Das Gore Konzept

Die Firma W.L. Gore & Associates gründet ihre Innovationsfähigkeit und ihre Erfolge auf eine faszinierende Unternehmens-Philosophie, deren Grundsätze und Spielregeln in dieser Form wohl in keinem Management-Lehrbuch zu finden sind.

Wie in Großkonzernen üblicherweise gearbeitet wird, hatte Wilbert L. (Bill) Gore bei DuPont selbst miterlebt. Da diese Prinzipien aber mit Gores Vorstellungen nur wenig gemein hatten und er bei dem Material, an dessen Entwicklung er bei DuPont mitgearbeitet hatte, noch große, bislang unentdeckte Möglichkeiten sah, entschloss er sich 1958 mit seiner Frau Vieve, selbst eine Firma zu gründen, um die eigenen Ideen voranzutreiben.

Ein Material – tausende Möglichkeiten

Als Basis diente ihm dabei ein Kunststoff mit dem sperrigen Namen Polytretrafluorethylen, kurz PTFE. Elf Jahre nach der Firmengründung entdeckte Gores Sohn Bob, damals Chemiestudent und später Präsident der Firma, dass PTFE im gedehnten Zustand eine Vielzahl außergewöhnlicher Eigenschaften besitzt - heute ist dieses "gereckte" PTFE weltweit bekannt unter dem Markennamen "Gore-Tex". So ist die PTFE-Membran unter anderem atmungsaktiv, wasserdicht, resistent gegen Säuren und verfügt über eine hohe Thermo- und elektrische Isolationsfähigkeit. Auf Basis dieser Eigenschaften und der Leitfrage - wo lässt sich dieses Material überall einsetzen - entstanden seitdem tausende Produkte in den vier Geschäftsfeldern Kabeln, medizinische Implantate, Fasern und Funktionstextilien.

Mittlerweile ist Gore ein multinationales Unternehmen mit etwa 6000 Mitarbeitern in 46 Werken weltweit. Dennoch herrschen bei Gore ein Geist, eine Arbeitsweise und Strukturen, die vielen bei einem Unternehmen dieser Größe befremdlich erscheinen mögen.

Ab 150 Personen wird geteilt

Als einen der wichtigsten Erfolgsfaktoren sahen Bill und Vieve Gore die direkte Kommunikation aller Mitarbeiter an. Die aber unterliegt einer natürlichen Begrenzung. Ab einer Größe von ca. 150 Mitarbeitern wird es unmöglich, mit Arbeitskollegen schnell und unmittelbar zu kommunizieren und sich umeinander zu kümmern. Um dem entgegenzuwirken, ist die Größe der einzelnen Werke auf 150 (im Schichtbetrieb auf 200) Personen begrenzt. Geht es darüber hinaus, wird ein neues Werk gebaut oder ein Teil der Arbeit in ein anderes Werk verschoben. Ulrich Loth, der bei Gore den Rechtsbereich in Europa aufgebaut hat: "Bill Gore wollte, dass möglichst viele wissen: Was macht denn der andere, wie heißt er mit Vornamen, was ist sein Beitrag zum Erfolg des Werkes und des Business, das wir hier betreiben? Das geht nur, wenn Sie schnell und unkompiziert miteinander reden können und das wiederum geht nur bis zu einer bestimmten Zahl von Mitarbeitern."

No ranks, no titles

So lautet ein weiteres Credo bei Gore. Starre Organisationspläne oder Stellenbeschreibungen sucht man hier vergeblich, da sie sich, wie es Heinrich Flik, früheres Mitglied im Board of Directors formuliert "auf Strukturen konzentrieren, statt unternehmerische Verhaltensweisen und innovative Prozesse zu fördern". Außerhalb des Unternehmens kann diese unklare Zuordnung zu bestimmten Positionen zwar mitunter Probleme bereiten, etwa wenn der Gesprächspartner, ein hochrangiger Konzernmanager, wissen will ob er einem gleichrangigen Gesprächspartner gegenübersitzt. Doch bei Gore wird das wie so oft ganz pragmatisch gelöst: Jeder Mitarbeiter hat unterschiedliche Visitenkarten, auf die er nach Lust und Laune unterschiedliche Titel schreibt.

