Führung und Organisation – zwei Seiten ein und derselben Medaille

Prof. Dr. Rudolf Wimmer mit einigen systemtheoretischen Überlegungen zur aktuellen Leadership-Diskussion.

1. Führung ist ein Spiegelbild des jeweils zugrunde liegenden Organisationsverständnisses

Die Frage, wie verantwortungsvoll Topmanager an der Spitze von Unternehmen ihren Führungsjob wahrnehmen, erhitzt wieder einmal die Gemüter. Die Krise der Finanzmärkte und ihre katastrophalen Auswirkungen auf das weltweite Bankensystem sowie die Folgen für die allermeisten Branchen in der sogenannten Realwirtschaft lassen die Zweifel an der dominanten Logik der Unternehmensführung immer lauter werden. Insofern erleben wir nicht nur die heftigsten Verwerfungen im globalen Gefüge unseres inzwischen extrem vernetzten Weltwirtschaftssystems seit dem 2. Weltkrieg. Wir erleben auch eine schwere Vertrauenskrise in die Glaubwürdigkeit der verantwortlichen Akteure und in deren Konzepte zur Steuerung von Unternehmen. Es ist keineswegs überraschend, dass die aktuellen Verunsicherungen wiederum personifizierende Erklärungsmuster verstärken und eine enorme Intensivierung unternehmensethischer Initiativen nach sich ziehen. Moralische Argumente haben wieder Hochkonjunktur. Begleitet wird diese an Heftigkeit zunehmende öffentliche Diskussion wiederum von dem Ruf nach starken vertrauenswürdigen Persönlichkeiten, denen man die Bewältigung dieser ungewöhnlich schwierigen Phase zutrauen kann. »Leadership« ist mehr denn je gefragt, zurzeit allerdings mehr mit Blick auf Staat und Politik, auf gesellschaftliche Bereiche also, die durch die jüngsten Ereignisse eine enorme Steigerung der Erwartungen an ihr Problemlösungsvermögen erfahren haben. Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag einen ganz bestimmten Aspekt herausgreifen, der über all die Jahre hinweg in der Leadership-Diskussion unterbelichtet geblieben ist und im Moment auch gerade wieder ausgeblendet wird.

Welcher Aspekt ist hier gemeint? Man kann sich dem Thema Führung auf sehr vielfältige Weise nähern, wie die weitverzweigte Führungsforschung zeigt. Die beobachtbaren Ausprägungen der Auseinandersetzung mit diesem Thema sind natürlich ein »Kind« des jeweiligen soziokulturellen Umfeldes, in das sie eingebettet sind. Es unterscheidet sich die amerikanische Tradition deutlich von der kontinentaleuropäischen und diese wiederum von den fernöstlichen Denkweisen. Immer jedoch spiegeln die jeweiligen Vorstellungen von Führung auch das dahinter liegende Organisationsverständnis wider, auch wenn dieses zumeist nur implizit durchschimmert (beispielhaft dafür Morgan 1997, sowie Kieser/Ebers 2006). Führung und Organisation sind in hochentwickelten Gesellschaften zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dies ist die Ausgangsthese, die im Weiteren etwas ausführlicher am Beispiel eines systemtheoretisch angeleiteten Organisationsverständnisses entfaltet wird.

In den einschlägigen Diskussionen bleibt dieser Zusammenhang zumeist im Hintergrund, weil Führung in aller Regel als ein Phänomen diskutiert wird, das primär mit den Eigenschaften und Fähigkeiten von Personen verknüpft wird (zur Kritik an dieser nach wie vor ungebrochenen Forschungstradition vgl. Neuberger 2002). Dabei kommt gerade durch dieses personenorientierte Führungsverständnis ein ganz bezeichnendes Denken über Organisationen, über deren Sinn und Zweck zum Ausdruck. In diesem Sinne stehen sich in der aktuellen Diskussion mehrere einander markant unterscheidende Grundkonzepte gegenüber, die heute die mentalen Modelle in Unternehmen und anderen Organisationen (vielfach auch in charakteristischen Mischformen) prägen. Dazu am Beginn ein paar exemplarische Ausprägungen, bevor dann ausführlicher einige systemtheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Führung und Organisation angeschlossen werden.

1.1. Die Organisation ist primär Mittel zu einem extern gesetzten Zweck

Dieses Organisations- und Führungsverständnis besitzt in der Entwicklung der modernen Gesellschaft, insbesondere in der Durchsetzung des Primats einer funktionalen Differenzierung, eine lange Tradition (dazu Luhmann 1997, S. 707 ff sowie Martens 2000). Die Arbeiten von Max Weber sowie von Frederic Taylor mit seinem »scientific management« haben dieses Verständnis im Prozess der Industrialisierung elaboriert zum Ausdruck gebracht. Diese Denkweise ist in unserem heutigen wirtschaftlichen Umfeld jedoch nach wie vor weitverbreitet und im Moment am eindrucksvollsten im Shareholder-Value- Konzept ausgearbeitet (vgl. dazu Rappaport 1999; zur theoretischen Begründung vgl. Jensen 2003; zur Kritik dieses Ansatzes Wimmer 2002). Eine Unternehmensführung, die sich in ihren Entscheidungen primär an den Erwartungen des Kapitalmarktes ausrichtet, orientiert sich in unterschiedlichen Ausprägungsgraden fast zwangsläufig an dieser Sichtweise. Die jüngsten Geschäftspraktiken vieler Finanzinstitute haben dieses Führungsverständnis allerdings etwas in Misskredit gebracht. Wesentliche Merkmale dieser Denktradition sind:

• Führung ist dazu da, um den Zwecksetzenden zur Erreichung jener Ziele zu verhelfen, die sie mit ihrer Organisation verfolgen. Genau zu diesem Ergebnis kommt Rappaport, wenn er über die Funktion von Führung nachdenkt: »Beginnen wir mit dem CEO und anderen Führungskräften auf Unternehmensebene. Ihre primäre Verantwortung besteht in der Maximierung der gesamten Eigentümerrendite aus Dividenden plus Kurswertsteigerungen der Unternehmensaktie« (ders. 1999, S. 134). Führung als Aufgabe dient daher im Kern dazu, die Organisation in all ihren Bereichen als Mittel so herzurichten, dass sie bei sparsamstem Ressourceneinsatz die Zielerreichung optimiert. Die Führenden verstehen sich deshalb als Gegenüber zu ihrem jeweiligen Aufgabenbereich, auf den sie im Sinne der Zielerreichung einzuwirken versuchen. Sie sind die Gestalter, die im Sinne der vorgegebenen Zielsetzungen auf die Organisation als Mittel der Realisierung Einfluss nehmen.

