"Führungskompetenz ist immer weniger an die Position gebunden"

Dr. Martin Hagenlocher, Geschäftsführer des Chemie- und Pharmakonzerns Bayer in Österreich, über das konzernweite Leistungsbeurteilungssystem und seine persönlichen Beobachtungskriterien bei der Beurteilung seiner Führungskräfte.

Herr Dr. Hagenlocher, wonach beurteilt der Konzernvorstand von Bayer die Leistung seiner Country Manager, welche Kriterien legt er an?

Wir haben im Konzern im Moment einen Umbruch. Wie viele Unternehmen kamen wir von einem klassischen MbO-System. Im Jahr 2004 wurde bei Bayer ein weltweites Leitbild erarbeitet, aus dem dann Leadership Prinziples abgeleitet wurden. Dieses neue Konzept sieht nun so aus, dass die Leistungsmessung meiner Funktion auf zwei Ebenen erfolgt: einerseits anhand der klassischen Zielerreichungen, die stark an finanziellen Zielen hängen und über eine Balanced Scorecard abgebildet werden. Diese Ziele dienen als Basis des short term incentive, des Jahresbonus. Parallel dazu gibt es besagtes Set der Leadership Principles, wo  es darum geht, wie Führung tatsächlich gelebt wird. Dieser Teil fungiert dann als Basis für die nächsten Karriereschritte, die persönliche Entwicklung. Insofern sind die Führungsfertigkeiten und -fähigkeiten für die längerfristige Entwicklung wichtiger als die kurzfristige, jährliche Zielereichung.

Wenn man die jährliche Zielerreichung betrachtet, was sind da die wesentlichsten Größen?

Wir haben die vier klassischen Ebenen der BSC: Shareholder, Kunden, Prozesse, Mitarbeiter. Bei „Shareholder“ gibt es Zielgrößen wie Marktanteile, Umsatz, Ergebnis etc. Beim Punkt „Kunden“ gibt es ergebnisorientierte Parameter wie z.B. erfolgreiche Produktneueinführungen. Der dritte Aspekt „Prozesse“ bezieht sich auf interne Prozesse und ihre Kosten und der vierte Punkt „Mitarbeiter“ enthält u.a. Personalentwicklungs- und Potenzialentwicklungsziele.

Was passiert, wenn etwas nicht so gut ist? Schlägt die "schlechte" Führungskraft mit guten Zahlen die gute Führungskraft mit schlechten Zahlen?

Nein. Natürlich können Sie nicht Jahr für Jahr ihre bottom line versäumen, aber es ist schon wichtig, sich einen gesamtheitlichen Blick zu bewahren. Es gibt unterschiedliche Gründe, warum in einem Jahr manche Dinge anders laufen als Sie es geplant haben. Wenn die Ziele erreicht werden, aber der Stil, den jemand hat, nicht zum Unternehmen passt, dann kann es nicht ausreichen, die Zahlen zu bringen. Es geht hier klar in die Richtung, dass die Werte, die wir hier definiert haben, auch gelebt werden müssen. Ein Verstoß gegen grundlegende Werte kann durch besondere Performance nicht einfach aufgehoben werden.

Bayer in Österreich ist eine reine Vertriebsorganisation?

Ja, wir haben auch hier die drei Teilkonzerne, Health Care, Crop Science und Material Science. Da gibt es jeweils Vertriebsorganisationen, die direkt an ihre Europaorganisationen berichten. Trotzdem ist es gelungen, gerade aufgrund des Mission Statements, das wir für uns erarbeitet haben, als es konzernweit große Umbrüche gab, auch das Gemeinsame nicht aus den Augen zu verlieren.

D.h. es gibt eine Matrixorganisation aus Sparten- und Länderverantwortung.

Ja, aber wir sind ja keine so große Organisation. Es kennt noch jeder jeden. Wir sind jetzt 190 Mitarbeiter. Ich bin direkt verantwortlich für den Health-Care-Bereich und als Country-Manager zusätzlich verantwortlich für die Service-Bereiche wie Personal, Finanzen, Organisation, Unternehmenskommunikation....

