Karriere-Viagra gibt es leider nicht

Die Psychotherapeutin Mag. Inge Saval, Vorstandsmitglied der ÖAS, des Österreichischen Arbeitskreises für systemische Therapie, über die Angst zu scheitern und die Kunst genauen Zuhörens.

Frau Mag. Saval, was hat sich in den letzten Jahren aus Sicht einer Psychotherapeutin in der Arbeitswelt verändert?

Es gibt eine schleichende Veränderung in den gesellschaftlichen Bedingungen. Die Arbeitsverhältnisse werden unsicherer, kurzfristiger und die Berufsbiographien sind eckiger geworden. Das soziale Netz wird dünner, die Angst vor Arbeitslosigkeit steigt und damit auch die Angst vor dem Nicht-Gebraucht-Werden. Dazu kommt die Enttäuschung vieler Arbeitnehmer über die mangelnde Loyalität des Arbeitgebers, vor allem, wenn sie erfolgreiche Arbeit geleistet haben.

Die Angst zu scheitern ist sehr groß. Früher war der Sex das Tabu, heute ist es die Angst zu scheitern. In einer Zeit, in der ständig nur von ziel-, lösungs-, ressourcenorientiertem und positivem Denken die Rede ist, passt Scheitern nicht ins Konzept. Probleme zu haben ist irgendwie stigmatisiert, da haben die Systemiker wohl das ihre dazu beigetragen.

Braucht jetzt jeder einen Coach?

Diese Unüberschaubarkeit von Möglichkeiten und Optionen und das pluralistische Weltbild sind natürlich ein Nährboden für Beratung und Coaching. Das wird sicher weiter zunehmen. Therapie ist auch ein wichtiger Faktor, aber sie widerspricht diesem Veränderung-muss-schnell-gehen-Denken. Das ist eine Diskrepanz. Einerseits bezeichnen Begriffe wie quarter life crisis, middle life crisis, later life crisis alle Übergangsphasen - und Übergangsphasen brauchen Zeit – andererseits hat jeder das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben.

Was haben die Leute früher getan, als es noch keine Coaches und Berater gegeben hat?

Erstens war das Netz der persönlichen Beziehungen, auf das man zurückgreifen konnte, häufig ein anders als heute. In vielen Fällen gab es auch einen stärkeren familiären Rückhalt  und vor allem, die Welt war übersichtlicher. Es gab nicht dieses heutige Gewirr von Möglichkeiten mit tausend Fäden, wo keiner mehr weiß, wo er anziehen soll. Die Möglichkeiten waren überschaubarer, eingeschränkter, was Nachteile, aber auch Vorteile hatte. Heute herrscht ein Leiden an der Unübersichtlichkeit und an der Überinformiertheit. Wobei ja bei dieser Unübersichtlichkeit immer die Frage ist, was von diesen scheinbar zahllosen Chancen tatsächlich umsetzbar wäre.

Da gerade Manager dazu neigen, ihre Lebensziele auf Beruf und Leistung aufzubauen, fallen die anderen Teile der Persönlichkeit weg. Beruf und Leistung fordern alle Energien, physische und psychische Gesundheit sowie das Privat- und Gefühlsleben treten in den Hintergrund. Wenn dann Defizite in diesen Bereichen spürbar und unübersehbar werden, tritt oft eine massive Verunsicherung ein.

Was sind nun die Lösungsvarianten, was kann man konkret tun?

Zum Teil muss man sichern die Lebenshaltung ändern, aber zum anderen ist es nicht gut, wenn man nur in einem Lebensbereich ansetzt und seine ganze Hoffnung auf ein persönliches Coaching setzt, oder alle Hoffnung auf Gesundheit und Wellness, oder sich voll ins Privatleben stürzt, es ist eine Mischung aus allem. Man kann zumindest einmal ein Inventar erstellen, wo stehe ich in welchem Bereich - Persönlichkeit, Gesundheit, Gefühle, Privatleben, Beruf und Leistung - was wünsche ich mir, dass wo anders wird?

Man kann ein persönliches Belastungsinventar aufzeichnen und auch ein persönliches Kraftfeld- bzw. Resourceninventar. Wo geht es mir gut, was fehlt mir, was überdauert Veränderungen, wo muss ich gefasst sein, dass sich sehr schnell etwas verändert, was belastet mich am meisten? Es gibt dieses abgedroschene „die Krise als Chance“. Durch diese Unsicherheiten können auch neue Möglichkeiten erlebt werden. Manchmal muss man anstehen, bevor man wieder weiterdenkt.

Kommen Manager überhaupt in Therapie?

Die meisten dieser Klienten sind Überweisungen von Ärzten, die zum Patienten sagen, ich weiß nicht, was Sie haben, gehen sie mal zum Therapeuten. Oder es steht definitiv drauf: leichte bis mittelgradige Depression, Antriebslosigkeit, Appetitlosigkeit, unerklärliche Müdigkeit, Konzentrationsschwächen etc. Die Überweisung in die Therapie geht also nach wie vor über die Arztpraxis, es kommt kaum jemand selber auf die Idee, Therapie in Anspruch zu nehmen. Zum Coaching kommen Manager auch von sich aus, meist über Mundpropaganda.

Wobei - das, worüber wir reden, dieses Sich-Neu-Ausrichten-Müssen, ist ja nicht nur ein Phänomen der Wirtschaft. Das gibt es derzeit in allen größeren Institutionen und Systemen, vor allem im öffentlichen Bereich, den Schulen, den Krankenhäusern, den Behörden.

