Über die Illusion, alles von oben nach unten durchzusteuern

Mag. Dagmar Untermarzoner über Wege aus dem "Sandwichmanagement" - Mittelmanager als Organization Design Manager und "first movers" für Change Prozesse.

Die heute noch vorherrschende Grundidee im Verhältnis von Konzernen und dezentralen Einheiten ist, dass die Vorgaben zentral entwickelt und dezentral verteilt werden. Change findet top-down statt – entweder mit oder ohne aktive Involvierung der nachgelagerten Führungskräfte und Mitarbeiter. Damit geht die Vorstellung von Mittelmanagern als jenen Akteuren einher, die Anweisungen "von oben"  bekommen und diese dann "eigenverantwortlich", "unternehmerisch" und "inspirierend" umsetzen. Dies entspricht auch dem, was Mittelmanager die letzten 30 Jahre gelernt haben und bis heute lernen: Sie sind "das mittlere Management", was bedeutet, dass sie als sogenannte "Sandwichmanager" Übersetzer und Umsetzer sind und zwischen den Erwartungen der eigenen Mitarbeiter und ihrer Vorgesetzten zu vermitteln haben, was dann darin münden soll, die Erwartungen der Vorgesetzten erfolgreich umzusetzen. Wer dies nicht schafft, wird immer schneller "abgeschafft".

Top-Manager und ihre Mittelmanager in Konzernen erleben jedoch, dass diese Bilder immer weniger funktionieren. Das hängt mit mehreren Entwicklungen zusammen:

  • Dezentrale Einheiten haben zunehmend mehrere zuständige Top-Manager.  Matrixartige Organisationsstrukturen werden immer häufiger, weil Organisationen mit komplexeren Logiken und unterschiedlichen Märkten gleichzeitig umgehen müssen. Daher kommen oft verschiedene Anweisungen gleichzeitig auf eine dezentrale Einheit zu.
  • Lokale Einheiten leben verstärkt ihr Eigenleben – auch durch mehr Verantwortung –aus und hören ihren "Zentralen" immer weniger zu, "Ihr wollt ja, dass wir selbstverantwortlich agieren!" Lokale Einheiten müssen daher im Selbst- und Fremdverständnis als ganze Systeme betrachtet werden – nicht mehr nur als Teilsysteme.
  • Diese Systemhaftigkeit von dezentralen Einheiten hat Konsequenzen auf die Managementarbeit eines Mittelmanagers. Er soll gleichzeitig wie ein General Manager agieren (auf der expliziten Ebene - ausgesprochen) und gleichzeitig das tun, was die oben wollen (eben unausgesprochen) – er oder sie soll also beides gleichzeitig sein und bekommt somit widersprüchliche Identitätsangebote. Er soll "Entrepreneur" und "Follower" sein.

Damit wird deutlich, dass heute mehrere Illusionen über das Verhältnis von Konzern und Einheiten herrschen.

  • Die existierenden Bilder über die Rolle des Mittelmanagement sind eher hinderlich als förderlich. Mittelmanager sind keine Sandwichmanager mehr, sie sind ein Hybrid zwischen General Manager und "Umsetzungsbevollmächtigtem", sie managen gesamthafte Systeme ohne gesamthafte Vollmacht, sie sind "mächtig, eigenmächtig und ohnmächtig" gleichzeitig.
  • Change findet immer seltener Top-down statt. Die zündenden Ideen kommen immer öfter aus den dezentralen Einheiten. Sie sind "first movers", wie Ed Lawler (http://www.edwardlawler.com/tomorrows_org.htm)  sie nennt. Dezentrale Einheiten müssen auch psychologisch als gesamthafte Systeme verstanden werden und Steuerung muss "fraktal" gedacht werden.

"Change happens locally"

Forschungseitig kann belegt werden, was wir alle intuitiv beobachten, Steuerung ist komplexer geworden. Neue Studien, wie beispielsweise jene des Centers for Effective Organizations (University of California, http://ceo.usc.edu/ ) belegen, dass Veränderungsprozesse heute nicht mehr top-down verkündet werden können, sondern Change viel öfter in den lokalen bzw. dezentralen Organisationseinheiten stattfindet. Dabei ist das Phänomen der "first movers" besonders interessant. Dabei zeigt sich, dass Veränderungsimpulse häufig von den lokalen Einheiten und dem mittleren Management ausgehen. Sie beginnen in solchen Einheiten, in denen Manager gemeinsam mit ihren Mitarbeitern innovative und kollaborative Experimente starten und erfolgreich sind. Dadurch können sie sich auch am internen Markt als attraktive "dezentrale Arbeitgeber" etablieren, so andere Einheiten "anstecken" und durch diese Erfolge auch das Top-Management ermutigen, neue Wege zu gehen.