Worauf achten Sie bei Ihren Führungskräften, wenn es um Führung geht?

Wenn ich bei einer Abteilung überlege, ob die besonders gut oder nicht so gut geführt wird, dann schaue ich zunächst einmal, ob es dort ein offenes und vertrauensvolles Klima gibt, ob dort Fehler gemacht und daraus gelernt werden darf, was man u.a. daran erkennt, ob die Leute Angst haben und zu vertuschen versuchen, wenn etwas schief geht oder ob darüber offen gesprochen wird. Ich halte es auch für wichtig, dass eine Führungskraft positiv denkt. Nicht im Sinn von Schönreden, sondern im Sinn von „eine positive Kraft ausstrahlen“. Das merken Sie spätestens dann, wenn es einmal schwierig wird. Bekommt der Manager dann gleich die Krise oder kann er auch unter Druck eine positive Stimmung aufrecht erhalten? Ein weiteres Kriterium ist meines Erachtens, ob Führungskräfte ihre Position mit Nachdruck vertreten oder schon beim ersten Gegenwind umfallen. Außerdem sehen Sie, wie die Mitarbeiter der Abteilung miteinander umgehen: distanziert oder offen, feindselig mit Spitzen in der Kommunikation oder locker und entspannt?

Man hat doch seine Führungskräfte nicht ständig im Blick und kann doch nicht ständig beobachten, wie die Leute ihre Mitarbeiter führen. Ist das nicht ein Stück weit Selbsttäuschung, zu glauben, immer Bescheid zu wissen, was sich im Unternehmen tut?

Wir sind als Unternehmen noch nicht so groß, dass man die Dinge nicht mehr mitbekommt. Die Bereiche sind nicht einzelne Silos, wo jemand isoliert vor sich hin lebt. Außerdem haben die Mitarbeiter verschiedene Möglichkeiten, sich zu artikulieren, wenn sie den Eindruck haben, dass sie unfair behandelt werden oder dass andere wichtige Werte verletzt wurden. Sei es via Betriebsrat, via Personalabteilung oder durch direkte Gespräche mit mir.

Wenn Sie Ihre Führungskräfte am Jahresende beurteilen, wie fließt da das Thema Führung mit ein? Ist das direkt mit der Entlohnung gekoppelt, wie schaut die konkrete Regelung aus?

Es gibt unterschiedliche Instrumente. Erstens haben wir einmal im Jahr das sogenannte Mitarbeiter-Fördergespräch, da gibt es eine ganze Reihe von Punkten, bei denen es um Führung geht. Ich führe dieses Gespräch mit meinen direct reports und die führen es mit ihren. Das zieht sich von ganz oben bis nach unten durchs ganze Haus.

Zweitens haben wir regelmäßige Mitarbeiter-Befragungen, bei denen das Thema Führung einen wichtigen Teil ausmacht und wo unbefriedigende Ergebnisse wiederum Anlass sein können für Maßnahmen im Rahmen des Fördergesprächs. Allerdings finde ich das nicht ganz unproblematisch. Ich halte die Mitarbeiterbefragung für eine gute und hilfreiche Diagnose, um ein Bild zu bekommen, wie es um das Thema steht, um Tendenzen zu erkennen und Ideen zu bekommen, wo man konkrete Maßnahmen setzen kann. Es ist aber etwas ganz anderes, wenn ich die Befragung als Bewertungsinstrument einsetze.

Das trifft übrigens auch auf das 360° Feedback zu. Wenn Sie darauf Ihre Leistungsbewertung stützen und das auch noch mit der Entlohnung verknüpfen, bekommen Sie wahrscheinlich kein objektives Ergebnis mehr. Das wird sofort im Unternehmen bekannt und die Mitarbeiter wissen, wie sie es zu beantworten haben. Dadurch entwerten Sie ein sehr gutes Instrument.

D.h. es gibt bei Bayer zeitlich getrennt, Mitarbeitergespräche und Beurteilungsgespräche?

