"Das ist kein Change, das ist verrückt."

Dr. Ruth Seliger von Train Consulting über den Unterschied zwischen Wandel erster und zweiter Ordnung, triviales und nicht-triviales Verständnis von Management und Veränderungsinitiativen mit Legitimationsproblemen.

Was ist wirklicher Wandel und was ist Entwicklung, Evolution?

Ich würde von Wandel reden, wenn wir es mit Musterwechseln zu tun haben, wenn sich die Art und Weise verändert, wie sich Organisationen entwickelt. Wenn es sich also um eine sogenannte Veränderung zweiter Ordnung handelt. Dann rede ich von Change. Change Management hat keine Bedeutung im Rahmen der ganz normalen evolutionären Entwicklungsprozesse.

Der Wechsel von einer funktionalen zu einer Geschäftsfeldorganisation – ist das Change?

Das kommt darauf an. Das kann man nicht generell sagen. Die entscheidende Frage ist: Nach welchen Prinzipien und Mustern hat sich die Organisation bisher verändert und entwickelt? Wenn ich dieses Muster der Veränderung verändern muss, wenn ich also die bisherige Operationsweise der Organisation verändern muss, die Grundannahmen, die Grundmodelle, die Grundmuster, die Grundoperationsweisen, dann wäre das Change. Wenn ich aber nur die Kästchen im Organigramm verschiebe, Türschilder austausche oder Köpfe einspare, dann wäre für mich ein Entwicklungsprozess, der Versuch, zu optimieren.

Haben Sie ein konkretes Beispiel, an dem man den Unterschied festmachen könnte?

Eine Veränderung 2. Ordnung entsteht dadurch, dass sich die Logik der gesamten Organisation verändert, ihr Selbstverständnis, die Art, wie sie arbeitet. Wenn sich eine Firma wie Gebrüder Weiss von einer stark produktbezogenen Arbeitsweise, wo bisher die einzelnen "Produkte" wie Landverkehr, Seefracht, etc. im Vordergrund standen und die Organisation rund um diese Produkte gebaut war, zu einem "Logistikdienstleister" umdefiniert, dann ist das grundlegender Identitätswechsel, ein anderes Geschäftsmodell, das neue Strukturen und Prozesse erfordert, neue Qualifikationen der Mitarbeiter, eine veränderte Haltung im Management, andere Verhaltensweisen, etc.

Diese neuen Strukturen und Prozesse erzeugen Schnittstellenproblematiken, die es bisher nicht gab und wodurch sich die Organisation möglicherweise erstmalig wirklich mit Konfliktmanagement beschäftigen müsste. Damit einher gehen völlig neue Herausforderungen für die Führung in Bezug auf ihr Führungsverständnis und ihre Führungsaufgaben. Hier kann man nicht von Entwicklung oder Optimierung sprechen, hier wird die gesamte Organisation sozusagen um 90 Grad gedreht und man verpasst ihr eine völlig andere Logik, wie sie ab jetzt wirtschaften wird. Das ist eine unglaubliche Herausforderung an alle Beteiligten, auch und vor allem an das Management, weil sich das Management doppelt ändern muss: es muss sich selber ändern und es muss die Organisation ändern.

Veränderung 1. Ordnung meint eine Veränderung innerhalb des Systems, Veränderung 2. Ordnung eine Veränderung des Systems selbst. Das eine wäre Optimieren, das andere, sich selbst neu zu erfinden.

Change ist so ein Allerweltsbegriff, jeder definiert Change anders....

In der Literatur gibt es einen gewissen Bruch in der Thematik. Die alte, gruppendynamisch unterfütterte Theorie der Organisationsentwicklung war verbunden mit Grundannahmen wie "Betroffene zu Beteiligten machen". Die OE war im Grunde ein sehr personenbezogener und sehr evolutionärer Ansatz, mitunter auch etwas moralinsauer. Im Mittelpunkt stand nicht die Organisation, sondern im Mittelpunkt standen die Menschen. Es war der Versuch, Organisationen zu ändern, indem man die Menschen ändert. Der durchaus emanzipatorische Anspruch war: Veränderung ist dann gelungen, wenn es gelingt, die Beziehungen der Leute gut zu gestalten.