• Führung in diesem Verständnis ist primär Sache der beauftragten Akteure und ihrer besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten. Ihre herausragenden »Leadership-Qualitäten« befähigen sie dazu, die Gefolgschaft ihrer Leute in den jeweiligen Verantwortungsbereichen so zu mobilisieren, dass die vorgegebenen Ziele tatsächlich erreicht werden. Die Führenden verkörpern in diesem Sinne den Existenzgrund und die Ziele der Organisation und richten die zu Führenden als Objekt ihres Einwirkens auf diese aus. In der öffentlichen Wahrnehmung, insbesondere in der medialen Berichterstattung werden Unternehmen in ihrer Entwicklung mit dem Agieren ihrer Spitzenmanager gleichgesetzt. »Investors thus join journalists in the personification of corporations, focusing on the characters, biographies and alleged charisma of CEO’s« (O’ Toole 2001, S. 158). Im Mittelpunkt der Führungsarbeit steht deshalb neben der Ziel- und Aufgabenplanung die alltägliche Personalführung im Sinne einer konsequenten Steuerung und Kontrolle des Zielerreichungsprozesses. Führung in diesem instrumentellen Organisationsverständnis ist somit ausschließlich eine Sache von Persönlichkeiten, stets ausgestattet mit besonderen Fähigkeiten (visionäre Kraft, Begeisterungsfähigkeit, Neues bewegend, persönliche Durchsetzungsfähigkeit etc. etc.). Man begreift Führung »solely as an individual trait« (O’Toole 2001, S. 159). Es sind in erster Linie höchstpersönliche Qualitäten, über die nur ganz wenige verfügen, die das Wesen von Führung zur Entfaltung bringen (zu diesem»New Leadership Approach« vgl. etwa Steyrer 1998 oder auch Neuberger 2002). Diesem Grundverständnis folgend konzentrierte sich die Führungsforschung über Jahrzehnte auf das Ausfindigmachen jener Persönlichkeitsmerkmale, die dem Erfolg von Führung zugrunde liegen, bislang allerdings ohne nennenswerte Ergebnisse. »Unfortunately, empirical studies have failed to establish a link between effektive leadership and any single trait or group of traits« (Sadler 2003, S. 113; eine kritische Bestandsaufnahme dieser bis heute dominanten Blickrichtung auf Führung bietet auch Vaupel 2008, S. 123 ff).

• Mit diesem Verständnis von Führung korrespondiert letztlich ein »heroisches« Selbstkonzept der Führenden (hoher Selbstanspruch, alles im Griff bzw. unter Kontrolle zu haben; Dominanz des direktiven Eingreifens; wenn etwas schief läuft, sind immer Personen schuld; sie sind der wesentliche Stellhebel, um die Dinge zum Besseren zu bewegen). Entsprechend hohe Folgekosten zeitigt dieses maßlos überfordernde Selbstkonzept bei den betroffenen Akteuren.

1.2. Organisationen sind besondere gesellschaftliche Arenen, in denen die Akteure um die Durchsetzung ihrer Interessen ringen

Dem konsequent durchrationalisierten Bild von Organisationen, wie es die primär am Kapitalmarkt orientierten Unternehmen gerne für sich in Anspruch nehmen, wird häufig ein Bild gegenüber gestellt, in dem es alles andere als rational zugeht. Aus dieser Sicht sind Organisationen keineswegs das auf höchste Effizienz getrimmte Instrument in den Händen derjenigen, die über die Kompetenz der Zwecksetzung verfügen und zur Durchsetzung ihrer Ziele auf Führung setzen. Ganz im Gegenteil. Organisationen werden von ihren Mitgliedern ihrerseits in die unterschiedlichen Richtungen instrumentalisiert. Nach dieser Sicht der Dinge läuft also de facto die Instrumentalisierung genau in die umgekehrte Richtung. In einer eher finanzwirtschaftlich ausgerichteten Theorie des Unternehmens wird diese fast nicht zu vermeidende Gefahr der Instrumentalisierung der Organisation für die Eigeninteressen des Managements unter dem Principal-Agency-Problem diskutiert (dazu nach wie vor grundlegend Jensen/Meckling 1976). Nach diesem akteursorientierten, primär auf Mikropolitik setzenden Theorieverständnis schaffen Organisationen spezifische soziale Räume, die jeder einzelne mehr oder weniger geschickt und erfolgreich nutzt, um seinen persönlichen Interessen zum Durchbruch zu verhelfen (ausführlicher zu diesem Organisationsverständnis Neuberger 2006). Die jeweiligen Sachaufgaben bilden dafür lediglich die Oberfläche, sie definieren das Spielfeld, auf dem sich die Spielzüge der involvierten Akteure je nach Rolle und Position entfalten können. Führung ist in dem Ganzen selbst Teil des Spiels (Spiel verstanden als sich wiederholende kollektive Muster, gesteuert durch eingespielte, vielfach nicht durchschaute, sich ständig ändernde Regeln). Führung in diesem Organisationsverständnis schafft, ob formell oder informell ausgeübt, privilegierte Durchsetzungschancen für die Inhaber von Führungspositionen, weil man davon ausgehen kann, dass mit dem Einflusspotenzial dieser Rollen größere Gestaltungsspielräume verbunden sind (vgl. dazu etwa Türk 1990). Deswegen spielen Prozesse der Machtgewinnung und Machtabsicherung (je verdeckter, umso effektiver) eine herausragende Rolle. Dementsprechend gewinnen Machtfragen in dieser Forschungstradition eine zentrale Bedeutung (exemplarisch dafür Crozier/Friedberg 1979, sowie Crozier 1992). Das Ergattern von Führungspositionen ist in diesem Spiel somit ein ganz besonderer Attraktor.

Blickt man mit dieser Brille auf das Alltagsgeschehen in Organisationen, so dominieren mikropolitische Auseinandersetzungen, mit deren Hilfe sich die Organisationsmitglieder Vorteile zu verschaffen oder drohende Benachteiligungen abzuwehren versuchen, den Prozess der Leistungserbringung. Gute und erfolgreiche Führungskräfte sind in diesem akteursorientierten Verständnis somit jene, die sich in diesem »Spiel« über die Zeit hinweg besonders gut behaupten, sich immer wieder durchsetzen und somit ihre Machtbasis ausbauen können (vgl. auch Ortmann 1988). Dieses Organisations- und Führungsverständnis trifft man häufig in einem politiknahen Umfeld, in Organisationen der öffentlichen Hand, nicht selten auch im Nonprofit-Bereich an.

