"Führung sorgt für Impulse"

Dr. Rudolf Wimmer, Professor an der Universität Witten/Herdecke und Partner der Beratungsfirma osb international AG, über die sehr unterschiedlichen Zugänge von Führungskonzepten, sechs Dimensionen, die Führung zu bearbeiten hat und die mit Leadership-Konzepten einhergehende Heroisierung des Top-Managements.

Herr Prof. Wimmer, macht Ihrer Ansicht nach die Unterscheidung von Management und Leadership Sinn?

Dazu muss ich ein paar grundsätzliche Gedanken über Führung vorausschicken. Führung ist meiner Ansicht nach eine bestimmte Funktion in einer Organisation, daher muss ich immer die Organisation mitdenken. Gleichzeitig gibt es auch Ansätze, die die Organisation ausblenden, die nur auf die Person schauen und so tun, als wäre Führung nur eine Frage der persönlichen Eigenschaften und des Umgangs mit Personen, also Führung letztlich definiert als Personalführung. Das alles sind mentale Modelle, die in der Praxis vorkommen und die alle ihre Vor- und Nachteile haben.

Wenn man davon ausgeht, dass man immer ein Modell von Führung im Kopf hat, wie würden Sie dann Ihr Modell beschreiben?

Führung ist eine Spezialfunktion, darauf spezialisiert, ein ganz bestimmtes Problem, das Organisationen hervorbringen, permanent bearbeitbar zu machen. Und dieses Kernproblem ist, dass Organisationen – wenn man sich Führung einmal kurz gedanklich wegdenkt – in ihrer Selbstorganisation darauf ausgerichtet sind, die eingespielten Routinen der Vergangenheit fortzusetzen. Denkt man also Führung weg, kann man davon ausgehen, dass die Organisation sich um ihren Bestand an eingespielten Routinen, Aufgaben, Prozessen usw. herum reproduziert. Die Kernfrage ist für mich: Wie würde ich das Problem benennen, für das Führung in Organisationen eine Lösung ist? Ich setze Führung also nicht als selbstverständlich voraus und gehe gleich in die Details, sondern ich frage mich, - das ist der theoretische Zugang – wie heißt denn das Problem, für das Führung eine Lösung ist. Und meine Beschreibung ist eben, dass Organisationen, wenn man Führung wegdenkt, die Konfrontation zu vermeiden suchen zwischen ihrem Sosein, dem was sich eingependelt hat und dem, was die Herausforderungen der Organisation sind angesichts der Erwartungen der Umwelt, für die die Organisation eigentlich da ist.

Genau aus diesem Grund prägen Organisationen in sich eine Funktion aus, um mit diesem Vermeidungsverhalten in irgendeiner Weise umzugehen. Führung gewinnt so gesehen ihren Sinn und Zweck in Organisationen daraus, dass es die Organisation in ihren Bewältigungsmustern beobachtbar macht und aus diesen Beobachtungen, dort wo es sinnvoll, Anregungen und Impulse ableitet, die die Organisation unter Spannung setzen. Unter Spannung im Hinblick darauf was ist und darauf, was für die Organisation als Sollzustand definiert werden kann. Führung ist darauf spezialisiert, diese Soll-Ist-Spannung in Organisationen aufzumachen und die Organisation zu befähigen, an dieser Differenz zu arbeiten, um sich weiterzuentwickeln und so ihr Überleben zu sichern.

Ist das eine Funktion, die nur die Top-Führungskräfte betrifft oder auch die anderen Führungsebenen?

Die anderen genauso, wobei ich bisher nur von der Funktion von Führung spreche und nicht von den Funktionsträgern, den Führungskräften. Wer in der Organisation welche Aufgaben von Führung wie wahrnimmt oder auch nicht, ist eine andere Frage. Natürlich ist Führung ausdifferenziert in den unterschiedlichsten Ebenen und Verantwortungsbereichen und natürlich sind die Komplexitätsgrade und die Verantwortungsdimensionen entsprechend unterschiedlich, aber das Grundproblem ist das gleiche. Nämlich die eigene Funktionsweise in Hinblick auf Funktionstüchtigkeit zu beobachten und aus diesen Beobachtungen Entwicklungsimpulse abzuleiten, also diese Art von Soll-Ist-Differenz aufzumachen. Und zwar eine Differenz, die in der Organisation so andocken muss, dass sie dort auch angenommen und damit etwas gemacht wird.