Der Bruch kam meiner Einschätzung nach mit der Entwicklung des systemischen Beraterverständnisses, wo man die Differenz der Veränderung 1. und 2. Ordnung eingeführt hat. Im Fokus standen nicht mehr die Personen, sondern die Organisation. Personen sind so gesehen Umwelt der Organisation, ein Satz, der immer wieder für Missverständnisse sorgt. Mit dieser Unterscheidung kam die Art und Weise der Veränderung der Organisation  in den Blick: Ist es eine Optimierung, eine Verbesserung oder eine radikale Veränderung im Sinne eines Musterwechsels?

Was heißt das jetzt für die Manager, welche Anforderung sind damit verbunden?

Für mich ist Gebrüder Weiss ein Paradebeispiel für so einen Changeprozess. Change Management heißt für die Manager, dass sie selbst auch Gegenstand des Wandels sind, dass sie daher lernen müssen und dass sie mit so einem radikalen Wechsel sich selber und der Organisation zuerst einmal den Boden unter den Füssen wegziehen. Die Folge ist, dass sich die Organisation selber in einem unglaublichen Maße thematisieren muss. Sie muss in einer Art und Weise auf sich schauen, wie sie das vorher nicht getan hat. D.h. die Art der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung verändert sich mit.

In normalen Entwicklungsprozessen ist die Herausforderung für das Management nicht so groß. Wenn ich z.B. als Bank im Ausland zukaufe, muss ich als Management in meinem Selbstverständnis nicht unbedingt große Sprünge machen. Alleine aufgrund einer der neuen Größe unterliegt mein Selbstkonzept noch nicht unbedingt einer großen Veränderung. Es ist eher mehr desselben.

Was hat diese Selbstthematisierung für Auswirkungen auf der persönlichen Ebene?

Manager alten Typs haben oft ein Verständnis von Veränderung, das man ungefähr so charakterisieren könnte: Erstens, der Manager entscheidet allein, wie sich die Organisation zu verändern hat. Zweitens, die Veränderung entsteht dadurch, dass er sagt, wie es sein soll. Drittens die Veränderung entsteht mehr oder weniger von heute auf morgen. Zugrunde liegt also ein triviales Input-Output-Verständnis.

Der Lernprozess besteht dann z.B. darin, dass so ein Manager die Ressourcen seiner Organisation wirklich als Ressource erkennt, dass er merkt, dass er die Leute ins Boot holen muss – aber ins Boot holen nicht wie früher in der OE, damit sie besser motiviert sind, sondern damit er ein umfassenderes Bild bekommt, wie er zu steuern hat. Damit wird Führung plötzlich als zirkulärer Prozess verstanden, bei dem man als Manager hinhören und hinschauen muss, was die Führungskräfte der nächsten Ebene sagen und tun und das als wichtigen Input für die nächsten Schritte verwendet.
Ebenso wichtig ist, sich als verantwortlicher Manager immer wieder zu fragen: Was ist schon entschieden, woran ist nicht zu rütteln und wo muss andererseits das Management bzw. wo müssen die Mitarbeiter eingebunden werden, weil sie Informationen haben, die ich an der Spitze nicht habe? Wo kann ich noch verhandeln und modifizieren? Bei solchen radikalen Veränderungen haben Top-Manager oft Bauchweh und fragen sich zurecht: Wie soll ich das nur bewältigen? Die ehrliche Antwort wäre: "Allein können Sie das gar nicht - Sie müssen es aber auch nicht."

Woran muss man bei so einem radikalen Wandel unbedingt denken?

Zum einen erfordert so ein radikaler Wandel typischerweise  völlig neue Qualifikationen von den Leuten, daher braucht es ein begleitendes PE-Programm. Zudem braucht man für die Durchführung ein Managementteam, das wirklich auf den Wandel eingeschworen ist und sich geschlossen nach außen präsentiert. Das wertet die Führungsstruktur unheimlich auf und entlastet die Person an der Spitze enorm.