1.3. Organisationen bilden eine verwaltungstechnische Plattform, um den Verwirklichungsmöglichkeiten einer oder mehrerer Professionen zu dienen

Dieses Verständnis trifft man regelmäßig in Organisationen an, die in ihrer Leistungserbringung um ein ganz bestimmtes professionelles Selbstverständnis herum gebaut sind (Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Forschungseinrichtungen, große Anwaltssozietäten und Beratungshäuser etc. Eine gesellschaftstheoretische Fundierung dieses Professionsverständnisses bietet Stichweh 2008). In solchen »professional organizations« dominieren im alltäglichen Miteinander die Standards der jeweiligen Profession. Die Funktionsinhaber, insbesondere die »Professionals«, sehen die Organisation als etwas an, das primär in den Dienst ihrer Profession zu treten hat. In diesem Sinne hat die Organisation alle erforderlichen Rahmenbedingungen bereitzustellen (finanzielle, technische, personelle und räumliche Ressourcen), um entsprechend der eigenen professionellen Standards gute Arbeit machen zu können.

Die dominierende Logik in den organisationsinternen Routinen entspringt den Ansprüchen der jeweils die Organisation prägenden professionellen Tradition (Medizin, Pädagogik, Forschung, Recht etc.). Alle anderen Funktionen in der Organisation haben sich dieser Logik unterzuordnen. Führung kommt in diesem Organisationsverständnis die Aufgabe zu, speziell für jene Rahmenbedingungen zu sorgen, die ein erfolgreiches Agieren im Sinne der professionellen Standards ermöglichen. Führung ist demnach eine organisationsinterne Dienstleistung an den jeweiligen Erfordernissen der Profession. Die Profession »führt« die Führung. In diesem Sinne spricht man in solchen Organisationen gerne von »Führungs- und Organisationsabwehr«, weil die Kapazitäten und Fähigkeiten für die Wahrnehmung von Führungsaufgaben in der Regel höchst unterentwickelt sind. Solche Organisationen tun sich deshalb ausgesprochen schwer, sich in Richtung der Bewältigung neuer Leistungsherausforderungen gezielt weiterzuentwickeln. Im Sinne dieses nachrangigen Stellenwertes sind Führungsfunktionen häufig an hervorgehobene Expertenstellen angedockt und werden neben den die professionelle Identität und Reputation hauptsächlich prägenden Fachaufgaben miterledigt (für die besonderen Herausforderungen der Führung von »professional service firms« vgl. Maister 1993).

1.4. Organisationen als sich selbst organisierende soziale Systeme, die für ausgewählte gesellschaftliche Probleme außerhalb ihrer selbst geeignete Lösungen erarbeiten und darin ihren Existenzgrund finden

Diese Variante des Denkens über Führung und Organisation entspringt im Wesentlichen dem Grundannehmen der neueren Systemtheorie. Weil wir davon ausgehen, dass diese Theoriearchitektur zurzeit dem gestiegenen Komplexitätsgrad von Organisation und Gesellschaft am ehesten gerecht wird, wird im Weiteren etwas ausführlicher mit einer systemtheoretischen Brille auf das Phänomen Führung geschaut (wichtige Anregungen dafür bietet Baecker 2003, S. 256 ff. und 2005). Organisationen in diesem systemtheoretischen Verständnis repräsentieren einen besonderen Typus sozialer Systeme, der darauf spezialisiert ist, Lösungen für gesellschaftliche Problemstellungen zu produzieren, deren erfolgreiche Bearbeitung ein organisiertes Zusammenwirken unterschiedlicher Expertisen erfordert. Organisationen tasten gleichsam ihre relevanten Umwelten nach ungelösten Fragestellungen ab, die sich dafür eignen, die Organisation als Organisation zu reproduzieren. Moderne Gesellschaften bieten dafür unzählige Gelegenheiten, weil sie sich von dieser spezifischen Leistungsfähigkeit von Organisationen unentrinnbar abhängig gemacht haben (Luhmann 1997, S. 826 ff.). Organisationen sorgen in diesem Sinne selbstorganisierend für ihre eigene Überlebensfähigkeit und entwickeln dafür in Auseinandersetzung mit ihren relevanten Umwelten ihre Zwecke und Ziele selbstständig weiter, dabei ihrer eigenen Logik und inneren Melodie folgend. Sie sind sich selbst gegenüber somit gleichzeitig Mittel und Zweck. Organisationen, einmal erfolgreich ins Leben getreten, streben danach, ihre Überlebensfähigkeit dauerhaft unter Beweis zu stellen, eingebettet in das je spezifische, dieses Überleben ermöglichende und auch begrenzende Umfeld. Wir gehen also davon aus, dass Organisationen sich selbst durch eigene Operationen hervorbringen und durch ebensolche Operationen für ihre Fortsetzung Sorge tragen. Sie sind in diesem Sinne autopoietische Systeme.

Dieser Grundgedanke verbietet es, Organisationen ausschließlich als Instrument außenstehender Instanzen zu verstehen. Aber was sind die Operationen, mit deren Hilfe sich eine Organisation zur Organisation macht? Letztlich ist es die Kommunikation von Entscheidungen. Entscheidungen sind Ereignisse, durch die eine unsichere Situation soweit in Sicherheit umgewandelt wird, dass weitere Entscheidungen daran anknüpfen können. Organisationen befinden sich mithin in einem Dauerzustand der Unsicherheit über sich selbst und ihr Verhältnis zu ihrer Umwelt und nutzen diesen Zustand der Unruhe für ihre Selbstorganisation des Anknüpfens von Entscheidungen an Entscheidungen, die jeweils nur für eine ganz bestimmte Situation Unsicherheit absorbieren, um auf dieser Basis weitere Schritte der Unsicherheitsbewältigung aufsetzen zu lassen. »Offenbar sind Organisationen nicht kalkulierbare, unberechenbare, historische Systeme, die jeweils von einer Gegenwart ausgehen, die sie selbst erzeugt haben. Offenbar sind es Systeme, die sich selbst und anderes beobachten können, also zwischen Selbst- und Fremdreferenz oszillieren. Offenbar verdanken sie ihre Stabilität einem Netz loser Koppelungen, nicht einer ›Technik‹ strikter Koppelungen« (Luhmann 2000, S. 9).