Eine Theorie, die eher beschreibt als bewertet?

Ja, das ist das Reizvolle an dieser Theorie. Es ist keine normative Theorie, die sagt, das ist gute oder schlechte Führung, was mit dem Thema rasch verbunden ist, sondern es ist ein Beschreibungs- und ein diagnostisches Konzept, mit dem ich unterschiedlichste Ausprägungen und organisationale Spielarten beobachten und mich fragen kann, welche Funktionalitäten, latente oder offizielle, damit verknüpft sind.

Organisationen sind ja dadurch definiert, dass sie ihren Existenzgrund nicht in sich selbst haben, sondern dass sie Leistungen für relevante Umwelten erbringen. Sie haben damit diesen Außenbezug schon existentiell in sich angelegt, Führung macht nichts anderes, als diesen Außenbezug immer wieder in die Organisation zu tragen und damit die eingebaute Tendenz zu unterlaufen, sich gegenüber dem, was draußen ist, abzuschotten. Das kann man weiter konkretisieren und sich fragen: Wenn Führung letztlich die Aufgabe hat, Soll-Ist-Differenzen zu erzeugen und bearbeitbar zu machen, um die Herausforderungen der Umwelt im Inneren der Organisation zum Klingen zu bringen, was sind denn bevorzugte Quellen, aus denen Führung im Alltag solche Soll-Ist-Differenzen ableiten kann?

Was meinen Sie mit Quellen für Soll-Ist-Differenzen?

Ich verwende sechs Grundparadoxien, aus deren permanenter Bearbeitung Führung seine Leistungsfähigkeit gewinnt. Die erste der sechs Gestaltungsdimensionen ist die Dimension Zeit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Ich habe schon erwähnt, dass Organisationen – wenn man sie lässt – die Vergangenheit einfach in die Zukunft fortschreiben und damit verhindern, wozu Organisationen in modernen Gesellschaften eigentlich da sind. Organisationen können diesen Wirkungszusammenhang aber bewusst unterbrechen, indem sie in sich selbst Vorstellungen darüber entwickeln, was die Herausforderungen in der Zukunft sein werden und dann die eigenen Prozesse auf diese zukünftigen Herausforderungen hin ausrichten. Damit drehen sie quasi den bisherigen Wirkungszusammenhang - von der Vergangenheit in die Zukunft - um. Denn nun bewirkt man Dinge, die von der Zukunft her abgeleitet sind. D.h. man macht die Organisation von ihrer wünschenswerten Zukunft her führbar. Eine Organisation mit dieser Fähigkeit auszustatten und das auch ständig zu erneuern, ist Thema der Strategieentwicklung.

Eine zweite Dimension hängt eng mit diesem Abschottungsmechanismus zusammen. Es geht immer wieder darum, in der Organisation lebendig zu machen, welche Erwartungen in der Außenwelt existieren, beim Kunden, bei den Lieferanten, bei den relevanten Stakeholdern und dann intern bearbeitbar zu machen, wie weit man dem entspricht, um hier antwortfähig zu bleiben. Diese Dimension beschäftigt sich also mit der Innen-Außen-Differenz. Wie sehen wir uns, wie sehen uns andere, was können wir tun, um dem besser zu entsprechen?

Die dritte Dimension ist die Paradoxie, dass Organisationen dazu neigen, ständig mehr Ressourcen in ihre Problemlösungsprozesse zu investieren als sie zur Verfügung haben. Also das Thema Ressourcenknappheit. Hier geht es darum, die Organisation mit der Anforderung zu konfrontieren, weniger Ressourcen einzusetzen als man zur Verfügung hat, um so Kapital zu bilden, mit dem dann Zukunftsfähigkeit finanzierbar wird. Somit das Bearbeiten des Themenbereichs Ressourcenmanagement und Finanzierung bzw. Finanzierungsstrukturen.

