Der Lebensweg

Der Lebensweg ist eine zweite hilfreiche "Brille" neben der Unternehmensidentität, um das Unternehmen aus ungewohntem Blickwinkel zu betrachten und weitere aufschlussreiche Entdeckungen hinsichtlich der dominierenden Muster zu machen.

Die Untersuchung des Lebenswegs ermöglicht den Blick auf "die Unternehmensidentität im Zeitverlauf": Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind? Wo liegen die Wurzeln bestimmter Spielregeln oder Handlungsmuster? Wo gab es markante Einschnitte und Richtungsänderungen? Der Lebensweg verweist als Indikator ebenso auf die Veränderung der Identität im Laufe der Zeit wie auch auf die bestehende Identität: Studiert man den Lebensweg, erkennt man die typischen Muster, die sich mit der Zeit herausgebildet haben. Etwa: Wie wird hier entschieden, geplant, mit Mitarbeitern umgegangen? Wofür wird man anerkannt, bestraft?

Die Darstellung des Lebensweges

Am einfachsten und hilfreichsten ist es, den Lebensweg graphisch darzustellen. Das Grundschema ist simpel:

  • Startpunkt ist die Gründung.
  • Phasen der gleichbleibenden Entwicklung werden als gerade Linie dargestellt
  • evolutionäre Veränderungen drücken sich durch leichte Kurven aus,
  • Umbruchphasen werden als Wolke dargestellt,
  • revolutionäre Veränderungen zeigen sich als markante Richtungswechsel.

Über weite Strecken erscheint der Lebensweg eines Unternehmens als beständig dahin fließender Fluss. Das Unternehmen ist damit beschäftigt, seine Identität zu finden - und vor allem - sie zu bewahren. Es finden "nur" kontinuierliche, kleine Veränderungen in Teilen bzw. in Relationen zwischen Teilen und dem Ganzen und zu Umwelten statt. Die "naturwüchsige Steuerung" entwickelt sich, das Unternehmen folgt seinem natürlichen Lauf.
Punktuell jedoch sind - meist rückblickend - auch größere Umbruchphasen zu beobachten. In diesen Phasen wird der naturwüchsige Lauf unterbrochen und es entsteht eine Phase des Durcheinanders und der Unordnung. Oft geben äußere Irritationen den Anstoß: eine dramatische Änderung der Marktsituation, ein Eigentümerwechsel und/oder ein Börsengang, eine Technologieveränderung. Im Unternehmen treten Brüche auf und der Lebensweg beginnt, seine Grundrichtung und Grundform zu verändern. Strategien, Strukturen, der Umgang miteinander - essentielle Muster als auch die Relationen zu relevanten Umwelten (Kunden, Mitarbeiter, …) - beginnen, sich grundsätzlich und revolutionär zu verändern. Das Unternehmen beginnt, anders zu "ticken".

Umbruchphasen am Lebensweg

Der Begriff "Umbruchphase" kennzeichnet Situationen, in denen Irritationen von außen massive Verstörung im Unternehmen auslösen, wobei offen bleibt, wie das Unternehmen darauf reagiert. Drei Möglichkeiten sind denkbar: Die Irritation verebbt und das Leben geht weiter wie bisher – die gerade Linie wird fortgeführt – oder es kommt zu leichten Adaptionen, sprich evolutionären Veränderungen – der Lebensweg beschreibt eine leichte Kurve - oder aber die Irritation gipfelt in einer revolutionären Veränderung – der Lebensweg wechselt abrupt die Richtung.

Wenn Umbruchsphasen mögliche Veränderungen einläuten, können sich diese in folgende Richtungen entwickeln:

  • eine evolutionäre Veränderung in dem Sinne, dass es sich eher um Optimierungen und kleine Adaptierungen handelt.
  • eine revolutionäre Veränderung in dem Sinne, dass sie eine radikale Veränderung der bisherigen Unternehmensidentität bewirken, d.h. gravierende Veränderungen von
    - mehreren Relationen zu wichtigen Umwelten: z.B. neue Kundengruppen, stärkerer Einfluss von Banken
    - inneren Strukturen: z.B. neue Subsysteme, Prozesse (IT) z.B. von zentralem zu dezentralem Einkauf; von Linienorganisation zu einer Prozessorganisation usf.
    - fallweise auch eine Veränderung des Sinns: Z.B. Nokia: vom Gummistiefelerzeuger zum Telekomunternehmen: Oder auch: Vom Familienunternehmen zum börsennotierten Konzern.
  • keine Veränderung in dem Sinn, dass das Unternehmen nach dieser Phase des Aufruhrs und der Unordnung zu den alten Mustern zurückkehrt. Nicht jede Umbruchphase – und das ist wichtig, sich vor Augen zu halten - führt automatisch zu einer Veränderung.