Mittelmanager, die durch Mut und Beständigkeit ihre Top-Manager für innovative Entwicklungen begeistern können, gibt es immer häufiger. Statt dem hierarchischen Steuerungsprinzip geht es daher zukünftig mehr darum, seitens des Top-Managements Arbeits- und Entscheidungsstrukturen zu schaffen, wo "first movers" und "dezentrale Veränderungsprojekte" miteinander vernetzt werden und so die Gesamtsteuerung einer innovativen Unternehmensentwicklung als kooperatives Management aufgesetzt wird (Galbraith 2009).

Was sind heute typische Anforderungen aus Konzernzentralen?

Das Verhältnis von zentralen Konzerneinheiten zu den lokalen, dezentralen Organisationen ist heute angespannter als früher. Einerseits gibt es deutliche Tendenzen zur Dezentralisierung von Verantwortung in lokale oder produktbezogenen Organisationseinheiten. Die Vorgangsweise ist allerdings oft recht "beherzt":  Die Konzernzentrale gibt Ziele vor, ernennt die Organisationseinheit als "selbstverantwortlich für die Zielerreichung", fixiert ein Budget, implementiert ein Reward System, das die Zielerreichung belohnt und setzt einen durch ein Assessment als Talent erkannten Manager ein. Alles Weitere muss dann eben in dieser Selbstverantwortung erreicht werden. Wird gezweifelt, dann wird seitens der Zentrale auch gleich am unternehmerischen Geist der "Kollegen" gezweifelt. Man setzt allenfalls noch ein entsprechendes Seminar zum Thema "Unternehmerisch Führen" auf, aber dann werden Ergebnisse erwartet.

Gleichzeitig beobachten wir eine Tendenz zur Zentralisierung. Spätestens seit der Wirtschaftskrise werden durch angespannte Kapitalstrukturen alle Unternehmensbereiche auf ihre Effizienz hin durchleuchtet. Dazu werden entweder interne Controlling-Abteilungen beauftragt oder einer der big players unter den Unternehmensberatungen geholt, eine Executive Steering Group eingerichtet und Daten aus den lokalen Organisationseinheiten gesammelt. Dabei werden finanzielle Daten ebenso wie soft facts mit Mitarbeiterbefragungen oder Teamanalysen erhoben, um sich in der Zentrale ein Bild über den "Zustand" der Einheiten machen zu können. Im engen Kreis des Executive Steering Group werden Entscheidungen getroffen, die dann von den lokalen Einheiten umzusetzen sind.

Obwohl diese beiden Managementansätze auf den ersten Blick diametral unterschiedlich sind, ist ihr Mindset ein ähnlicher: klassisch hierarchisch mit scheinbare partizipativen Teilelementen, die aber wirklichen Dialog verweigern. Es sind Managementansätze, die nach rationalen Prinzipien vorgehen, Management heißt Planung und Vorgabe, gute Mitarbeiter setzen um. Während die erstere Strategie im Eiltempo die Dezentralisierung auf hierarchische Weise umsetzt, "erholt sich" die zweite Organisation womöglich von einer Epoche partizipativer Managementmoden.

Das Verhältnis zwischen Konzernzentralen und "Töchtern" ist nicht zuletzt deswegen spannungsreicher geworden, weil verschärfend mit der Wirtschaftskrise die Anstrengungen des Top-Managements um "effiziente" Steuerung stärker werden und die Konzernmanager selbst als Person stärker unter Druck geraten. Gelingt eine Initiative nicht, sind sie oft selbst die ersten, die gehen müssen. Dies belegen alle aktuellen Personal-Studien, die vom höheren Risiko für Top-Manager ausgehen, selbst ganz schnell ausgetauscht zu werden. Unabhängig davon, wie berechtigt solche Vorgehensweisen erscheinen, erhöhen sie den Erfolgsdruck bei Managern. Die Folge sind verschärfte Spannungslagen zwischen den Managementebenen mit oft wechselseitigen Inkompetenz-Zuschreibungen.

Die Sichtweisen dieses Spannungsfeldes sind je nach Position des Auskunftsgebers meist sehr unterschiedlich. Wie beschreiben die dezentralen Einheiten heute typischerweise die Vorgaben?

Wenn es um Strategie geht:

  • Die kennen uns nicht. Dieses Strategiekonzept lässt sich bei uns nicht so realisieren. Das beginnt schon bei der unverständlichen Sprache, bei der Zusammensetzung der Daten und endet bei den Budgetvorgaben.

Wenn es um bereichsübergreifende Prozesse geht:

  • Wir würden ja mit den anderen kooperieren, aber DIE wollen nicht.
  • Es dauert alles so lange, man sitzt ewig in Arbeitsgruppen und es kommt nichts heraus.