2. Führung in einem sich selbst organisierenden System

Versteht man Organisationen als einen besonderen Typus sozialer Systeme mit hoher Eigenkomplexität, die sich im Zuge der neuzeitlichen Entwicklung hin zur modernen Gesellschaft ausdifferenziert haben, um eben diese Gesellschaft mit ganz bestimmten Leistungen zu versorgen, dann stellt sich die zentrale Frage: Wie lautet das Problem, für das Führung in solchen Systemen eine Lösung ist? Hier unser Antwortversuch:

• Führung in einem systemischen Verständnis meint eine organisationale Fähigkeit, eine in der Organisation ausdifferenzierte Funktion, die im Unterschied zu den vielfältigen Fachaufgaben, die es zur Leistungserbringung braucht, auf die laufende Herstellung der eigenen Vitalität (Überlebensfähigkeit) spezialisiert ist. Die spezifische Form der Konstitution von Organisationen (sie greifen Problemstellungen ihrer Umwelt auf, um für diese geeignete Lösungen zur Verfügung zu stellen) stimuliert ihre Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, also das Operieren mit der Differenz von Selbst- und Fremdreferenz. Genau dies ist die Grundlage für die organisationsinterne Ausdifferenzierung von Führung als einer unerlässlichen Funktion dieser Selbstorganisation, die aus dem eingebauten Pendeln zwischen Innen und Außen Impulse für die eigene Weiterentwicklung gewinnt. In diesem Sinne ist Führung eine besondere evolutionäre Errungenschaft, die sich in der modernen Gesellschaft zur Aufrechterhaltung der Problemlösungsfähigkeit ihrer Organisationen ausgeprägt hat und ständig weiterentwickelt. So verstanden ist Führung eine »Eigenschaft« des sozialen Systems Organisation, die in der Praxis mehr oder weniger gut entwickelt sein kann. Diese Systemqualität ist darauf spezialisiert, die spezifische Leistungsfähigkeit einer Organisation in Auseinandersetzung mit ihren relevanten Umwelten aufrechtzuerhalten bzw. gezielt weiterzuentwickeln. Führung als eine organisationale Fähigkeit (organizational capability) zu verstehen, ist in der Führungsforschung nicht sehr weit verbreitet. Eine interessante Ausnahme bildet James O’Toole, der mit seinem Forschungsteam für das Weltwirtschaftsforum in Davos herausfinden sollte, welche Art von Führung nachhaltig erfolgreiche Unternehmen auszeichnet. Dem Mainstream der Führungsforschung folgend, dachten sie zunächst über Führung nach, »solely as an individual trait« (O’Toole 2001, S. 159). Dieser Blickwinkel änderte sich im Zuge ihrer Recherchen allerdings ziemlich grundlegend. Denn: »soon we were surprised to discover that the relative performance of large corporations cannot be explained adequately by measures of the individuals who head them« (ebenda S. 160). Das Forschungsteam kam letztlich zum Ergebnis, »that in many successful companies leadership is treated as an institutional capacity and not solely as an individual trait« (ebenda S. 162).

• Versteht man Führung als eine organisationale Fähigkeit, spezialisiert auf Fragen der Selbstentwicklung der Organisation, so ist unmittelbar einsichtig, dass diese Funktion nur im System wahrgenommen werden kann. Sie ist ein spezifisches Moment der Selbstorganisation desselben und nicht Ausdruck des Fremdbestimmtseins der Organisation (vgl. dazu Foerster 1993, S. 233 ff. sowie Wimmer 1992). Begreift man Organisationen als soziale Systeme, die im Zuge ihrer Konstituierung ihre tragenden Ordnungsmuster selbst hervorbringen, dann ist Führung ein bestimmter Aspekt dieser selbsterzeugten Ordnungsbildung. »Konnte sich das Management bislang quasi als naturgegebene Konsequenz einer naturgegebenen hierarchischen Ordnung betrachten und inszenieren, so wird es jetzt als Effekt einer von der Organisation selbst produzierten Ordnung sichtbar, und zwar als ein Effekt, den es selbst mitproduziert« (Baecker, 1999, S. 221). Die Führenden sind Teil des Systems, d.h. Teil des Kommunikationsgeschehens, auf das sie durch ihre Führungsimpulse Einfluss zu nehmen versuchen. Führung hat es in diesem Sinne immer auch mit sich selbst zu tun. Sie stößt bei all ihren Einflussversuchen auf Verhältnisse, die sie selbst bis zu einem gewissen Grade mitproduziert hat. Die Art und Weise, wie Führung in einer Organisation wahrgenommen wird, ist also immer auch das Ergebnis dessen, wie im Vorangegangenen geführt worden ist und welche Rückwirkungen daraus auf die Möglichkeiten und Grenzen weiterer Einflussnahme durch Führung zu beobachten sind. In diesem Sinne operiert Führung grundsätzlich mit zirkulären, rückbezüglichen Formen von Wirkungsbeziehungen.

• Zur Realisierung dieser »organizational capability« (zu diesem Begriff vgl. Schreyögg/Kliesch-Eberl 2008) braucht es einerseits geeignete Führungsstrukturen auf Basis eines durchdachten Organisationsdesigns (gemeint sind damit unterschiedliche Gliederungsformen entweder nach Geschäftsfeldern, nach Funktionen oder Kernprozessen, auf Basis einer Holdingkonstruktion mit übergreifenden Supportfunktionen etc.). Wie immer diese Organisationslösungen im Detail aussehen mögen, in jedem Fall sind sie heutzutage an der Kernfrage ausgerichtet, wie es gelingen kann, die dynamische Entwicklung in den relevanten Umwelten organisationsintern angemessen bearbeitbar zu bekommen (zu diesem Grundgedanken wegweisend Roberts 2004). Deswegen stützen sich all diese organisationsbezogenen Gestaltungslogiken auf Vorstellungen von Führung, die die Aufmerksamkeit der Beschäftigten primär nicht mehr nach oben lenkt –, dies ist für den Alltag nicht mehr die handlungsleitende Differenz – sondern nach außen. Was braucht der Kunde? Was braucht es für ein erfolgreiches Zusammenspiel in den verschiedenen organisationsübergreifenden Netzwerken? Führung passiert in diesem Sinne von außen nach innen.

