Die Dynamik von Innovation und organisatorischem Wandel

Die Geschichte einer beinahe unterbliebenen Innovation der amerikanischen Marine verdeutlicht die Probleme, mit denen neue Ideen in bestehenden Organisationen zu kämpfen haben. Heute genauso wie vor hundert Jahren.

Eines der ältesten historisch belegten Beispiele, die die Reaktion von Führungskräften auf die Herausforderung durch Innovation und Wandel beschreibt, stammt von der amerikanischen Marine und dreht sich um die Entwicklung und Akzeptanz einer relativ einfachen Innovation, ein Geschütz mit kontinuierlicher Zielnachfassung. Diese Innovation bedeutete dramatische Fortschritte bei der Bewältigung  einer der wichtigsten Aufgaben der Marine, dem zielsicheren Treffen und Versenken gegnerischer Schiffe. Und doch wäre es zu dieser Innovation beinahe nicht gekommen.

Der Beste aller Schlechten

Kanonenschüsse mit Geschützen, die an Deck eines sich ständig in Bewegung befindlichen Schiffes fest installiert sind, sind keine leichte Aufgabe.1898 waren Schiffskanonen geradezu berüchtigt für die geringe Trefferquote. In einer Untersuchung stelle das Bureau of Ordnance (die F&E Gruppe der Marine) fest, dass von 9500 Kugeln im Durchschnitt nur 121 ihr Ziel erreichten! Dennoch wies die amerikanische Marine im Vergleich zu den Gegnern den höchsten Leistungsstandard auf. D.h. keine andere Marine war zu besseren Geschützleistungen auf See imstande.

Die geringe Trefferquote wurde als notwendiges Übel in Kauf genommen, bis Admiral Percy Scott von der britischen Marine ein Kanonenschütze auf seinem Schiff auffiel, der mit seiner Trefferquote weit über der Norm lag. Nach sorgfältiger Beobachtung erkannte Scott, dass der Schütze die Rollbewegungen des Schiffes instinktiv berücksichtigte, wenn er ein Ziel ins Auge fasste. Daraufhin ließ der Admiral die Kanone auf einer Hebevorrichtung installieren, was die Anpassung ans Ziel erleichterte. Mit der neuen Technik erhöhte sich die Trefferquote auf Scotts Schiff um mehr als 3.000 Prozent!

Admiral Scott war Erfinder, aber kein "Produkt-Champion". Er sorgte für die Nachrüstung seines Schiffes, zeigte aber keinerlei Interesse, andere Offiziere der britischen Marine zu derselben Umstellung zu veranlassen. Allerdings teilte er die Innovation einem gewissen Leutnant Sims, einem jungen amerikanischen Marineoffizier, mit.

Sims ließ sich schnell überzeugen und begann, umfassendes Material zur Effizienz und Präzision der Innovation zusammenzutragen. Er sandte detaillierte Berichte an das Bureau of Ordnance, erwartete eine schnelle Antwort, hörte aber nichts von dort. Der Bericht wurde ignoriert. Schließlich konnte ein junger Offizier, irgendwo im südchinesischen Meer patrouillierend, kaum mehr von Geschützen verstehen als die Experten aus der Forschungsabteilung der Marine. Aber Sims sammelte weiterhin Daten und schickte unverdrossen weiterhin Berichte. Angesichts des andauernden Schweigens begann Sims, die Berichte auch an andere Schiffsoffiziere zu verteilen. Irgendwann wussten so viele Leute davon, dass sich das Bureau zu einer Stellungsnahme veranlasst sah.

Zunächst wies man mit vermeintlich vernünftigen Argumenten darauf hin, dass die Innovation gar nicht so funktionieren könne wie behauptet. Zudem gebe es gar kein Problem bei der Treffergenauigkeit der amerikanischen Marine. Und wenn, dann beträfe das eher die Schützen und ihre Ausbildung, nicht aber die Geschützeinrichtung als solche. Als die Öffentlichkeit von der Kontroverse Wind bekam, war das Bureau gezwungen, Sims Konzeption zu testen. Dabei wurde eine Kanonenplattform eingesetzt, die fest auf trockenem Boden verankert war. Weil damit das Rollen des Schiffes nicht berücksichtigt wurde, "bewiesen" die Ergebnisse allem Anschein nach, dass eine Geschützeinrichtung mit kontinuierlicher Zielnachfassung nicht möglich war.

Die gegenseitigen Beschimpfungen eskalierten und um Sims Karriere war es geschehen. Schließlich unternahm er noch einen bemerkenswerten Versuch, den ganzen Fall zu dokumentieren und seinen Bericht direkt an Theodore Roosevelt, den Präsidenten zu schicken. Erstaunlicherweise las der Präsident tatsächlich den Bericht, erkannte das Potenzial der Innovation, holte unter Missachtung der in der Marine üblichen Gepflogenheiten und der ganzen Hierarchie Sims nach Washington und setzte ihn als Inspektor für die Zielpraxis ein: Er ordnete in der gesamten Marine den Einsatz von Kanonen mit kontinuierlicher Zielnachführung an und Sims erhielt den Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Anordnung befolgt wurde.

Warum dieser Widerstand?

Interessanterweise kam der massivste Widerstand genau von den Leuten, von denen ein Außenstehender am ehesten Einsicht in die damit verbundenen Vorteile erwartet hätte. Warum? Es gibt mehrere Gründe. Erstens war Sims als "Produkt-Champion" ein Mensch, der anders war als andere – ein Offizier niedrigen Ranges am äußersten Rand der Organisation; zudem verhielt er sich intolerant gegenüber der Bürokratie und Hierarchie der Marine; er fügte sich nicht in die Kultur und Traditionen der Marine ein, wo vor allem Loyalität und Gehorsam zählen. Da er keine Macht und Einfluss hatte, wurde er schnell als "hirnrissiger Egoist" und "Tatsachenverdreher" abgestempelt.