Wie beschreiben zentrale Manager die dezentralen Organisationseinheiten:

  • Sie sind zu langsam, sie bewegen sich nicht.
  • Sie sind zu sehr mit ihren Leuten verbunden und unterstützen uns nicht.
  • Sie sind unfähig, haben zu wenig Durchsetzungs- und Managementpotential, wir sollten sie besser beobachten, austauschen?

Was sind typische Reaktionen darauf?

Es gibt typische Reaktionsmuster von lokalen Einheiten auf ihnen "unzumutbare" Konzernvorgaben.

  1. Abwarten: Die entsprechenden Aktionen werden hinausgezögert, es werden Daten und Meinungen geliefert, die belegen, dass die Ziele nicht erreichbar sind. Und: "Vieles haben wir einfach noch nicht verstanden."
  2. Andere beschuldigen: Man würde ja die Sache gleich in die Hand nehmen, wenn einen nicht die Abteilung X immer wieder behindern würde. Und über den Kollegen Y haben wir eh schon öfters gesprochen, da sollten wir uns wirklich was überlegen, der blockiert alle Initiativen.
  3. So tun als ob: Wir versuchen unser Bestes, aber es will nicht gelingen. Und übrigens hören wir von unseren Kunden, dass sie die neuen Vorgaben auch nicht gut finden. Habt ihr darüber schon mal nachgedacht?
  4. Neue Talente an Bord holen: Wir würden ja gerne, aber wir brauchen da wirklich einen Spezialisten dafür, wir sollten dem Kollegen Y eine Chance geben, der ist doch im High-Potential Programm positiv aufgefallen. Wenn wir das wirklich angehen wollen, muss der Kollege X  in eine andere Verwendung kommen, das haben wir schon lange deponiert.
  5. Kleine Ausreden erfinden: Hier finden sich alle Verzögerungstaktiken, die Umsetzungen hinauszögern: Der Zeitpunkt ist gerade schlecht im ersten Quartal, wo wir immer so viele neue Anfragen haben; das SAP System muss erst überarbeitet werden, damit wir aus unserer operativen Überlastung herauskommen; und ähnliche Hemmnisse.

All diesen Reaktionsformen ist gemeinsam, dass sie kollektive "Abstossungsreaktionen"  von instabilen Teil-Organismen sind, die dann entstehen, wenn es keine Arbeits-, Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen gibt, die zwischen den Managementebenen (vertikal) und zwischen den funktionalen Einheiten (horizontal) gebaut werden, um eben diese alle betreffenden Vorhaben zu bearbeiten. Es handelt sich also um streng hierarchische Steuerungsansätze, die meist auch mit der Sozialisation von Top-Managern als "lonely stars" zusammenhängen und deren Performance an der Geschwindigkeit der Durchsetzung gemessen wird. Was können mittlere Manager nun als Alternative zu diesen Reaktionsmustern tun?

Welche alternativen Handlungen sind möglich?

Gemeinschaftliche Auseinandersetzung im eigenen Bereich organisieren
Einer der ältesten und im Prinzip einfachsten Hebel zur Verarbeitung neuer Informationen und neuer komplexer Zusammenhänge ist es, sich in einer Gruppe gemeinsam zusammenzusetzen und die Dinge zu besprechen. So können Manager in ihrem Bereich einfach damit beginnen eine Kultur der Kooperation zu entwickeln, indem sie Räume und Situationen schaffen, wo man miteinander über die Konzernvorgaben spricht. Dabei ist zu erörtern: Was wollen die von uns? Was sind die Motive? Wen können wir einladen, damit er/sie uns mehr über die Hintergründe erzählt? Welche Wahrnehmungen haben wir im Moment zur Unternehmenssituation? Wie geht es uns mit diesen Vorgaben? Welche Hindernisse sehen wir? Haben wir die Möglichkeit "nein" zu sagen? Welchen Handlungsspielraum haben wir? Welche Unterstützung brauchen wir? Was genau sollen wir tun? Wer kann mit wem erste Überlegungen anstellen, wie wir die ersten Schritte machen?

Top-Manager zum Gespräch einladen
Viele Top-Manager wollen modern sein, das bedeutet, dass sie sich nicht in die Agenden ihrer nachgelagerten Management-Ebene einmischen und deren Ansehen durch die eigene Anwesenheit nicht schwächen wollen. Viele Top-Manager kommen ja aus einer Generation, wo ihnen selbst der Chef immer über die Schulter geschaut hat, auch wenn sie es nicht brauchten oder wollten. Diese gutgemeinte Haltung ist jedoch für heutige Anforderungen oft unabsichtlich mehr hinderlich als förderlich. Verstärkte Komplexität und Druck erfordern mehr hierarchieübergreifende Kooperation als noch vor 10 Jahren, allerdings nicht im Sinne einer hierarchischen Anweisung, sondern im Geiste einer gemeinschaftlichen Kooperation.