Die Entscheidungsträger auf den unterschiedlichen Hierarchieebenen sorgen dabei für die erforderlichen Rahmenbedingungen, damit dies in der Organisation ohne eine allzu große Beschäftigung nur mit sich selbst geschehen kann. Dafür braucht es eine miteinander verhandelte Arbeitsteilung zwischen den Hierarchieebenen in der Wahrnehmung der Führungsverantwortung sowie gemeinsam akzeptierte Spielregeln, die ein konstruktives Zusammenspiel zwischen den in die jeweiligen Entscheidungsprozesse involvierten Funktionsträger steuern (Muster für die Bewältigung der unvermeidlichen Zielkonflikte, geeignete Kommunikationsplattformen für die Aushandlung derselben, ohne in permanente Selbstblockaden reinzulaufen etc.). Dafür ist es ausschlaggebend, dass in Unternehmen in Sachen Führung eine gemeinsame Sprache und ein geteiltes Rollenverständnis wachsen kann – Management- und Development- Programme können dieses Wachstum gezielt befördern. Ist dieses »capacity development« in der organisationalen wie personalen Führungskompetenz erfolgt, ist dies an zwei zentralen Merkmalen beobachtbar, die für einen nachhaltigen Unternehmenserfolg ausschlaggebend sind: »coherence and agility. Coherence means that common behaviours are found throughout an organization that is directed toward the achievement of shared goals. And agility is the institutionalized ability to detect and cope successfully with changes in the external environment, especially when such changes are difficult to anticipate« (O’Toole 2001, S. 167). Führung als Organisationsfähigkeit ist im Ergebnis immer eine Mannschaftsleistung, die alltäglich im Dienste einer erfolgreichen Zukunftssicherung des Unternehmens erbracht wird. Für das Gelingen dieser Mannschaftsleistung braucht es den sorgfältigen Aufbau tragfähiger, vertrauensgestützter Kooperationsbeziehungen, in denen die zu bearbeitenden Zielkonflikte und sachlichen Widersprüche verhandelt werden, ohne dass damit nachhaltige Beschädigungen der persönlichen Beziehungsqualität einhergehen. Diese Sicht von Führung zwingt dazu, sich von der allseits beliebten Zuschreibung des Erfolges oder Mißerfolges von Führungsleistungen ausschließlich auf die besonderen Fähigkeiten oder Defizite einzelner Persönlichkeiten mit allem Nachdruck zu verabschieden und Fragen der Arbeitsfähigkeit von Managementteams sehr viel mehr ins Zentrum der Überlegungen zu rücken (dazu Wimmer, 2006).

• Dennoch braucht Führung Persönlichkeiten, die in ihrem Potenzial und mit ihrem Erfahrungshintergrund zum Anforderungsprofil der einzelnen Führungspositionen passen. Führung, so verstanden, ist eine voraussetzungsvolle Profession und braucht Leute, die sich im Zuge ihrer Laufbahn darauf spezialisiert haben und die entsprechenden Begabungsvoraussetzungen mitbringen. So gesehen ist nicht jeder in gleicher Weise für Führungsaufgaben geeignet. In solchen Positionen sind stets besonders komplexe, in sich höchst widersprüchliche Anforderungen gebündelt, deren Bewältigung spezifische Persönlichkeitsdispositionen zur Voraussetzung hat und einen beruflichen Werdegang braucht, in dessen Verlauf in der Praxis die erforderlichen persönlichen, sozialen wie fachlichen Kompetenzen erworben werden konnten. Es handelt sich hier um eine Profession, deren entscheidende Kompetenzen vor allem berufsbegleitend angeeignet werden können (ähnlich Mintzberg 2004 in scharfer Abgrenzung zu den Qualifizierungsleistungen der amerikanischen Business-Schools). Damit soll verdeutlicht werden, dass die Bedeutung des personalen Faktors keineswegs zu unterschätzen ist. Die Qualität von Führung als ausschlaggebende »organizational capability« hängt von einer ganz subtilen Koevolution persönlicher Faktoren und organisationaler Bedingungen ab. Wichtig ist vor allem der halbwegs angstfreie Umgang mit Nichtwissen, die Bearbeitung von Ungewissheit, der Verzicht auf schnelle logische Erklärungen basierend auf alten Vorgefasstheiten. »To drop the heavy tools of rationality is to gain access to lightness in the form of intuitions, feelings, stories, experience, active listening, shared humanity, awareness in the moment, capability for fascination, awe, novel words and empathy« (Weick 2001, S. 99). Es springt unmittelbar ins Auge, dass eingefleischte »Egomanen« für dieses Aufgabenverständnis von Führung nicht die geeigneten Voraussetzungen mitbringen.

3. Einzelne Merkmale eines »postheroischen« Führungsverständnisses

• Im Sinne der Sicherung der Zukunftsfähigkeit einer Organisation ist Führung als Funktion darauf spezialisiert, die eigenen Beobachtungsmöglichkeiten des organisationsinternen Geschehens wie der relevanten Organisationsumwelten dazu zu nutzen, um für den jeweiligen Verantwortungsbereich passende Entwicklungsimpulse zu setzen, d.h. gezielte Soll-Ist-Differenzen aufzumachen und in der Organisation für ihre Bearbeitung zu sorgen. Führung in diesem Sinne fußt auf einer fundamentalen Arbeitsteilung in Organisationen, die als solche keineswegs selbstverständlich ist und deren Notwendigkeit zumeist erst ab einer gewissen Größe spürbar wird. Was ist mit dieser Arbeitsteilung gemeint? Auf der einen Seite gibt es Funktionsträger, die sich auf die in ihrem Stellenprofil gebündelten Fachaufgaben konzentrieren, und auf der anderen Seite gibt es Funktionsinhaber, die jeweils auf das Ganze ihres Verantwortungsbereiches schauen und deren primäre Aufgabe es ist, die Funktionstüchtigkeit des organisierten Zusammenwirkens ihres Bereiches zu fördern und die dafür erforderlichen Entscheidungen herbeizuführen. Führung realisiert sich in der Ausdifferenzierung dieser Arbeitsteilung und in ihrer praktischen Durchsetzung. Das Gelingen dieser Ausdifferenzierung entlastet die Funktionsinhaber im operativen Geschäft. Sie können sich auf ihre inhaltlichen Fachaufgaben konzentrieren, weil sie das Sich-Kümmern um die Funktionstüchtigkeit des jeweiligen Ganzen bei ihren Führungskräften gut versorgt wissen. In diesem Sinne stehen Führende und Geführte zueinander in einem höchst störungsanfälligen Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Beide verfügen über wesentliche Parameter für das Erfolgreichwerden oder für das Scheitern der jeweils anderen Seite dieser Arbeitsteilung.

