Flexibilisierung – Fluch und Segen

Der Ruf nach mehr Flexibilität gehört heute zum Standardvokabular des Managements. Dabei schöpfen viele Unternehmen die zahlreichen, bereits vorhandenen Flexibilitätspotenziale nicht einmal im Ansatz aus. Kein Wunder, denn erfolgreiche Lösungen müssen viele Klippen umschiffen und sich für alle Beteiligten lohnen. Eine anspruchsvolle Aufgabe.

Bei Airlines ist der Weg vom Rekordergebnis in die Verlustzone denkbar kurz. Wie kurz, das schilderte Markus Kopp, Leiter des Zentralbüro Human Resources der Lufthansa AG, im Zuge eines Vortrags beim Praxiskolloquiums des Instituts für Personalwirtschaft der Wirtschaftsuniversität Wien anhand eines eindringlichen Beispiels. Im Jahr 2002 erwirtschaftete die Lufthansa AG einen Gewinn von 952. Mio. Euro und war damit die profitabelste Airline weltweit. Wandern aber über das Jahr bei den Deutschland/Europa Destinationen pro Flug nur fünf Business-Class-Passagiere in die Economy-Class ab, dann sinkt der Unternehmensgewinn allein aufgrund dieser einen Veränderung um gut die Hälfte. Geht zudem die Auslastung bei den Asienflügen von vielleicht 75-80 Prozent auf 66 Prozent zurück, vermindert sich der Gewinn um weitere 40 Prozentpunkte. Verbilligen sich dann noch die Erlöse pro Ticket auf der Nordatlantikroute um 13%, so Kopp, ist der Weg in die roten Zahlen bereits zügig beschritten.

Markteinbruch um X-Prozent  – Aktivierung  der Reaktionsstufe Y

Nun ist die Luftfahrtsindustrie eine der volatilsten Branchen überhaupt. Eine Branche, in der aufgrund „regionaler“ Ereignisse die globale Nachfrage innerhalb weniger Tage um 20 Prozent und mehr einbrechen kann, wie S.A.R.S. und Iraqkrieg wieder vor Augen geführt haben. Wenn, wie bei der Lufthansa, statt der gewohnten 13 Flüge pro Woche nach Hongkong plötzlich nur mehr ein Flug stattfindet, und selbst dieser nur mit einem Drittel der üblichen Auslastung, dann erkennt jeder Mitarbeiter mit freiem Auge, dass hier Millionen verbrannt werden. Und wenn solch ein Konzern dann auch noch eine Unternehmenskultur und einen Vorstand besitzt, der anders als fast alle Konkurrenten betriebsbedingte Kündigungen ausschließt, dann bedarf es schon enormer interner Flexibilisierungsbemühungen, um diese Marktschwankungen zumindest halbwegs abfangen zu können. Vor allem bedarf es systematisierter Prozesse und eines klaren personalwirtschaftlichen Konzepts, um wegzukommen von Schnellschussaktionen und – mindestens ebenso wichtig – den Mitarbeitern Anhaltspunkte zu liefern, auf die sich frühzeitig einstellen können.

Bei der Lufthansa wurden daher seit dem 11. September im Personalbereich drei Stufen mit unterschiedlichen Maßnahmenbündeln definiert und mit den Gewerkschaften ausverhandelt: Stufe 1 meint drohende Krise und temporäre Personalkostendämpfung und umfasst Maßnahmen wie Einstellungsstopp, Ausschreibungsstopp, Versetzungsstopp, Ernennungsstopp, Höhergruppierungsstopp, Reduzierung von Reise- und Sachkosten u.a.m. Stufe 2 meint akute Krise und temporäre Personalkostensenkung und Maßnahmen wie 35h-Woche, Kurzarbeit in der Kabine, tarifvertragliche Kostensenkungsregelungen, Abfindungen, Mehrflugstunden im Cockpit, Probezeitkündigungen, Vergabe unbezahlten Urlaubs, Offensive für Teilzeit und nach dem 11. September etwa auch einen freiwilligen Gehaltsverzicht der Führungskräfte. Stufe 3 steht schließlich für industrielle Veränderung, Redimensionierung und die Notwendigkeit einer dauerhaften Personalkostensenkung mit anderen Personalplattformen (Outsourcing) und betriebsbedingten Kündigungen. Eine Stufe, die bislang noch nicht aktiviert wurde.

Flexibler heißt: mehr Optionen

Diese Fähigkeit zu raschen Kapazitätsanpassungen ist aber nicht mehr auf einige wenige Branchen beschränkt. Ob Markteinbrüche, ständiges Auf und Ab oder starke Zuwächse, Schwankungen werden in der heutigen Wirtschaft zum Normalzustand. Mitverursacht durch Produktionskonzepte wie auftragsgesteuerter Fertigung, bei der Lager als Puffer wegfallen und so jede Nachfrageveränderung voll durchschlägt. Umso wichtiger wird es für Unternehmen, sich:

     

  1. darüber klar zu werden, mit welchen Maßnahmen derzeit auf Schwankungen reagiert wird
  2. das vorhandene Handlungsrepertoire systematisch um weitere, bisher nicht in Betracht gezogene Flexibilisierungsmöglichkeiten zu erweitern: Wo haben wir welche Möglichkeiten zur Flexibilisierung und unter welchen Umständen würde uns was wie helfen?
  3. die verschiedenen Optionen in Konzepte zu gießen, die bei Bedarf aus der Schublade geholt werden können, um schnell und professionell agieren zu können.