Gerade in diesen Umbruchphasen zeigt sich der "Eigensinn" von Unternehmen besonders deutlich: Während z.B. der Verlust des größten Kunden, der 40 Prozent des Umsatz ausgemacht hat, in dem einen Unternehmen radikale Veränderungen nach sich zieht, die die gesamte Organisation lange in Atem halten und nachhaltig verändern, kann derselbe Umsatzeinbruch in einem anderen Unternehmen mit der eher lapidaren Aussage "dann sollten wir wohl schnell für Ersatz sorgen" zur Kenntnis genommen werden und allenfalls zu einer Verstärkung der Verkaufsanstrengungen führen.

Interessanter Weise nehmen viele Manager in ihrer Analyse der Funktionsweise des Unternehmens viel zu wenig Bezug auf die Geschichte. Möglicher Weise auch deshalb, weil sie die Bezugnahme auf "die Art, wie das bei uns läuft" schnell als "Widerstand gegen Veränderungen" interpretieren und sich dadurch in ihren Veränderungsbestrebungen gehindert fühlen. Dabei lassen sich gerade aus dieser eingehenden Betrachtung der Vergangenheit und den dabei entdeckten dominierenden Mustern zahlreiche wertvolle Implikationen für erfolgsversprechendere Manageraktionen ableiten. Denn wenn Manager die Vergangenheit - den bisherigen Lebensweg ihres Unternehmens - analysieren, erzeugen sie damit eine wertvolle Erfahrungs-Landkarte.

Projizieren sie diese Landkarte dann in einem nächsten Schritt auf die Zukunft - egal wie stark die Landkarte die Wahrheit auch vereinfacht - kann sie auch vorausblickend als gute Richtschnur dienen. Existiert im Unternehmen eine Vision, ein Bild einer wünschenswerten Zukunft, hilft dieses Projizieren des Lebensweges enorm dabei, abschätzen zu können, ob die Fortführung des derzeitigen Lebensweges überhaupt zielführend ist oder sich vielleicht bereits jetzt am Horizont bedrohliche Wolken (mögliche Umbrüche) abzeichnen, die mit den bisherigen Mustern (dem »naturwüchsigen Lauf«) nur schwer erfolgreich zu meistern sein werden.

Beispiel für Lebensweg und Umbrüche

"Alphatec" (Name geändert) ist ein "hidden champion" , der als Weltmarktführer in der Erstellung von elektronischen Messsystemen in der E-Wirtschaft agiert. Das Unternehmen als Ganzes umfasst einen Stammsitz mit Entwicklung und Produktion und weltweite Vertriebsniederlassungen. Diese sind konzentriert in regionale Einheiten: EMEA, Asia-Pacific, USA. Insgesamt hat das Unternehmen mit Stand 2007 circa 400 Mitarbeiter weltweit, davon 220 am Stammsitz.

Entstanden ist das Unternehmen Anfang der 80er-Jahre als Handelsunternehmen mit IT-Software – Handelsware und wenigen Eigenprodukten. In den ersten drei Jahren arbeitete der Gründer mit zwei Angestellten in diesem Bereich.

Den ersten Umbruch läutete eine Eigenentwicklung  ein - eine Messtechnik-Software für die E-Wirtschaft. Diese Software fand bei einigen Unternehmen in der Region großen Anklang, worauf  der Unternehmer die Chance ergriff und sein Unternehmen darauf fokussierte. Von Anfang an enthielt die unternehmerische Vision die Idee einer globalen Ausrichtung und die klare Fokussierung auf zwei Business-Treiber: Innovation und global orientierter Sales. Darüber hinaus war die Idee, ein inspirierendes Unternehmen zu gestalten, das auf humanen Werten und lustvoller-fachlicher Kooperation basiert, eine das Unternehmen sehr prägende Grundhaltung.

Ende der 80er-Jahre erfolgte der nächste Umbruch mit dem Start der Internationalisierung und der ersten Vertriebsniederlassung in den USA. Das Unternehmen war inzwischen von 3 auf 40 Mitarbeiter gewachsen. 1990 wurde eine Prozessorganisation etabliert und die Unternehmensidentität wandelte sich von einer unternehmergetriebenen Organisation hin zu einer ablauforientierten Organisation mit der Etablierung eines Führungsteams rund um die Hauptprozesse.

1999 erfolgte der zweite Wachstumsschub des inzwischen auf 300 Mitarbeiter gewachsenen Unternehmens, verbunden mit dem Wechsel des Gründers in eine Art »Aufsichtsratsfunktion« und der Übergabe der CEO-Rolle an einen langdienenden Mitarbeiter. Doch selbst, nachdem der Gründer seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt hatte, blieb er strukturell in den Entscheidungsprozess integriert, da viele Entscheidungen nicht ohne seine Einbindung getroffen wurden.

2007 erfolgte der nächste Umbruch in Form eines Strategieprojekts, angestoßen von dem klaren Wunsch des Führungsteams nach klareren Strukturen und Abläufen, um das weitere Wachstum auf Basis der Alphatec-Werte zu ermöglichen.