Zudem hat diese Firma nach ihrem Selbstverständnis gar keine Mitarbeiter. Denn da jeder Mit-Arbeiter auch Mit-Eigentümer der Firma ist – für jeden Mit-Arbeiter werden jedes Jahr 11 Prozent des Bruttogehalts in Aktien des Unternehmens angelegt – gibt es bei Gore auch nicht den Begriff Mitarbeiter, sondern nur Teilhaber (associates).

To make money and have fun

Das Unternehmensziel von Gore ist kurz und bündig. Geld dient dabei als Maßstab des Nutzens, den die Kunden und Endverbraucher aus den Produkten beziehen. Es ermöglicht den Mitarbeitern ihr Einkommen und dem Unternehmen, in seine Zukunft zu investieren. Spaß bedeutet vor allem, dass die Teilhaber etwas tun, das ihnen wichtig und lohnend erscheint. Da das hierarchische Prinzip von Befehl und Gehorsam abgelehnt wird, rückt das Self-Commitment der Mitarbeiter in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: "Jeder bestimmt seine eigenen Verpflichtungen selbst und hält sich daran. Wir organisieren uns um freiwillig übernommene Aufgaben."

Das Prinzip Freiheit

Gore ermuntert die Teilhaber aktiv, in Bezug auf "Wissen, Fähigkeiten, Verantwortungsbereich und Aktionsrahmen zu wachsen". Bei Gore ist das weit mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis. Es gibt unzählige Geschichten von Mitarbeitern, die sich über ihr ursprüngliches Tätigkeitsfeld weit hinaus entwickelt haben, ermutigt und unterstützt durch ihre "Sponsoren". Ob nun der Buchhaltungsexperte seiner Radleidenschaft frönen und an der Entwicklung neuer Radtextilien mitarbeiten will, der Personaler seine Leidenschaft für die EDV entdeckt oder der Controller neben Zahlen auch mit Menschen arbeiten will und ein neues Training konzipiert - bei Gore ist es kein Problem, eigene Ideen weiter zu verfolgen, Mitstreiter zu finden und daraus ein neues Projekt zu machen. Vorausgesetzt, einige wenige Prinzipien werden eingehalten:

Erstens darf gemäß dem eigenen Commitment die bisherige Arbeit nicht einfach vernachlässigt werden. Das heißt, der Teilhaber hat dafür zu sorgen, dass das daily business weiter funktioniert, entweder indem er sich Unterstützung organisiert, oder – je nach Wichtigkeit des Projekts für das Unternehmen – jemand Neuer eingestellt wird. Zum zweiten hat jeder potenzielle Projektleiter sein Konzept am Prinzip der "Waterline" zu messen.

Waterline

"Hinter diesem Prinzip steht das Bild eines Schiffes", erklärt Ulrich Loth. "Wenn über der Wasseroberfläche ein Loch gebohrt wird, gefährdet uns das nicht, weil wir bei unserem ständigen Bemühen um Innovationen auch Fehler akzeptieren müssen. Löcher unter Wasser würden unser Schiff aber versenken. Daher schreibt das Waterline-Prinzip vor, dass bei jeder Handlung, die den Erfolg, den Ruf oder das Überleben der Firma gefährden könnte, der Teilhaber sich mit anderen geeigneten Teilhabern beraten wird, die die Verantwortung mit ihm teilen können.“ Als Richtschnur dienen zwei Fragen:

  • Wenn ich es versuche und Erfolg habe, wird es die Anstrengung wert gewesen sein?
  • Wenn ich es versuche und es schlägt fehl, kann ich/können wir das dann verkraften?