Die vierte Dimension ist die Organisation als Organisation selbst. Hier geht es darum, darauf zu schauen, wie wir uns als Organisation angesichts der Herausforderungen unserer relevanten Umwelten intern organisieren. Es geht um Aufbauorganisation, interne Gliederung und Differenzierung, bis hin zu Prozessen und Kommunikationsmustern, um so etwas wie Koordination herzustellen, um in hohem Maße komplex koordiniertes gemeinsames Verhalten sicherzustellen. Wie viel an Organisation braucht die Organisation und welche Art von Organisation braucht sie? Diese Frage gilt es, als Führungsdimension im Blick zu halten und wenn notwendig, die Grundarchitektur auf den Prüfstand zu stellen und zu verändern. Das umfasst Themen wie Transformation, permanente Weiterentwicklung, permanente Verbesserungsprozesse, Lernfähigkeit der Organisation, aber auch die Frage der Führungsstrukturen selber: die Ebenen, die man braucht, und die Frage, welche Art von Arbeitsteilung man zwischen den Ebenen braucht.

Die fünfte Dimension betrifft das Verhältnis von Person und Organisation. Das ist ein zentrales Thema, das immer wichtiger wird, je abhängiger Organisationen von der intrinsischen Leistungsbereitschaft der Leute werden. Das ist zwar eigentlich überall der Fall, aber die Bearbeitung ist nicht selbstverständlich gegeben. Die ständige Auseinandersetzung der Personen mit ihrer Organisation, mit ihren Aufgaben und die Sorge dafür, dass das nötige Fähigkeitspotenzial entwickelt und mit der passenden Aufgabe zusammengeführt wird, ist ein ganz wichtiges Themenfeld. Ebenso wie die Frage des Austauschverhältnisses, wer wann was wofür bekommt. Alle Tauschthemen monetärer und nicht monetärer Natur fallen da hinein.

Die sechste Dimension bearbeitet den Widerspruch, dass Organisationen sich führbar machen müssen, ohne dass die Organisation für diejenigen, die diese Verantwortung wahrnehmen, wirklich durchschaubar wäre. Also das Thema der Intransparenz. Es passiert in jeder Organisation sehr viel mehr als diejenigen, die Verantwortung tragen, überblicken können. Daher stellt sich die Frage, wie sich eine Organisation mit der eigenen Beobachtungsfähigkeit versorgt, so dass eine halbwegs realistische Einschätzung des eigenen Zustandes mobilisiert werden kann, mit dessen Hilfe der Ist-Zustand oder Abweichungen vom Ist-Zustand überhaupt legitimer Weise beschreibbar werden. Das geht weit über herkömmliches Controlling hinaus, weil ich eben nicht nur finanzielle Zahlen meine. Das umschließt auch die Aspekte, wie Kunden oder die Mitarbeiter zur Organisation stehen, kulturelle Themen und all das, was wichtig und hilfreich ist, um relativ frühzeitig erkennen, dass etwas aus dem Ruder läuft und auch zeitnah damit umgehen zu können. Das sind meine sechs Kernquellen, aus denen Führung Material gewinnen kann.

Sechs Aufgabenfelder von Führung, die in welcher Form immer bearbeitet werden müssen?

Genau und wenn sie nicht bearbeitet werden, dann heißt das auch etwas. Sei es, dass man in der Organisation entweder nur aus dem Bauch heraus führt, auf Basis irgendwelcher Einschätzungen oder dass man überhaupt im Blindflug unterwegs ist. Der Punkt ist: In irgendeiner Weise muss man mit Leuten umgehen, damit sie auch bereit sind, mitzuspielen. In irgendeiner Weise muss man das Thema Organisation bearbeiten, usw. D.h. in irgendeiner Weise müssen diese Dimensionen von der Organisation beantwortet werden.