Welche Muster wurden durch die Arbeit am Lebensweg der "Alphatec" sichtbar?

Im Verlauf dieses Lebenswegs haben sich folgende Muster etabliert:

  1. Das Unternehmen Alphatec steuert sich über klare Vision-Ziele-Vorgaben, die sowohl qualitative als auch quantitative Aspekte berücksichtigen. Es herrscht ein hoher Innovationsanspruch an die Produkte. Das Unternehmen ist aufgrund der unternehmerischen Kraft des Gründers sehr schnell gewachsen und hat auf Basis der Gründerwerte eine starke Unternehmenskultur etabliert. Als Indikatoren dafür folgende Beispiele: Das Unternehmen gilt in der Region als beliebtester und begehrtester Arbeitgeber. Es spendet 5% des Umsatzes an soziale Einrichtungen und besondere Projekte. Das Unternehmen investiert in eine besondere Ausstattung des Firmengebäudes – Fitnessräume, Ruheoasen, etc. Die wichtigen Entscheidungen werden den Alphatec-Werten gegenübergestellt und die Entscheidungen an diesen gemessen.
  2. Aufgrund des Gründerwertes "Konsensorientierung" hat sich ein großes Harmoniebedürfnis etabliert. Es fehlt an Konsequenzen, wenn etwas nicht so gemacht wird wie vereinbart. Darüber hinaus herrscht neben der sehr  klar scheinenden Prozessorganisation eine starke Orientierung an Personen. Dies gipfelt darin, dass der Gründer bei wichtigen Entscheidungen mitentscheidet, ohne eine klare Rolle zu haben (da er ja eigentlich aus dem Unternehmen ausgeschieden ist.) Führung findet in der zweiten und dritten Ebene zu wenig statt. Es fehlt an klaren Vorgaben und Konsequenzen.
"Muster" der bisherigen Umbrüche:

Die Umbruchphasen bei Alphatec wurden durch die interne unternehmerische Strategie "Wachstum" initiiert und sichtbar. Der Versuch, Klarheit in die Abläufe zu bringen, hat jeden Umbruch begleitet. Die Impulse für diese Umbrüche gingen immer von der Spitze des Unternehmens aus – dem Führungsteam mit dem Gründer.

Angenommene künftige Umbrüche: Projiziert man den Lebensweg der Alphatec in die Zukunft weiter und fragt, wie das Unternehmen seine Vision erreichen kann, wird klar, dass sich das Thema "Wachstum kanalisieren und adäquate Strukturen etablieren" weiterhin durchziehen wird. Eine Vermutung ist, dass so ein Wachstum ein klares Führungsverständnis braucht, das Konsens anstrebt, aber auch die ausgeprägten "Harmoniebedürfnisse" überwinden muss. Die Antwort auf die Frage "Welche Umbrüche muss das Management initiieren, damit es die Vision erreichen kann?" heißt in diesem Fall: einen klaren Bruch mit dem bisher üblichen Entscheidungsverhalten.

Leitfragen zur Erarbeitung des Lebensweges

  • Nehmen Sie ein Flip-Chart und beginnen Sie beim Jahr der Gründung. Wie verliefen die ersten Jahre, Jahrzehnte? Ein kontinuierlicher Aufbau? Leichte Adaptionen aufgrund des Wachstums? Bereits erste schwere Krisen kurz nach der Gründung?
  • Wann kam es im Lauf der Unternehmensgeschichte zu wichtigen Umbruchphasen? Wie würden Sie diese bezeichnen? Ordnen sie den Umbrüchen jeweils Jahreszahlen zu. Geben Sie den Umbrüchen "markante Überschriften".
  • Überlegen Sie, was zu diesen Umbrüchen geführt hat und was sich dadurch konkret verändert hat.
  • Benennen Sie die Zeit zwischen den Umbrüchen und versuchen Sie auch, markante Meilensteine in diesen Phasen heraus zu stellen. Was war für die Zeit zwischen den Umbrüchen typisch? Wie hat sich die Steuerung nach den Umbrüchen jeweils verändert? Was ist gleichgeblieben? Was hat sich als neues "typisches Muster" entwickelt?
  • Überlegen Sie für jede Phase:
    - Was waren die besonderen Qualitäten der jeweiligen Phase? Was hat uns hier jeweils erfolgreich gemacht?
    - Was waren besonders prägende Umwelten? (Banken, Kunden, Lieferanten, auch prägende Persönlichkeiten …) Was hat diese Relation so besonders gemacht?
    - Was sind typische Muster meines Unternehmens, wie tickt es? Was sind daher relevante Hebel und Ansatzpunkte für die Unternehmenssteuerung?

Quelle: Alexander Exner, Hella Exner, Gerhard Hochreiter: Selbststeuerung von Unternehmen; Campus Verlag, 2009

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