Oft ist es viel einfacher als gedacht: Man überwindet übertriebenen Respekt vor der Hierarchie, ruft einfach den zuständigen Vorstand an, bittet um Unterstützung und Hintergrundinfos und lädt ihn oder sie zu einem Gespräch mit den Managern  und Mitarbeitern ein. Diese Gespräche sollten jedoch sorgfältig moderiert und begleitet werden. Dabei ist es besonders wichtig, dass Inputs von Top-Managern in Kleingruppen verarbeitet werden mit Fragen (Was geht uns durch den Kopf? Welche Fragen tauchen auf? Welche Hindernisse müßten überwunden werden?) und dann von gewählten Gruppensprechern als Gruppenergebnis rückgemeldet werden. Bei diesem Setting ist besonders wichtig, dass nicht Einzelne sich exponieren, sondern in Kleingruppen diskutiert wird, wobei auch komplexe Informationen besser verarbeitet werden, und kritische Stimmen nicht mit übereilten Sanktionen rechnen müssen. Top-Manager sind mehrheitlich froh, wenn sie von ihren Organisationseinheiten eingeladen und in eine gleichzeitig wertschätzende und kritische Auseinandersetzung geholt werden. In der Regel berichten Top-Manager, dass sie dabei selbst viel erfahren und lernen.

Die eigene Organisation als ganze Einheit betrachten und das Organization Design gestalten
Ein inzwischen international anerkannter Zugang zum Thema Organisationsentwicklung scheint besonders aussichtsreich.  Der Ansatz des "Organization Design" versteht Organisationen und auch ihre Teile als bewußt zu gestaltendes Zusammenspiel von Strategie, Strukturen, Prozessen, People Management und "reward systems" (www.organizationdesignforum.com ). Ausgehend von der Erfahrung der letzten 30 Jahre kann zusammenfassend gesagt werden, dass erfolgreiche Organisationen explizit oder implizit immer an einem Zusammenwirken dieser Elemente gearbeitet haben. Unsere Erfahrungen in der Begleitung von Organisationen und Tochterfirmen zeigt, dass dieser Zugang, die eigene Teilorganisation als ein Gesamtes Ganzes zu denken, das wir als Teil der Organisation selbst "designen" müssen, überraschende Erfolgspotentiale freisetzt.

Mittelmanager können die Konzernstrategie als "unsere" Strategie aktiv neu formulieren und dabei die Eigenheiten der eigenen Organisation hineinpacken: Was bedeutet Qualitätsführerschaft eigentlich für die Leistungen in unserem Bereich? Wie können wir mit unseren Supportleistungen die Gesamtstrategie wirklich voranbringen? Welchen besonderen Nutzen können wir exzellent stiften? Wie müssen wir unsere Prozesse dazu anpassen? Wo müssen wir unsere eingespielten Strukturen überdenken? Worauf können wir aufsetzen und welche Kompetenzen müssen wir neu aufbauen? Wen müssen wir wie schulen und unterstützen? Wer kann uns schon heute dabei helfen?

Eine Möglichkeit, die oft unterschätzt wird, ist, die Personal- und Potentialentwicklung der Mitarbeiter selbst in die Hand zu nehmen: Wer bei uns kann etwas schon gut und wie könnte er/sie das den anderen Kollegen beibringen? Können wir einige Kollegen in die andere Fabrik schicken zu einer Learning Journey, damit wir sehen können, wie es dort gelingt? Wen könnten wir kurzer Hand aus der Zentrale einladen, damit er uns mehr Informationen und Techniken an die Hand gibt, das Thema anzugehen? Oder man bittet eine Gruppe, die neuen Dinge selbst durch Experimentieren zu lernen und stellt ihnen einen guten internen Moderator und Mentor zur Seite. Die Praxis zeigt, dass solche Einladungen und Anfragen meist positiv aufgegriffen werden und die Organisationseinheiten sich dabei besser vernetzen und mehr Anerkennung und Profil bekommen. Sie erleben, dass sie aus sich selbst heraus etwas bewirken können, was von einer "no chance" zu einer "we can"-Kultur beitragen kann, die ja überall so gerne eingefordert wird. So werden mutige MittelmanagerInnen – Leiter von Standorten, Regional-Leiter, Führungskräfte in der Entwicklung, Planung, HR und OE zu "first movern", die selbst wichtige Impulse für den gesamten Konzern geben.

Literatur:
Galbraith J. R. (2009): Designing Matrix Organizations that Actually Work. How IBM, Procter & Gamble, and Others Design for Success. San Francisco:  Jossey-Bass.

Autor: Mag. Dagmar Untermarzoner ist Mitinhaberin des Beratungsunternehmens Lemon Consulting.

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Mag. Dagmar Untermarzoner, Lemon Consulting