Ein Ja auf beide Fragen, bedeutet "über Wasser" und "grünes Licht". Ein Nein auf die erste Frage heißt gewöhnlich Abbruch, da die Resourcen vermutlich woanders besser eingesetzt wären. Ein Nein auf die zweite Frage heißt "unter der Wasserlinie" und bedeutet damit ebenfalls Abbruch. Sollten keine Möglichkeiten mehr gefunden werden, das Risiko zu verringern, wird das Vorhaben aufgegeben.“

Sponsorship – Leadership

Nicht minder spannend ist das Führungsverständnis bei Gore: Unterschieden wird zwischen Sponsorship und Leadership. Sponsorship bezieht sich auf eine 1:1 Führungsbeziehung und ist personenbezogen, Leadership auf eine 1:viele Führungsbeziehung und ist businessbezogen. Beim Einstieg ins Unternehmen bekommt jeder Mitarbeiter einen "initial Sponsor", vergleichbar den Paten- oder Mentorenkonzepten anderer Unternehmen. Dazu hat jeder Mitarbeiter aber noch einen weiteren Sponsor, der für ihn gehaltsmäßig, entwicklungsmäßig und in Bezug auf Fachwissen verantwortlich ist. Dieser Sponsor dient als zentraler Ansprechpartner und Förderer, er berät, gibt ehrliche Rückmeldungen, beurteilt Stärken und Schwächen, sucht gemeinsam mit dem Sponsee nach den idealen Einsatzbereichen und unterstützt bei der Entwicklung. Diese bei Gore sehr wichtige Funktion kann vom Sponsee aber auch jederzeit wieder aufgekündigt werden, wenn er das Gefühl hat, nichts mehr profitieren oder lernen zu können. Es steht ihm frei, einen neuen Sponsor suchen.

Der "natürliche Führer" wird, so die Haltung bei Gore, automatisch durch seine Anhänger bestimmt. Er/sie tritt dann ins Bild, wenn seine /ihre Leistungen und Fähigkeiten von den anderen Teilhabern anerkannt werden.

Der Beste in beidem geht nicht

Der Begriff des Business-Leaders meint hingegen jene Leute, die die Geschäfte führen, die Geschäftsziele definieren und Umsatz und Gewinn verantworten. Ulrich Loth: "Wir haben gelernt, dass, wenn jemand sehr stark auf der Leadership-Ebene ist, er meistens eher schwach ist auf der Sponsorenebene. Viele Leader haben die Fähigkeit, gute Geschäftsentscheidungen zu treffen, die das Unternehmen voran bringen und sie können gut ganze Gruppen motivieren und anstacheln, aber sobald Sie Einzelnen direktes Feedback geben und beispielsweise sagen müssen - deine Leistung passt nur mehr bedingt ins Team, magst du deine Stärken nicht da und da mehr auskosten? -  kriegen sie das nur schwer hin. Nicht alle Leader sind gute Sponsoren und gute Sponsoren sind keineswegs immer gute Leader. Wir agieren nach dem Prinzip: Jeder soll das machen, was er am besten kann. Daher ist es auch schon vorgekommen, dass jemand, der Businessleader geworden ist, nach einiger Zeit zu seinem Sponsor gegangen ist und gesagt hat, 'Ich habe große Probleme mit dem Job. Ich kann nicht mehr schlafen, es reibt mich auf. Ich will das nicht' und dann ist es auch kein Problem, den Job wieder sein zu lassen."

Der entscheidende Qualitätsunterschied zu anderen Unternehmen liegt wohl in der hohen Qualität der Kommunikation, enorm gefördert durch dieses Sponsor-Konzept. Wenn jeder jeden kennt, gegenseitige Unterstützung und ehrliche, offene Kommunikation nicht nur ein hoch gepriesener Wert, sondern täglich erfahrene Realität sind, die Führungskräfte dabei unterstützen, Freiräume zu eröffnen, statt einzuschränken und der eigene Beitrag von den anderen auch wahrgenommen und explizit gewürdigt wird, dann stimmen nicht nur Motivation, Kreativität und Leistung, dann macht die Arbeit auch wirklich Spaß. Und das können wohl nicht viele Firmen derart überzeugend nachweisen.

Autor: Peter Wagner

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