Aber es ist noch nicht gesagt, wer das in welcher Form macht?

Nein überhaupt nicht. Es geht nur darum, dass die Funktion wahrgenommen wird. Und im diagnostischen Sinn kann man hinschauen, wie gut sie wahrgenommen wird.

Wenn man von so einem Konzept von Führung ausgeht, macht dann eine Diskussion über Management und Leadership überhaupt Sinn?

Aus meiner Sicht nicht. Denn diese Differenz kommt aus einer anderen Denke. Aus der amerikanischen Tradition, die immer eher Unterscheidungen getroffen hat, die das Top-Management mit einem besonderen Flair ausstatten. Nicht zuletzt, um die dort üblichen, teils enormen Unterschiede zwischen den Gehältern auf der Top Ebene und unteren Ebenen zu legitimieren. Insofern hat die von Ihnen angesprochene Unterscheidung die Funktion, diese personenorientierten Erwartungen theoretisch abzusichern. In dieser Denktradition wird die Fähigkeit, eine Organisation mit Zukunftsbildern zu versorgen, ebenso wie die Fähigkeit, in schwierigen Zeiten, in denen es um Veränderung geht, die Leute hinter sich zu versammeln und dann quasi als Leitstern vorne weg zu marschieren, auf einzelne herausragende, "charismatische" Personen konzentriert. Diese Fähigkeiten wie "Visionen erzeugen" oder "Menschen begeistern" werden unter Leadership diskutiert, während bei diesem Ansatz das alltägliche Tun von mittlerem und unterem Management wie das Steuern der entsprechenden Arbeitsprozesse, das Setzen und Herunterbrechen von Zielen, Personalführung, etc. eben das operative Führungsgeschäft, unter einem stärker technischen und handwerklichen Gesichtspunkt gesehen und mit Management gleichgesetzt wird.

Ist es nicht wirklich eine immer wichtiger werdende Funktion, Orientierung zu geben? Das kann doch nur oben entschieden werden.

Ja, es ist eine wichtige Funktion von Führung. Aber die Frage ist, wie diese Orientierung erzeugt wird. In diesem amerikanischen Leadership-Konzept ist das quasi eine Gabe, die einzelne Figuren der Organisation vermitteln. D.h. es wird an der Fähigkeit von Personen festgemacht, an heroischen Typen und es wird nicht gesehen, dass das eine Funktion ist, die in der Organisation erbracht werden muss, für die die Organisation entsprechende Prozesse und Vorgehensweisen entwickelt und für die sie natürlich auch Leute braucht, die in der Lage sind, das herzustellen. Hier sieht man wieder einen wichtigen Unterschied im Konzeptionalisieren des Themas Führung. Bei der Diskussion Management oder Leadership, aber auch bei anderen Führungstheorien, wird das Thema Führung quasi als personenbezogenes Thema diskutiert, auf der Ebene, was einzelne Personen leisten. Die Organisation ist das Werkstück, an dem Führung ausgeübt wird, an dem die Führungskräfte herumbasteln. Also auf der einen Seite die Führung und auf der anderen Seite die Organisation in ihren Subeinheiten, die als Werkstück von denen bearbeitet werden, die Führungsverantwortung haben. Mein Zugang hingegen ist: Führung ist eine Funktion der Organisation und diese Funktion prägt eine Organisation mehr oder weniger gut aus, indem sie sich in die Lage versetzt, Leute zu gewinnen und zu qualifizieren, die dafür geeignet sind. Dazu benötige ich als Organisation in gut gehenden Zeiten andere Fähigkeiten auf der Personenebene als in Krisensituationen. Also wäre hier die Frage: Welche Herausforderungen stellen welche Anforderungen an die Personen, die in bestimmte Verantwortlichkeiten hineinkommen? Auf welchen Ebenen sind die wie ausgeprägt und was müssen Leute von ihrem Ausgangspotenzial her mitbringen, damit hier Lernen einen Sinn macht?