Wenn eine Führungskraft sagt, ich höre immer Change Management, was heißt das jetzt konkret für mich, was sagt man ihr dann? Kann man das lernen? Was heißt es, Wandel zu managen?

Man muss die Art, wie man bisher gemanagt hat, genauso thematisieren und in Frage stellen wie die Organisation. D.h. es braucht eine hohe Bereitschaft, sich selbst in Zweifel zu ziehen und die eigene Art des Führungsgeschäfts völlig neu anzudenken. Dafür gibt es kein Handwerkszeug. Was aber schon hilft, ist das Wissen, dass solche Prozesse nach einem bestimmten Muster verlaufen. Eine radikale Veränderung ist immer ein Stück krisenhaft, d.h. man kann diese Krise nicht vermeiden. Genauso weiß man, dass solche Prozesse immer auch schmerzhaft sind, dass man eine Phase unglaublicher Verunsicherung durch macht, dass man zu bestimmten Zeitpunkten auch einmal völlig orientierungslos dastehen wird, dass man aber genauso sicher wieder die Zuversicht bekommt, dass es einen Ausweg geben wird.

Was also hilft, ist – um es auf eine plakative Formel zu bringen - das Prozesswissen. Das ist sozusagen das Handwerkszeug eines Change-Managers. Das Prozesswissen umfasst auch das Wissen um die verschiedenen emotionalen Stationen, die der Einzelne ebenso wie die Organisation durchleben. Dieses Wissen hilft, aber es hilft nicht so, dass man sich deshalb etwas ersparen könnte. Das Wissen, dass man Trauerarbeit leisten muss, erspart einem nicht die Trauer und die Trauerarbeit. Man muss trauern können und man muss in der Organisation Räume schaffen, in denen sich diese Unsicherheiten, Ängste und Befürchtungen zeigen und bearbeitet werden können. Das hat man in einem normalen Entwicklungsprozess nicht. Da muss man nicht trauern, sondern sich nur pragmatisch überlegen, wie gehen wir es an? Was ist zu tun? Wie können wir Verfahren verbessern, Instrumente verbessern? Etc. Sich diesem  Change auszusetzen, ist daher eine hohe menschliche Herausforderung und keineswegs trivial.

Was meint trivial versus nicht-trivial?

Ich habe immer die Metapher von Fritz Simon im Kopf, der triviales und nicht triviales Verständnis von Management anhand der Metapher Schachspielen versus Tennis spielen erklärt. Das triviale Verständnis wäre das Bild des Schachspielers: Ich bin außerhalb des Schachbrettes, bewege irgend welche Figuren und all das hat mit mir nichts zu tun. Das andere Verständnis wäre das Bild des Tennisspielers: Ich bin selber am Platz und spiele hier mit.

Solange Manager glauben, dass sie wie ein Schachspieler agieren - sie kaufen Teile dazu oder geben Teile weg und schieben Abteilungen und Menschen hin und her - scheitern Changeprozesse. Sei es, weil die Kulturen nicht zusammen passen, weil die Menschen verunsichert sind, weil Informationswege abgeschnitten werden, weil wichtiges Wissen abwandert etc. All das ist mittlerweile schon bekannt und durch Untersuchungen belegt. Man weiß, was es kostet, wenn Manager versuchen, Organisationen so umzubauen, als würde sie bei einer Maschine einzelnen Teile auswechseln. Eine der wichtigsten Botschaften an Manager ist: Ihr seid mitten drinnen im Wandel! Ihr seid Subjekt und Objekt der Veränderung. Das zu wissen und zu berücksichtigen ist Teil der Profession.

Dieses Gerede vom ständigen Wandel – wie realistisch ist das? Es braucht doch auch immer wieder Stabilität, oder?

