhältnis um einen zusätzlichen Aspekt bereichert: Hieß es bislang „Ich zeig es Dir vor. Schau genau hin und dann machst du es nach.“ Geht es hier vor allem darum, „dass der Meister laut denkt und damit den kognitiven Lösungsprozess, den er durchläuft den anderen zugänglich macht.“

So ist es beispielsweise etwa in der Medizinerausbildung, wo Studenten, die Diagnosen von Anämiefällen machen müssen üblich, dass sie einen Patienten zugewiesen bekommen und dann anhand ihrer Untersuchung und bestimmter Informationen, dem Datenblatt mit den bisherigen Bunden, zu einer Diagnose kommen müssen. In diesem Fall aber gab man dem Fall  zusätzlich einem ausgebildeten Arzt und bat ihn, einmal laut zu artikulieren und zu denken, wie er dabei vorgeht: „Ich sehe da dieses Anamnese und diesen klinischen Befund, da steht...das deutet auf...meine eigene Untersuchung ergibt.... und so komme ich jetzt zu der Diagnose... Aha, hier habe ich noch einmal neue Informationen bekommen. Daher verändere ich meine Diagnose...usw.“ Dadurch bekommen die Studenten Einblick in einen Prozess, wie Experten vorgehen, um ein Problem zu lösen. Man erkennt die Strategie hinter dem Handeln. Das aber findet sich in keinem Lehrbuch. Und leider auch in keinem Buch über Führung!

02.2002

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