Eine Art Kompetenzmodell?

Man kann sich fragen: Was heißen bei uns diese sechs Dimensionen auf Ebene der Top-Manager, der Bereichsleiter, der Abteilungsleiter? Da könnte es z.B. für die Abteilungsleiterebene heißen: Strategie macht hier nicht sehr viel Sinn, denn die ist gesetzt. Es geht eher darum, wie setze ich sie gut um. Folglich liegt hier der Schwerpunkt eher im Effizienzthema in der Organisation, oder der Schwerpunkt ist, die Schnittstelle Innen – Außen besonders zu beobachten, oder es ist beides. Wenn man so eine Abteilungsleiterstelle zu besetzen hat, ist die Frage: Was sind die Kompetenzfelder, die da jemand mitbringen oder entwickeln muss? Denn der Leiter einer exponierten Business Unit ist in den sechs Dimensionen ganz anders unternehmerisch gefordert, da der in der Lage sein muss, seine Marktchancen zu erfassen und entsprechend auch Risiken einzugehen sowie sich strategisch gut zu positionieren als etwa ein Teamleiter im Controlling, der vor allem dafür sorgen muss, dass seine Leute die fachlichen Anforderungen und die Prozesse beherrschen.

Wir reden sozusagen von verschiedenen Aufgaben von Führung, bei denen man schauen kann, ob und wie sie von der jeweiligen Organisation und den einzelnen Funktionen in der Organisation im einzelnen wahrgenommen werden.

Genau. Ich vermeide gerne diesen Zinnober um den Unterschied von Management und Führung. Unterschwellig läuft da meist eine Auf- und Abwertung, Leadership ist toll, Management profan. Ich will lieber zeigen, dass Führung je nach Ebene eine anspruchsvolle und sehr herausfordernde Tätigkeit ist und dass es nicht so ist, dass die einen so wahnsinnig begabt und charismatisch sind und die anderen profane Verwalter.

Aber es gibt unterschiedliche Aufgaben auf den unterschiedlichen Ebenen und ebenso sehr unterschiedliche Typen, oder?

Ja, klar. Aber das hat nicht mit Management und Führung zu tun, sondern mit dem Level und dem Aufgabenprofil der Einheit. Wenn ich eine Truppe in der Buchhaltung führe, die dafür sorgt, dass rasch hochkomplexe Zahlen verarbeitet werden, dann muss der Leiter dort diese Fachleute führen können und dazu selbst relativ tief in der Materie verankert sein. Da sind die Führungsaufgaben ganz andere als wenn ich eine neue Business Unit führe. Da gibt es unterschiedliche Herausforderungen, die ich alle in diesen sechs Feldern wiederfinde. Sie bekommen aber ihre konkrete Ausprägung und Einfärbung aufgrund der dort konkret zu erfüllenden Funktion. Wenn Organisationen für einen bestimmten Bereich einen Leiter suchen, dann ist die klassische Denke, anzunehmen, dass diese Person in der Lage sein muss, alle diese Funktionen selber zu erfüllen. Das stimmt aber nicht: Diese Person muss vielmehr in der Lage sein, dafür zu sorgen, dass sie erfüllt werden. Manches muss sie selbst machen, manches muss sie zusammen mit den Leuten machen und manches kann sie komplett an die eine oder andere Stelle delegieren. Zum zweiten muss man im Auge behalten, dass Organisationen, so paradox das klingt, zwar Führung ausdifferenzieren, aber gleichzeitig das Beunruhigungspotenzial, dass sie sich mit dieser Führung hereinholen, unschädlich zu machen versuchen. Und einer der Mechanismen in Organisationen, Führung unschädlich zu machen ist, den Zweifel zu generieren und zu verbreiten, dass Leute, die Führungsaufgaben und Führungsverantwortung haben, diese Verantwortung nicht im Interesse der Organisation wahrnehmen. Sondern weil sie Karriere machen wollen oder irgendwelchen partikulären Erwartungen oben gerecht werden wollen, oder, oder, oder....