Ja, sagen wir anders rum. Es ist noch viel schlimmer. Es gibt tatsächlich Organisationen, in denen heute ständig verändert wird. Allerdings glaube ich, dass es teilweise künstlich herbei geführt wird, um gewisse Stakeholder bei Laune zu halten. Dazu müssen sich Organisationen scheinbar in einer ständigen Turbulenz befinden, es braucht ständige Action, damit der Kapitalmarkt den Eindruck hat, da tut sich was. Das ist aber kein Change, das ist verrückt. Das hat mit marktgetriebenem Wandel nichts zu tun. Es braucht ein "Auf zu neuen Ufern", das begründbar und nachvollziehbar ist. Ganz im Sinn eines "Wir gefährden unsere Marktposition und das Überleben der Organisation, wenn wir nicht...... Oder: Wenn wir dieses und jenes nicht tun, laufen wir Gefahr, dass.....

Also die Sinnfrage....

Absolut. Wenn der Sinn für niemanden mehr nachvollziehbar ist, außer dass es heißt, man muss wieder einmal eine Aktion setzen, nur um dem Markt Aktivität und Dynamik zu signalisieren, dann spüren das die Mitarbeiter und in solchen Organisationen werden die Leute auch immer frustrierter und zynischer.
Das Gerede vom ewigen Wandel ist eine kranke Geschichte. Früher gab es das Gerede von den stagnierenden, verkrusteten, sklerotischen Organisationen, heute dafür das Gerede vom ständigen Wandel und mitunter schon hyperaktive Organisationen. Das ist genauso krank. Oft können die Organisationen gar nicht mehr selbst entscheiden, ob und wo und auf welche Art sie sich wandeln müssen und wo sie auch einmal Ruhe geben. Sie sind teilweise nicht mehr Herr dieser Entscheidungen. Da wird dann irgendwo fern von hier entschieden, dass in sämtlichen europäischen Werken wieder einmal McKinsey einfährt und nach Optimierungsmöglichkeiten fahndet. Warum? Dem Konzern geht es blendend, die Landesgesellschaften machen tolle Profite und steigern sich von Jahr zu Jahr – also warum? Insofern komme ich mir mit dem Verständnis von 1. und 2. Ordnung mitunter schon antiquiert vor, weil diese Unterscheidung immer noch von der Idee ausgeht, dass über Veränderung in der Organisation entschieden wird. In den meisten Konzernen ist das Schnee von gestern.

Damit fällt aber immer mehr die Legitimation weg...

Ja, das kann man ja auch beobachten. Was passiert ist, dass die Leute in diesen Organisationen immer zynischer werden, sich teilweise demotiviert zurücklehnen, dann auch resistent werden gegen den wirklich notwendigen Wandel, dass sie dem Management nicht mehr trauen, dass sie ihre eigene Arbeit nicht mehr ernst nehmen und sagen "das spielt gar keine Rolle mehr, wie gut oder schlecht wir die Arbeit machen. Hier gelten ganz andere Kriterien".

Das würde ich gerne scharf abgrenzen von Veränderungsnotwendigkeiten als Anpassungs- oder Entwicklungsnotwendigkeiten aufgrund von Marktveränderungen. Das ist wirklich etwas anders. Das gehört abgegrenzt von Veränderungen aufgrund von Kapitalmarktlogiken. Das eine kann von den Führungskräften mit Sinn ausgestattet und mit Sinn kommuniziert werden, das andere nicht. Das halte ich für eine ganz wichtige Unterscheidung.

Woran entscheidet sich, ob eine Veränderung 1. oder 2. Ordnung notwendig ist?

Die herkömmliche Erklärung – und da fällt mir auch keine andere ein – ist: Wenn man mit der Optimierung nicht mehr weiter kommt. Einer Veränderung unterzieht man sich ja nicht aus Jux und Tollerei. Wenn sich die Dinge mit einer Optimierung nicht so ändern wie ich es brauche, muss man etwas anderes probieren. Wenn etwas innerhalb des Musters nicht geht, muss ich mir das Muster selbst anschauen. Aber man muss immer an schmerzhafte Grenzen stoßen, sonst fasst man in aller Regel keine Veränderung 2. Ordnung ins Auge.

03.2006

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Dr. Ruth Seliger, Train Consulting