Überall da wo das Umfeld anfängt, sich zu verändern....

Es hat sich vielerorts schon verändert und die Menschen realisieren es erst jetzt. Da ist der Zug tatsächlich schon in eine andere Richtung gefahren und sie stehen noch immer auf dem alten Gleis und glauben, der kommt irgendwann wieder. Aber kommt nicht mehr. Es übernimmt niemand anderer mehr die Verantwortung für dich.

Nun steht der Suchende einer Unzahl von Angeboten gegenüber und weiß wieder nicht, was er tun soll.

Das Angebot kann deshalb so wachsen, weil die Unsicherheit in den letzten Jahren so zugenommen hat. Ich glaube, dass das Beratertum zu einem Teil das Fehlen menschlicher Beziehungen abdeckt. Was früher der gute Nachbar war oder der gute Freund, mit dem man stundenlang telefoniert hat, oder die gute Freundin, oder vielleicht auch der Pfarrer, zu dem man beichten gegangen ist und dabei versucht hat, sein Leben zu ordnen, das ist heute der Therapeut und der Berater. Das sind sozusagen verlässliche Beziehungen und Termine, die eingehalten werden, während der Freund keine Zeit hat oder selber in eine Krise ist. Da ist noch Verlässlichkeit zu finden, allerdings bezahlter Weise.

Was machen nun diejenigen, die sich keine Therapie oder Coaching leisten können?

Eine Plus/Minus-Inventarliste und sich die verschiedenen Bereiche seines Lebens anschauen, das kann jeder. Man kann sich fragen: was funktioniert, was funktioniert nicht, was könnte ich verbessern, womit muss ich derzeit leben? Man kann viel für sich tun, das wenig Geld kostet. Lesen kann jeder, oder im Internet suchen, da stehen gute Artikel drinnen und man wird dort viele Angebote finden, wo Fragen formuliert sind, um die es dann z.B. im ausgeschriebenen Seminar geht. Diese Fragen kann man sich heraus holen, darüber nachdenken, sie mit Freunden besprechen und sie so für sich nutzen. Um mich mit meiner Gesundheit zu beschäftigen, muss ich keinen Wellnessurlaub machen oder zu einem chinesischen Heiler gehen.

Das eine ist, ein Stückchen Ordnung in die Gedanken und Probleme zu bringen und sich andererseits auch der Resourcen bewusst zu werden, die da sind. In mir selbst und in meinem Umfeld. Außerdem ist es nicht so, dass die Menschen völlig beziehungslos dastehen. Man kann darüber reden, was einen belastet. Mit einem Freund, einem Kollegen. Oft muss man sich dazu allerdings einen Ruck geben.

Die Frage ist, ob man sich traut. Viele Beziehungen werden ja immer oberflächlicher, oder?

Ja, ein großes Problem ist heute, dass sich die Menschen genieren, über Probleme zu reden. Man redet nur über Erfolge und Ziele. Aber irgendwo muss die Kehrseite auch Platz haben, das, worunter ich leide, was derzeit für mich unlösbar ist. Sogar in der Therapieausbildung werden Ausbildungskandidaten dazu angehalten, gleich zu Beginn zu fragen: Was soll hier passieren, damit Sie nachher ein kleines Stück Ihres Zieles erreicht haben? Das ist in meinen Augen eine massive Überforderung, denn die meisten kommen ja, weil sie genau das nicht wissen.

Mittlerweile geht die systemische Therapie und Beratung z.B. im narrativen Ansatz, der um sich greift, ganz weg davon. Hier steigt man einfach in Lebenserzählungen ein und der Berater hat die Aufgabe, ganz genau hinzuhören und zu schauen, wo könnte man Lebensereignisse ganz anders sehen, wo kann man Ziele entdecken, die der andere noch nicht sieht und wie kann man dann an dieser Stelle nachfragen. Bis dahin vergehen möglicherweise Stunden der Erzählung und des aufmerksamen Zuhörens.

An bestimmten Stellen der Erzählung kann man vielleicht auch einen neuen Film über das Leben drehen. Wo etwa jemand die Überzeugung hat - das hat mich sehr negativ geprägt, darüber komme ich nicht hinweg, aus dem Grund bin ich nicht erfolgreich – kann man schauen, was hat er daraus mitgenommen, was hat er daraus gelernt, warum lebt er dennoch? Das war zwar früher in der systemischen Therapie auch üblich, aber viel direkter, oft holzhammerartig. Gleich nach dem ersten Problem und Kindheitstrauma – peng, die Frage: Was haben Sie daraus gelernt? Das geht so nicht. Die Psyche ist viel zu feinstofflich, dass man da so agieren kann.

Das Zuhören ist eine große Qualität in einer Krise. Im Erzählen ordnen sich oft die Gedanken. Diese Qualität gibt es im privaten Bereich auch, da muss man nicht gleich zum Coach gehen. Es kann auch reichen, zum Telefon zu greifen und einen Freund zu fragen, hast du ein wenig Zeit für mich, ich möchte dir etwas erzählen. Vielleicht kannst du mir einfach nur zuhören. Viele Menschen tun sich schwer, diese Schwelle zu überwinden.

Frau Mag. Saval, vielen Dank für das Gespräch.

12.2003

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Mag. Ingeborg Saval