Dass das Eigeninteresse das Firmeninteresse überwiegt...

Ja, denn wenn man das Führungskräften legitimer Weise unterstellen kann, muss man ihre Impulse nicht wirklich ernst nehmen. Es gibt bestimmte Organisationsrealitäten und Kulturausprägungen, wo das plausibel ist und geglaubt wird. Wo die Grundüberzeugung genährt wird, dass man sich am besten für Führung eignet, wenn man ein Egomane ist und das möglichst gut kaschieren kann und einkleidet in effiziente Sorge für die Leistungsfähigkeit der Einheit, aber im tiefsten Inneren vor allem für sich selbst sorgt. Wenn in einer Organisation ein bestimmter Algorithmus drinnen ist, dass hier die erfolgreichen diejenigen sind, die gut unterscheiden können zwischen den formellen Legitimationsbeschreibungen und dem, worauf es für die Durchsetzung individueller Interessen besonders ankommt, und wenn genau diese Personen gefördert werden, dann kann man sich anschauen, was das für eine Auswirkung darauf hat, wie dort Führung ausgeübt wird. Das ist durchaus typisch für Großorganisationen, die ihre Kultur dem Kapitalmarkt verdanken, weil die geradezu darum gebaut sind, dass die Leute an der Spitze in der Lage sind, ihre persönlichen Interessen letztlich vor die Interessen des jeweiligen größeren sozialen Ganzen zu setzen, Stichwort Optionsprogramme. In gut geführten Familienunternehmen findet man diese Kultur überhaupt nicht, ganz im Gegenteil.

Ich betrachte das nicht unter gut oder schlecht. Aber man kann natürlich schon sagen, dass auf einer Zeitachse gesehen die Wahrscheinlichkeit, dass Unternehmen mit dieser Führungskultur über längere Zeiträume wirklich erfolgreich sind, sehr gering ist. Die Frage ist, ob die erzielte Rendite nachhaltig oder kurzfristig erzeugt ist, durch das Abstoßen von Geschäftsbereichen, die nicht entsprechen oder indem man desinvestiert oder Leute entlässt oder was immer. In solchen Organisationen lernen die Mitarbeiter, einerseits gute Miene zum bösen Spiel zu machen und gleichzeitig zu schauen, wie man für sich selber am besten sorgt. Über alle Ebenen hinweg. Das bringt keine wirkliche kollektive Leistungsfähigkeit zustande.

Wenn man das Gesagte zusammenfasst, wie könnte man dann die unterschiedlichen Führungsmodelle einordnen?

Die Grundunterscheidung ist relativ einfach: Die einen konzeptionalisieren Führung als das Zurichten von Organisation als Instrument von Zielen und Zwecken, die außerhalb gesetzt sind. Da hängt Führung halt an denen, die die Aufgabe haben, diese Zurichtung herzustellen. Das sind die personenorientierte Ansätze so wie die Leadership-Ansätze samt Heroisierung, letztlich auch die kapitalmarktorientierten Konzepte wie das Shareholder Value Denken, das auf dem Grundprinzip fußt, Unternehmensführung in diesem Sinn zu instrumentalisieren. Und letztlich auch alles, was die Business Schools und Management Sciences hier an Tools und Know How für das erfolgreiche Instrumentarisieren zur Verfügung stellen und wofür sie ihre Leute in den Case Studies trainieren. Hervorragend kritisiert hat das Henry Mintzberg. Und dann gibt es Konzepte, die Organisationen anders betrachten. Wenn man will, als lebendigen Sozialkörper, in dem Führung nicht etwas Externes ist, sondern eine interne Funktion, deren Aufgabe es ist, die Überlebensfähigkeit sicherzustellen, indem bestimmte Dimensionen bearbeitet werden.

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Prof. Dr. Rudolf Wimmer, Univ. Witten/Herdecke und osb international AG