• Führung wahrnehmen impliziert damit immer ein zielgerichtetes Gestalten sozialer Situationen, geprägt von hoher Komplexität und Unsicherheit. Man ist dabei häufig mit Problemstellungen konfrontiert, die von einem hohen Anteil an Nichtwissen gekennzeichnet sind, eingebettet in eine schwer durchschaubare soziale Dynamik und fast immer geprägt von ganz bestimmten zeitlichen Restriktionen. Die von James March (1991) geprägte Unterscheidung von »exploration and exploitation« zur Beschreibung unterschiedlicher Modi des Führens ist in diesem Zusammenhang von großem Nutzen. »Maintaining appropriate balance between exploration and exploitation is a primary factor in system survival and prosperity« (ders. 1991, S. 71). Im alltäglichen Führungsgeschehen ist immer wieder das feinfühlige Diskriminierungsvermögen vonnöten, ob es eher einen Prozess des Erkundens braucht oder ob man sich aufgrund vergangener Erfahrungen ohnehin auf sicheres Wissen stützen kann. Man hat als Führungskraft bei all seinen Eingriffs- und Gestaltungsbemühungen die Bedingungen für die eigene Wirksamkeit nie vollständig in der Hand. Man greift immer in eigendynamische Verhältnisse ein, ohne deren Dynamik nur annähernd zu durchschauen und die Auswirkungen des eigenen Verhaltens prognostizieren zu können. Der Umgang mit Unsicherheit, Intransparenz und den Gefühlen des Kontrollverlustes stellt daher an die Aufrechterhaltung des Kompetenzempfindens wie an die Handlungsfähigkeit der Akteure außerordentlich hohe Anforderungen.

• Die für Führung erforderlichen Rollenerwartungen und Entscheidungsbefugnisse sind immer (d.h. auf allen Führungsebenen) an hervorgehobenen Grenzstellen gebündelt. Dies schafft prinzipiell eine Mehrfachzugehörigkeit der Inhaber von Führungsrollen und damit privilegierte Beobachtungschancen, die es für das Kerngeschäft von Führung, nämlich Soll-Ist-Differenzen aufzumachen, glaubwürdig zu nutzen gilt. Glaubwürdigkeit entsteht, indem es gelingt, die eigenen Veränderungsimpulse in einen sinnstiftenden Kontext zu stellen. Dieses An-der-Grenze-angesiedelt-Sein wird mit seinen besonderen Beobachtungs- und Kommunikationschancen für die Wahrnehmung von Führungsaufgaben zu einer entscheidenden Ressource. »Sensemaking is about how to stay in touch with context« (Weick 2001, S. 94). Grenzmanagement heißt aber auch, im Sinne der Leistungsfähigkeit des Ganzen Kooperationsbeziehungen gezielt zu verbinden oder zu trennen, dies sowohl innerhalb der Organisationen wie auch im Verhältnis zu den relevanten Umwelten. Mithilfe dieses Trennens und Verbindens steuern Führungskräfte das Koordinationsgeschehen in der Organisation und in die Umwelten hinein. Führungsrollen sind deshalb in der Kommunikation der Organisation mit ihren verschiedenen Umwelten stets besonders hervorgehobene Adressen, über die in erster Linie die Kommunikation mit den Systemen in der Umwelt läuft. Diese hervorgehobenen Grenzstellen haben jedoch noch eine weitere Implikation. Sie schaffen unvermeidlich Mehrfachzugehörigkeiten. Mit diesen Mehrfachzugehörigkeiten sind im Inneren zumeist spezifische Loyalitätskonflikte verbunden, deren erfolgreiche Bearbeitung als Ressource zur Verfügung steht, um unterschiedliche Perspektiven und Interessenslagen in den Entscheidungsprozessen miteinander zu verknüpfen. Sie schaffen ganz wichtige emotionale Distanzierungschancen, die dafür sorgen, in der eigenen Realitätswahrnehmung nicht in einer einzigen Zugehörigkeitswelt zu versinken.

• Für die wirksame Bearbeitung der als notwendig erkannten Entwicklungsimpulse ist Führung unausweichlich auf Kommunikation angewiesen. Ohne gelingende Verständigung zwischen den jeweils involvierten Funktionsträgern sind keine gezielten koordinierten Arbeitsergebnisse in komplexen Netzwerken in- und außerhalb einer Organisation erwartbar. Das Entwickeln und Nutzen komplexitätsadäquater Kommunikationsstrukturen und der dafür passenden Medien ist deshalb die Basis wirksamer Führungsprozesse. Führungskräfte gestalten durch ihre persönlichen Kommunikationspräferenzen und Gewohnheiten dieses organisierte Miteinander in Organisationen (ob eher sternförmig und dyadisch, ob eher vernetzt und teamförmig, ob mit einer Präferenz für das Mündliche oder für die neuen computerbasierten Formen etc.). Sie können nicht »nichtkommunizieren« und in diesem Sinne auch nicht »nichtführen« (vgl. dazu Wimmer 1992 im Anschluss an Watzlawick). Mit der Etablierung ganz bestimmter Kommunikationsroutinen und mit der Schaffung entsprechender sozialer Räume wirkt Führung unmittelbar darauf ein, wie Meinungsbildungs- und Abstimmungsprozesse ermöglicht bzw. verhindert werden, und dies sowohl in den vertikalen wie in den horizontalen Beziehungen. Auf diesem Wege gilt es, permanent realitätsgerechte Entscheidungen herbeizuführen und für Anschlussentscheidungen in anderen Bereichen zu sorgen, d. h. koordinierte Ergebnisse zu sichern. Mit anderen Worten: Führung sorgt laufend dafür, bestehende Unsicherheiten über adäquate Entscheidungen in gemeinsame Handlungssicherheit zu verwandeln. Darauf gilt es, das Kommunikationsgeschehen in Organisationen in aller Konsequenz auszurichten und in den Führungsprozessen entsprechend zu nutzen.

• Führung benötigt für ihr erfolgreiches Tun eine organisationsintern akzeptierte Asymmetrie in den Beziehungen, ein Oben und Unten zwischen den Mitgliedern. Diese Asymmetrie wird in allen Führungskontakten in irgendeiner Form auf der Beziehungsebene immer mitkommuniziert. Dieses asymmetrische Beziehungsangebot kann dabei angenommen, aber auch abgelehnt werden. Ohne eine Absicherung einer akzeptierten Einfluss- und Machtdifferenz fehlen ihr jedoch die Voraussetzungen, um im Sinne ihrer Funktion organisational wirksam zu werden. Diese Asymmetrie lässt sich unter den heutigen Komplexitätsbedingungen von Organisationen allerdings nicht mehr qua hierarchischer Setzung gleichsam a priori sicherstellen. Führung schafft durch die Art ihrer Ausübung dafür die erforderliche Akzeptanz und Glaubwürdigkeit oder sie lässt diese erodieren. Die Hierarchie sorgt nicht mehr für eine selbstverständliche, nichtbefragbare Geltung der damit verbundenen Machtdifferenz. Führung muss sich diese Differenz von Tag zu Tag neu verdienen. Darum ist das »Wie« der Wahrnehmung von Führungsfunktionen so enorm erfolgskritisch. Denn Führung kann heutzutage auf keine vorgegebenen, gesellschaftlich abgestützten Autoritätsressourcen mehr zurückgreifen.