Zweitens wehrte man sich gegen die Innovation, da mit solch einer Einrichtung (zumindest aus Sicht der Marine-Hierarchie) keine dringenden organisatorischen Probleme gelöst wurden, zumal der Dienst auf See kürzlich durch andere technologische  Veränderungen (Dampfturbine und Elektromotoren) erschüttert worden war. Eine glorreiche erfolgsgekrönte Vergangenheit, die Verkennung der Trefferproblematik, ein hervorragendes Abschneiden im Leistungsvergleich und andere vordringliche Veränderungen hatten zur Folge, dass Sims und seine Innovation beiseite geschoben wurden.

Drittens hatte die Marine als Organisation eine Kultur entwickelt, in der Mut, Tapferkeit und Feindberührung als Tugenden geschätzt wurden. Die Einführung der Innovation hätte bedeutet, dass die Schlachten aus weiter Entfernung geführt würden. Die Innovation würde also Strategie und Taktiken der Kriegsführung auf See verändern. Die Kernwerte der Marine verlören an Bedeutung.

Viertens würde die Einführung des neuen Geschützes die Bedeutung der seit jeher entscheidenden navigatorischen Fähigkeiten und damit die Macht des Kapitäns und seiner Navigationsoffiziere mindern, denn nun kam es auf die neuen Kenntnisse des Artillerieoffiziers an.

Und schließlich war das Bureau of Ordnance die offizielle Hochburg für kanonentechnologisches Wissen. Mit der Einführung eines neuen Geschützes hätte die Marine zugeben müssen, das ihre Kompetenz geringer war als bisher angenommen. Dass die Entwicklung auch noch von einem rangniedrigen und als unkonventionell bekannten Offizier kam, galt zusätzlich als Beleidigung. Die Marine als eine traditionell erfolgreiche Organisation hatte Strukturen, Systeme, kulturelle Werte und Führungsgepflogenheiten entwickelt, die aufeinander abgestimmt waren. Sims und seine Innovation bedeuteten eine Bedrohung für den status quo.

Lektionen für Manager von heute

Die 3.000 %ige Erhöhung der Treffersicherheit war nicht Resultat der Grundlagenforschung bzw. einer neuen Technologie, sondern die von einem Praktiker stammende Erkenntnis, dass vorhandene Technologien kombiniert und zur Erzielung beträchtlicher Leistungssteigerungen eingesetzt werden können.

Die Innovation resultierte aus dem Zusammentreffen eines Zufallsereignisses mit einer aufgeschlossenen Führungskraft. Scott war Kommandant eines Schiffes, auf dem sich die Schützen frei fühlen konnten, eigenmächtig etwas auszuprobieren. Dieses Experimentieren führte letztlich zu einem Vorfall, den Scott beobachtet und der Entwicklung seines neuen Geschützes zugrunde gelegt hatte. Scotts Einheit war von einer Kultur geprägt, die nicht auf strikter hierarchischer Autorität bestand, sondern Innovation und Wandel förderte.

Solange Erwartungshaltung und Leistung nicht auseinander klaffen, wird ein erfolgreiches System aktiv um die Wahrung seiner Stabilität bemüht sein. Um der Tyrannei des Erfolgs zu entgehen, müssen Manager zuweilen gerade in Phasen des Erfolgs Leistungsdefizite beziehungsweise Möglichkeiten zur Leistungssteigerung schaffen. Da im obigen Fall keine Krise anstand, galt eine Verbesserung der Trefferquote als nicht hinreichend vordringlich, um die Marine aus ihrer Trägheit zu reißen. Hätte die Marine durch gegnerischen Beschuss viele Schiffe verloren, wäre die Reaktion mit Sicherheit anders ausgefallen.

Wichtig ist auch die Feststellung, dass der Widerstand, der Sims entgegengebracht wurde, das ganze System durchzog. Die ganze Marine mit ihrer Struktur, Kultur, Tradition wehrte sich. Bemerkenswerter Weise setzten sich Innovation und Wandel sehr rasch durch, als der oberste Chef aktiv wurde. Es dürfte kein Zufall sein, dass sich 90 Prozent der Unternehmen in Anbetracht revolutionärer Veränderungen erst unter Leitung eines neuen Topmanagements zu einer Neuorientierung entschließen.

Einerseits müssen Manager darauf achten, dass sich kein Widerstand gegen Wandel ausprägt, andererseits sollten sie aber auch die erheblichen Vorteile zu schätzen wissen, die eine robuste, stabile, zuverlässige Organisation zu bieten hat. Ordnung, Stabilität und Disziplin führen sowohl in militärischen Auseinandersetzungen als auch im kommerziellen Konkurrenzkampf zum Sieg. Einer Marine, in der es zu viele Offiziere wie Sims gibt, fehlt unter Umständen die richtige Koordination, um effektiv agieren zu können. Von 100 brillanten Ideen sind vermutlich nur 10 echte Champions. Die Schwierigkeit ist, die einen von den anderen zu unterscheiden - oft weiß man das erst im nachhinein.

Quelle: entnommen aus dem Buch: Michael Tushman: Innovation ist machbar (leider vergriffen) Original: Winning through Innovation (erhältlich)

10.2002

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