Richtig. Die Gespräche sind zeitlich getrennt, die Mitarbeitergespräche finden eher im Sommer, Herbst statt, abgekoppelt von den Leistungs- und Ergebnisgesprächen. Da sind Führungsthemen natürlich auch ein Thema. Ich persönlich bin nicht jemand, der die einzelnen Punkte beurteilt, dann einen Durchschnitt bildet und Noten verteilt, sondern ich mache mir ein Gesamtbild aus verschiedenen Teilaspekten wie: Wie geht die Führungskraft mit den Mitarbeitern um? Wie fördert sie die Mitarbeiter konkret? Können die Mitarbeiter dort wachsen oder nicht? Usw. Um große Kennzahlen zu bilden, sind wir hier mit 190 Mitarbeitern zu klein. Aber wenn jemand eine Abteilung mit 20 Mitarbeitern hat und da kommen über Jahre nie Potentialträger heraus, dann wird man da klarerweise Fragen stellen.

Wenn man Mittelmanager fragt, wie viel Zeit sie fürs Geschäft  verwenden und wie viel für Ihre Führungstätigkeit, dann kommen immer Schätzungen zwischen 5-10 %  fürs Führen.

Das hängt stark davon ab, wie ich Führung definiere. Wenn ich Führung definiere als konkrete Aktivitäten wie ein Mitarbeitergespräch, ein Beurteilungsgespräch oder bestimmte Prozesse, die ich installiere, um Mitarbeiter zu entwickeln, dann ist es sicher der kleinere Teil. Wenn ich jedoch Führung als integralen Bestandteil der Arbeit einer Führungskraft ansehe, dann ist der Anteil sehr hoch. Eine Führungskraft wird ja laufend beobachtet: Lebt sie das, was sie sagt? Wie kommuniziert sie, hält sie mit Dingen hinter dem Busch? Kann ich mich auf sie verlassen? Da wird ja Führung jeden Tag sichtbar. Man kann das nicht einfach trennen, hier meine Arbeit, dort Führung. Das wäre ein eigenartiges Führungsverständnis.

Tolle Fachkraft, aber keine besonders gute Führungskraft - Was tun Sie in diesem Fall?

Das hängt davon ab, ob der betreffende Mitarbeiter das Problem sehen kann. Eines ist sicher, man tut dem Mitarbeiter keinen Gefallen, wenn man ihn in einer Führungsposition belässt, der er nicht gewachsen ist. Man muss im ersten Schritt versuchen, den Mitarbeiter zu fördern, ihm vielleicht einen Coach zur Seite stellen, damit er eine Chance bekommt, seine Führungsaufgabe wahrzunehmen. Diese Verantwortung hat man, denn wenn man jemanden in diese Position befördert hat, kann man ihn dann nicht einfach wieder fallen lassen. Der Nächsthöhere hat klarerweise eine Mitverantwortung. Wenn es trotzdem nicht geht, hat es aber keinen Sinn, die Situation ad infinitum zu prolongieren. Entweder man findet im Unternehmen eine andere Position, die den Stärken des Mitarbeiters entspricht, oder - wenn man es nicht schafft - muss man sich trennen.

Wie bekommen Sie bei einer neuen Führungskraft ein Gefühl, ob sie geeignet ist?

Zunächst einmal, indem mehrere Menschen den Kandidaten interviewen. In eher seltenen Fällen kann zusätzlich ein Assessment Center gemacht werden. Wichtig finde ich, dass Führungskompetenzen heutzutage ja immer weniger an bestimmte hierarchische Positionen gebunden sind. Je mehr die Unternehmen in Richtung Prozess- und Projektsteuerung gehen, umso wichtiger werden Führungskompetenzen auf breiter Basis, weil sie als Projektleiter oder Key-Account-Manager ja genauso Führungskompetenzen haben müssen. Zu glauben, dass es da ein paar Manager gibt, die entscheiden und führen und die anderen laufen hinterher - so funktionieren doch Unternehmen heute nicht mehr.

Herr Dr. Hagenlocher, vielen Dank für das Gespräch.

03.2005

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Dr. Martin Hagenlocher, Geschäftsführer Bayer Austria