Über viele Jahrzehnte hat die Vorstellung, Organisationen seien Hierarchien, die innere Ordnung moderner Organisationen jedem Zweifel entzogen, und damit das Entscheidungsgeschehen mit Autorität, d.h. mit nicht zu hinterfragender Geltung, versorgt (zur heutigen Funktion von Hierarchie Baecker 1999, S. 198 ff.). Heute ist es eine Eigenleistung von Führung, von Situation zu Situation ein gemeinsames Wollen herbeizuführen und dafür bei aller Bereitschaft zur Negation und zum Dissens die notwendigen Akzeptanzgrundlagen zu schaffen. Je komplexer die Organisationsverhältnisse werden, umso mehr muss Führung einen wachsenden Kritiküberschuss einkalkulieren. Alle etwas komplexeren Entscheidungen stimulieren berechtigterweise ihre Negationen, sie regen zur Dekonstruktion an, zumal immer unterschiedliche Perspektiven und Interessenslagen berührt werden und alle Betroffenen unmöglich in ausreichendem Ausmaß am Zustandekommen von Entscheidungen beteiligt werden können. Wie bewältigen Organisationen diese zunehmende Selbstaufladung mit »Neins«? Man kann durchaus mit einigem Recht den Prozess der Umwandlung dieser »Neins« in ein situativ tragfähiges »Ja« als eine der zentralen Kernleistungen von Führung ansehen (dazu Baecker 2003, S. 281 ff.). Führung in diesem Sinne verlebendigt somit all jene Prozesse, die ein laufendes »sense-making« in Organisationen zum Ergebnis haben (dazu eingehender Weick 1995).

• Diese unvermeidliche Dekonstruktionsdynamik impliziert ein Selbstverständnis von Führung, das sich konsequent in den Dienst einer gemeinsamen Sache stellt und immer wieder von Neuem um die Akzeptanz und Legitimität der Wahrnehmung dieser Funktion ringt. Die Glaubwürdigkeit in der Übernahme dieser spezifischen Art von Verantwortung wächst aus der gemeinsamen Überzeugung aller Betroffenen, dass sich das Führungshandeln primär aus der Sorge um die Überlebens- und Zukunftsfähigkeit des jeweiligen Verantwortungsbereiches speist und nicht von anderen Interessen und Motivlagen getrieben wird. Führung zielt auf die erfolgreiche Gestaltung des Miteinanders in Organisationen. Herausforderungen und Schwierigkeiten im Zusammenspiel erfolgreich zu meistern, dafür als einzelne Person wie auch als Mannschaft die erforderlichen Fähigkeiten zu entwickeln, das versorgt soziale Einheiten mit Energie. In diesem Sinne sind Glaubwürdigkeit und Vertrauen in ein kompetentes Wahrnehmen der Belange des jeweiligen Ganzen die entscheidenden Ressourcen, damit Führungskräfte gemeinsam mit anderen in die »gebündelte Kraft« ihres Verantwortungsbereiches kommen. Ein Verwurzeltsein in einer gemeinsam geteilten Wertebasis kann dafür in hohem Maße von Nutzen sein.

• Aus den genannten Gründen stehen Führungskräfte von allen Seiten extrem unter Beobachtung. An ihrem Verhalten »entziffert« die Organisation permanent ihren eigenen Zustand. Deswegen sind Führungskräfte für die Realitätswahrnehmung, für die Qualität des sozialen Miteinanders und für das zumeist konflikthafte Ringen um tragfähige Entscheidungen in hohem Maße mitverantwortlich. Weil sie so sehr im Zentrum der organisationalen Aufmerksamkeit stehen, ist ihr tatsächliches Verhalten enorm kulturprägend (dazu immer noch grundlegend Schein 1995 und 1999). Vor diesem Hintergrund können sie dieses gesteigerte Beobachtetwerden gezielt als Hintergrund für ihre eigenen Interventionen nutzen, wenn sie eine entsprechende Sensibilität für die ständig mitlaufenden Prozesse des Beobachtens von Beobachtungen entwickeln und daraus geeignete Impulse für ihre Selbstreflexion und die Steuerung ihres Führungsverhaltens gewinnen. »Selbstführung« ist in diesem Sinne eine wichtige Quelle der Einflussnahme im eigenen Verantwortungsbereich. Die Grundlage dafür schafft eine konsequente, reflexive Auswertung der eigenen Selbstbeobachtung auf der Basis einer Einheit von Handeln und Erleben. Ein unverstellter Zugang zu den eigenen Gefühlen und Erlebniswelten eröffnet Führungskräften stets wichtige Hinweise darauf, in welcher Situation sie sich gerade befinden und was deshalb als Nächstes ansteht.

Mental bedeutet dies eine Umstellung von »die Situation beherrschen wollen« auf »mit dem Situationspotenzial intelligent mitgehen«. Diese Haltung impliziert, »im Umgang mit den Überraschungen eines komplexen Phänomens die eigenen Erwartungen zu korrigieren, die eigenen Erinnerungen aufzufrischen und so eher zu lernen als zu beharren« (Baecker 2007, S. 109). Schon diese wenigen Andeutungen zum Führungsverständnis zeigen, wie anspruchsvoll und gleichzeitig erfolgskritisch dieses Geschäft in den heutigen Organisationen geworden ist. Je mehr Organisationen ihre Binnenkomplexität steigern, umso mehr brauchen sie »gute Führung«, d.h. funktionstüchtige Führungsstrukturen und Persönlichkeiten auf den einzelnen Positionen, die den Anforderungen derselben auch gewachsen sind. Deswegen ist heute das Entwickeln solcher Strukturen und geeigneter Führungspersönlichkeiten explizit oder implizit immer ein mitlaufendes Thema aller Prozesse der Organisationsveränderung. Ausreichend elaborierte Lernarchitekturen haben diese ko-evolutionäre Kapazitätsentwicklung systematisch im Blick. Denkt man das hier vorgestellte Führungs- und Organisationsverständnis konsequent zu Ende, dann wird deutlich, dass Führung als eine ihrer wesentlichen Aufgaben sich selbst zum Gegenstand hat. Führung führt Führung, was letztlich ja auch der Sinn von »good governance« ist.

4. Was ist das »Kerngeschäft« von Führung?

Um eine Organisation laufend mit den »passenden« Soll- Ist-Differenzen zu versorgen, haben wir sechs Aufgabenfelder identifiziert, um die sich Führungskräfte kümmern müssen (natürlich je nach Führungsebene mit unterschiedlicher Gewichtung und zeitlicher Priorisierung; dazu ausführlicher Wimmer 1995). Diese Aufgabenfelder gruppieren sich um unvermeidliche Grundparadoxien, deren Bearbeitung im Kontext der jeweiligen Organisation letztlich den Wertschöpfungsbeitrag von Führung ausmacht.