Wie vielfältig diese Flexibilisierungoptionen sind, zeigt ein kurzer Blick auf die wichtigsten Felder: Arbeitszeiten (Gleitzeit, Bandbreiten- und Schichtmodelle, Vollzeit, Teilzeit); Beschäftigtenverhältnisse (fix Angestellte, geringfügig Beschäftigte, befristete Verträge, Projektarbeit mit Werkverträgen, freie Dienstverträge, Leiharbeit); Arbeitsaufgaben (Mehrfachqualifikationen, Jobrotation); Arbeitsort, Entgeltsysteme, aber genauso auch die gewählte Organisationsform (s.a. Artikel auf Seite ...)

Ohne Zustimmung keine Option

Drei Punkte machen Flexibilisierungsbemühungen besonders brisant: Zum ersten hängen viele dieser Optionen eng miteinander zusammen. Arbeitszeitregelungen etwa sind oft eng verbunden mit bestimmten Entgeltsystemen. (speziell im öffentlichen Bereich). Veränderungen in einem Bereich sind daher ohne gleichzeitige Veränderungen in anderen Bereichen nicht durchsetzbar.

Zum zweiten sind die meisten Optionen in ihrer Umsetzung viel zu komplex, um sie Mitarbeitern einseitig aufzuoktroyieren. Flexibilität ist keine Einbahnstrasse. Flex-Projekte haben es quasi systemimmanent mit unterschiedlichen Interessen tun, ohne Interesensabtausch und den Blick für das Wohlergehen aller scheitern diese Projekte daher furchtbar. Diese Bruchlinien verlaufen keineswegs nur zwischen Management und Mitarbeitern, sondern oft auch innerhalb der Geschäftsführung oder zwischen Führungsebenen. Viele Firmen lassen sich daher nur dann auf solche Projekte ein, wenn der Leidensdruck schon extrem hoch ist. Kreative Lösungen, die von allen mitgetragen werden, brauchen Zeit und genau die ist in akuten Krisen bekanntlich knapp. Das macht die Sache nicht einfacher.

Zum dritten gibt es auch die Gefahr, beim Flexibilisieren übers Ziel hinauszuschießen. Dann nämlich, wenn statt für bestimmte Berufsgruppen individuelle Regelungen getroffen werden und damit der Verwaltungsaufwand explodiert. Das Motto ist also: so flexibel wie nötig, aber so einfach wie möglich.

Zeitgewinn - Bindungsverlust

Klar ist, dass eine Flexibilisierung der Arbeitsorganisation Einfluss hat auf die private Lebensgestaltung, was jedoch nicht zwangsläufige negativ sein muss. Flexible Arbeitszeitmodelle können den individuellen Bedürfnissen durchaus entgegenkommen, Mehrfachqualifikationen erhöhen die eigene Employability und selbst erzwungene Jobwechsel sollen sich im Nachhinein mitunter schon als Segen erwiesen haben.

Die geforderte Flexibilität, meist als Gegensatz gebraucht zu Starrheit, hat aber auch einen nicht unerheblichen Preis: Der Soziologe Richard Sennet unterzog das Thema bereits 1998 in seinem Buch „Der flexible Mensch“ einer kritischen Betrachtung: „Starre Formen der Organisation stehen unter Beschuss, ebenso die Übel blinder Routine. Von den Arbeitnehmern wird verlangt, sich flexibler zu verhalten, offen für kurzfristige Veränderungen zu sein, ständig Risiken einzugehen und weniger abhängig von Regeln und förmlichen Prozeduren zu werden.“

Solche Menschen aber geraten laut Sennet in einen Zustand des Dahintreibens, einer „drift“. Durch schnelle Arbeitsplatzwechsel entstehen zu den Kollegen nur mehr oberflächliche Beziehungen, zu tiefer gehenden Beziehungen fehlt die Zeit. Zeit, um sich kennen zulernen und Vertrauen aufzubauen, die Basis jeder Beziehung.

„Nichts langfristiges“ ist ein verhängnisvolles Konzept für die Entwicklung von Vertrauen, Loyalität und gegenseitiger Verpflichtung. Insofern sind Distanz und oberflächliche Kooperationsbereitschaft ein besserer Panzer im Kampf mit den gegenwärtig herrschenden Bedingungen als ein Verhalten, das auf Loyalität und Dienstbereitschaft beruht. Ein Interviewpartner von Sennet drückt das so aus: „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie dumm ich mir vorkomme, wenn ich meinen Kindern etwas über Verpflichtungen erzähle. Es ist für sie eine abstrakte Tugend, sie sehen sie nirgendwo.“

Wie – so fragt Sennet - kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln? Die Bedingungen der neuen Wirtschaftsordnung befördern ja eine Erfahrung, die in der Zeit, von Ort zu Ort und von Tätigkeit zu Tätigkeit driftet. Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrecht erhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Wenn man als junger Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium heute schon damit rechnen muss,, in vierzig Arbeitsjahren wenigstens elf mal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis wenigstens drei mal komplett auszutauschen – d.h. in der eigenen Erfahrung in der Zeit, von Ort zu Ort und von Tätigkeit zu Tätigkeit zu driften, was bewirkt das eigentlich mittel- und langfristig in den Personen, Organisationen und der Gesellschaft? Bislang ist nur eines sicher: Wir werden es erleben.

Autor: Mag. Peter Wagner, Leaders Circle, 10.2003

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