4.1. Das Aufgabenfeld »Zukunft«

Hier geht es um die periodische Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft, d.h. um Strategieentwicklung, Sinnstiftung, Identitätsentwicklung in periodischen Abständen. Dieses Aufgabenfeld antwortet auf die Neigung der Organisation, sich in der Profilierung der eigenen Aktivitäten primär aus den Problemen der Vergangenheit zu versorgen (vergangenheitsgetriebene Entwicklung). Führung »stört« die Vergangenheitsorientierung durch eine periodische Erneuerung des eigenen Existenzgrundes. Dies bedeutet, die Organisation konsequent von ihrer wünschenswerten Zukunft her führbar zu machen und sie bis zu einem gewissen Grad aus ihrer »Pfadabhängigkeit« zu befreien.

4.2. Das Aufgabenfeld »Ausrichtung auf die relevanten Umwelten«

Hier steht die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Stakeholdern im Umfeld im Mittelpunkt, insbesondere die Beschäftigung mit den Kunden und ihren sich ändernden Bedürfnissen, d.h., es geht darum, die organisationsinternen Verhältnisse so gestalten, dass die Kommunikation nach außen, insbesondere der Leistungsaustausch, die gewünschten Wirkungen erzielt und dass die Wirkungen laufend beobachtet und evaluiert werden. Organisationen, sich selbst überlassen, neigen eher zur Binnenorientierung und zur eigenen Auslastung mit selbstbezüglichen Themen. Führung »stört« diese Neigung durch die Wiedereinführung des externen Blickwinkels auf relevante Umfeldentwicklungen und die damit verbundenen Herausforderungen des Marktes und anderer Umweltdimensionen.

4.3. Das Aufgabenfeld »Umgang mit knappen Ressourcen«

Im Blickfeld dieses Aufgabenfeldes steht die Auseinandersetzung mit dem Ressourceneinsatz, d.h. mit der Wertschöpfungsorientierung in allen Prozessen der Organisation. Mit diesen Führungsaktivitäten kommt das ökonomische Kalkül organisationsintern ins Spiel. Organisationen neigen dazu, einen ständigen Mehrbedarf der für die anstehenden Aufgaben einzusetzenden Mittel zu generieren; sie besitzen eine eingebaute Tendenz zur »Verschwendung«; sie haben aus sich heraus keine eigene gleichsam automatisch wirkende Wachstumsbremse für ihren Ressourcenbedarf. Führung »stört« durch ein gezieltes Ressourcenmanagement, d.h. durch eine ständige Beobachtung aller Leistungsprozesse unter der Frage nach Aufwand und Ertrag.

4.4. Das Aufgabenfeld »Welche Art von Organisation braucht die Organisation?«

Führung sorgt für eine gezielte Auseinandersetzung mit den bestehenden Organisationsverhältnissen, d.h. für eine laufende Organisationsentwicklung zur Sicherung der eigenen Antwortfähigkeit gemessen an den Herausforderungen des Umfeldes. Organisationen neigen dazu, an ihren einmal eingespielten Prozessen, Strukturen, Routinen und Regeln festzuhalten (Sichert die gegebenen Rollenverteilungen, Einflusssphären und Karrierechancen der Mitglieder einer Organisation). Führung »stört« durch ein periodisches Auf-den-Prüfstandstellen der aktuellen Verfasstheit der Organisation; sie sorgt sich laufend um geeigneten Organisationsformen für eine bedarfsgerechte Leistungserbringung. Ziel dieser Einwirkungsrichtung von Führung ist eine Steigerung der Lernfähigkeit der Organisation durch wirksame und behutsam gesteuerte Organisationsentwicklungsmaßnahmen.

4.5. Das Aufgabenfeld »Kopplung von Person und Organisation«

Bei diesem Aufgabenfeld geht es um eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Personalsituation, d.h., es gilt Sorge dafür zutragen, dass die richtigen Leute an Bord sind, dass sie ihr Leistungspotenzial entfalten und dass sie sich mit den veränderten Anforderungen der Organisation mitentwickeln können. Organisationen tendieren entweder dazu, so zu tun, als hätten sie unbegrenzten Zugriff auf das Leistungspotenzial ihrer Mitglieder, oder sie überlassen den Einsatz des eigenen Engagements, die persönliche Weiterentwicklung etc. gänzlich ihren Mitgliedern. Führung »stört« diese Tendenz durch eine sorgfältige Achtsamkeit auf die Passung von organisationsbedingten Anforderungen und persönlichen Leistungspotenzialen, durch ein Personalmanagement auf allen Ebenen

4.6. Aufgabenfeld »Schaffung von Möglichkeiten der Selbstbeobachtung«

In diesem Aufgabenfeld geht es ganz zentral um eine Auseinandersetzung mit der eigenen Steuerungsfähigkeit, d.h., Führung sorgt dafür, dass man über den eigenen Zustand zeitgenau Bescheid weiß (Verfügen über brauchbare Kennziffern, Diagnosetools etc.). Organisationen neigen dazu, in sich selbst eine enorme Vielfalt von auf sich selbst bezogene Wirklichkeitskonstruktionen zu entwickeln, die die Rechtfertigungsbasis für ausgesprochen widersprüchliche Handlungsimpulse abgeben. Führung »stört« diese Neigung durch die Schaffung von allgemein akzeptierten Beobachtungspunkten (hinterlegt durch Kennziffern), um Abweichungen von der geplanten Entwicklung frühzeitig feststellen zu können. Daraus resultieren der Realität angemessene Korrekturmaßnahmen, die auf Abweichungen mit Abweichungen reagieren. In diesem Sinne kümmert sich Führung um die Installation und ständige Weiterentwicklung eines funktionstüchtigen kybernetischen Regelkreises mit dem Ziel, die eigene Steuerungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Wenn Führungskräfte aufeinander abgestimmt diese sechs Gestaltungsdimensionen in ihrem Aufmerksamkeitsfokus haben, dann statten sie ihr Unternehmen / ihre Organisation mit jener Entwicklungsfähigkeit aus, die es in den jeweiligen Umwelten braucht, um sich erfolgreich und vor allem nachhaltig behaupten zu können.

Zum Autor: Rudolf Wimmer, Dr., ist apl. Professor für Führung und Organisation am Wittener Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke. Außerdem ist er Partner der osb-i AG und einer der drei Gründer des Management Zentrum Witten.

Literatur:

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Dr. Rudi Wimmer, Professor für Führung und Organisation am Wittener Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke