Ein Plädoyer für Verzicht

"Die Probleme der Klienten sind komplex und die Berater machen sie durch den fahrlässigen Einsatz von Designs und Methoden noch komplexer – oder zu einfach." So lautet eine der durchaus provokanten Thesen von Mag. Dagmar Untermarzoner von Lemon Consulting und Dr. Andrea Schüller von der Wirtschaftsuniversität Wien in ihrem Aufsatz "Verzicht als Option in Beratungsprozessen".

Frau Mag. Untermarzoner, wann werden die Dinge von Beratern zu sehr vereinfacht, wann unnötig verkompliziert?

Die Aussage "zu komplex" bezieht sich auf eine Methodenkritik in der Beratung. Ich denke, dass die psychologische Dynamik in der Beratungsbeziehung zum Komplexitätsaufbau einlädt. Der Klient erwartet Hilfe, sucht Orientierung, Sicherheit und will kompetent beraten sein. Der Berater sucht aber ebenfalls Orientierung, auch er braucht Anhaltspunkte und Information, wo das Problem liegt und ob er hier helfen kann. Der Berater seinerseits fragt sich: Was ist hier los? Wer will was? Bin ich der Aufgabe gewachsen? Wie bekomme ich den Auftrag? Was ist hier zu tun?

Als Berater bietet man dem Klienten seine eigenen mentalen Modelle zur Ordnungsschaffung im Chaos an: Man liefert Diagnosen und Deutungen, schlägt Methoden, Prozedere und Prozesspläne mit Schritten und Kosten vor. Dies nimmt der Klient dann meist dankbar an, denn diese Vorschläge bringen Ordnung, Entlastung, Sicherheit. Die Gefahr dabei ist, dass Berater und Klienten vorschnell zu "Gefangenen" dieses Weges werden, denn viele dieser "bewährten Methoden" verhindern, dass wir attraktivere, komfortablere, profitablere, einfachere Wege und Ziele finden.

Wieso das?

Angenommen ein Kunde will eine Mitarbeiterbefragung machen, weil es im Unternehmen große Unzufriedenheiten gibt. Dann trägt die Methode Mitarbeiterbefragung schon das ihre zum weiteren Komplexitätsaufbau bei: Man konzipiert einen Fragebogen, definiert z.B. zehn Dimensionen, fragt 40 oder 400 Leute ab, verdichtet das, bildet Hypothesen, spielt das in einem Workshop zurück, diskutiert es, leitet Maßnahmen ab, daraus ergeben sich Projekte usw.

Zum einen kann man natürlich hinterfragen, ob man diesen Aufwand treiben muss, zum anderen, ob man unbedingt zehn Dimensionen braucht. Zum zweiten: Egal wie man vorgeht, wenn man sich einmal mit dem Kunden auf eine Schrittfolge geeinigt hat, ist es natürlich auch riskant, sie wieder umzustoßen. Der Klient könnte verunsichert werden, er könnte mich für unfähig halten etc. Da kommen Befürchtungen ins Spiel und das kann einen davon abhalten, aus dem Augenblick heraus zu agieren, einem spontanen Impuls, einer Eingebung zu folgen, etwas ganz anderes zu probieren, möglicherweise Interventionen wegzulassen, auch wenn man das Gefühl hat, Umwege zu gehen.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel in Situationen, in denen man als Berater den Eindruck hat, das worüber geredet wird, ist nicht das, worum es tatsächlich geht. Ich hatte vor einiger Zeit einen Workshop mit Managern, die ihre Zusammenarbeit in Hinblick auf bestimmte Aspekte klären wollten und ich sollte das moderieren. Nach zwei Stunden hatten wir eine Fülle von Kärtchen auf der Pinwand, schön geclustert, aber die Leute wirkten irgendwie verwirrt. Nun hätte man aus dem Material locker einen 2-Tages-Workshop machen können, ganz klassisch im nächsten Schritt die Themen priorisieren und abarbeiten. Stattdessen habe ich sie gefragt: "Hat Ihnen das jetzt irgendwie weitergeholfen?" Und die klare Antwort war: Nein! Also war die nächste Frage: "Worum geht es denn wirklich?" Darauf Schweigen. Als eine weitere Frage: "Was bräuchten Sie denn, damit wir das hier besprechen könnten?" Und als das einmal geklärt war, waren wir schnell beim zentralen Thema, den massiven Spannungen zwischen zwei Managern und ihren gegenseitigen Enttäuschungen.

Das Beispiel wäre aber eher ein Beweis für die weitverbreitete Annahme, dass das zu Beginn geäußerte Thema immer nur ein "Symptom" ist, ein vorgeschobenes Thema.

Ja und nein. Stimmen tut das aus folgendem Grund: Aus gestalttheoretischer Sicht gibt es zwei Gefühle, die einer Begegnung entgegenstehen, das sind Angst und Scham. Der Klient hat Angst vor der Situation und vor der phantasierten Macht des Beraters und er schämt sich, dass er es nicht selber bewältigen kann, sondern damit zu jemandem gehen muss. Das produziert so etwas wie eine Begegnungsbarriere. Man muss sich schützen. Man geht ja nicht ins Gespräch und sagt zu Beginn: "Ich habe schlaflose Nächte, kenne mich nicht mehr aus und habe total Angst vor meinen Mitarbeitern" oder "ich bin total gekränkt durch das Verhalten von X", das ist ja nicht das Normale. In der Regel kommen die Anliegen total versachlicht daher. Insofern geht es darum, in der Beziehung einen Rahmen zu schaffen, wo diese Angst und Scham möglichst schnell besprechbar werden. Dazu muss Vertrauen aufgebaut werden, damit man möglichst ohne Methodenschnörkel schnell zu den wesentlichen Fragen kommen kann.

Gleichzeitig glaube ich, dass es in einem System ein breites Wissen gibt darüber, was schief läuft. Insoferne sind aufwendige Analysephasen am Anfang eine gute Möglichkeit, vom zentralen Thema abzulenken. Natürlich gibt es bei den Beteiligten sehr unterschiedliche Ansichten darüber, was die Ursachen des Problems sind (diese Person, jene Person, strukturelle Gründe, hinderliche Prozesse oder Regeln etc.), aber über das, was als Problem angesehen wird, sind sich alle ziemlich einig. Die Frage ist, ob der Rahmen da ist, dass das gleich angesprochen werden kann. Und das hängt meines Erachtens nach ganz zentral von der Art der Beratungsbeziehung ab. Wenn man z.B. als Beraterin die Zuschreibung hat, sehr schnell und direkt zu arbeiten, kommen Kunden interessanterweise sehr schnell zur Sache.

Welcher Berater hat diese Zuschreibung?

Das ist ja genau der Punkt. Viele Firmen sind ja schon beratererfahren. Sie erwarten quasi eine bestimmte Vorgangsweise (z.B. Analyse mit Interviews, Hypothesenbildung, etc.) und viele Berater haben – durchaus zu Recht – die Angst, wenn sie diesen Erwartungen nicht entsprechen - indem sie etwa bestimmte Dinge direkt ansprechen - dann bekommen sie eben nicht den Auftrag. Da spielen so Gedanken mit wie "aufwendiger ist gründlicher", "Gut Ding braucht Weile", "das kann doch nicht so einfach sein". Oder die Annahme: "Komplexe Problemstellungen erfordern komplexe Architekturen und Designs, einfache Probleme kommen mit einfachen aus – und unser Problem ist doch wirklich komplex!" (Sonst würden wir uns doch auskennen und es selbst lösen können).

Wie ist das nun mit komplex und einfach?

Was bei diesen Überlegungen nicht gesehen wird, ist, dass Einfachheit und Komplexität nicht objektiv gegeben sind. Gemäß der Chaostheorie sind Komplexität und Einfachheit nicht innewohnende Eigenschaften der Objekte, sondern sie entstehen erst aus der Interaktion zwischen Beobachter und Objekt. Das heißt, ein Organisationsproblem wird einfach und/oder komplex, wenn der Berater mit den Klienten daran arbeitet. Im Urzustand ist es eine Datenmenge, die in ihren Ordnungsmöglichkeiten (=Komplexität) unendlich ist und demzufolge offen ist für unendlich viele Einfachheiten (=Entscheidungen).

Anders gesagt: Der Klient schaut auf seine Organisation und denkt sich, da geht es nicht und dort geht es nicht, ich kenn mich nicht aus. Das Problem ist für ihn komplex. Eine Vielfalt von Zusammenhängen, deren Ursache-Wirkungszusammenhänge nicht so einfach zu bestimmen sind. Es ist nicht so leicht zu sagen, wo man eine bestimmte Intervention setzen muss, um das Problem aufzulösen. Dann kommt der Berater, schaut mit dem Klienten drauf und sagt, "Na, da machen wir eine Erhebung, damit schauen wir uns das ganze an" und produziert damit noch mehr Datenschlamassel. Wenn man also darauf schaut und sagt, es gibt so eine Vielfalt von Zusammenhängen, die man alle erst untersuchen muss, um zu verstehen wie das zusammenhängt, dann ist das etwas, das in der Beratungsbeziehung produziert wird. Sich dessen bewusst zu sein, ist der erste Schritt zu Einfachheit.

Was meint  nun "einfache" Interventionen und was leisten Sie in diesem Zusammenhang?

Ich möchte nicht missverstanden werden. Es geht mir nicht ums Simplifizieren oder ums Verteufeln komplexer Veränderungsarchitekturen. Das Plädoyer ist Verzicht, im Sinne von: immer zu schauen, was kann ich weglassen. Wie kann ich der Tendenz zur Überstrukurierung entgegenwirken? Welche Frage, welchen Designschritt, welche Methodik kann ich weglassen? Aus meiner Sicht sind die erfolgskritischen Qualitäten des beraterischen Tuns Chaostoleranz, Aufmerksamkeit und dabei im Kontakt zu sich und zum Klienten sein. Die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was gerade ist, repräsentiert den einfachen Weg. Er führt direkt zu(m) Ort(en) der Energie und ihren Zustandsformen: Was beschäftigt und interessiert mich gerade, was fühle ich und wo sind die Klienten? Wann und von wem kommt neue Energie ins Spiel? Welche Teilnehmer sind im Moment blockiert, wo sind Energiezentren und wie könnten sie angesprochen werden, usw.

Fragen wie diese helfen, wach zu bleiben und sich von der Aufmerksamkeit zu Antworten, weiteren Fragen und Aufgaben führen zu lassen, anstatt sie krampfhaft aus dem eigenen Kopf, dem Design oder aus einem Arbeitsschritt herauspressen zu wollen. Gepaart mit dem Mut, ihnen zu folgen und das Geschaute zu kommunizieren, wird Aufmerksamkeit zur Gestaltungskraft von Berater und Klient. Beide Qualitäten sind Voraussetzung für Kontakt, aus dem Interesse an der Situation und Energie für Gestaltung entspringt.

Diese Fähigkeit geht verloren, wenn beraterisches Tun auf Kontrolle und Macht fixiert ist, von Angst vor Fehlern blockiert ist und sich dem Bedürfnis nach der scheinbaren Sicherheit geschlossener Ordnungen ergibt. Aus dieser Haltung entstehen Kontrollzirkel. Das sind solche, wo Berater und Klient nicht miteinander in Kontakt sind, sondern – gestalttheoretisch gesprochen - im Kontakt mit einer Schablone. Schiebt sich die Schablone (oder schiebt sie der Berater) weiter zwischen die Kontaktflächen, so driften Gefühle und Gedanken zur Situation und zu den Erfordernissen der Situation in den Hintergrund. Konzeptgemäße, "ideale" Lösungen, Nebenschauplätze oder Ersatzhandlungen treten in den Vordergrund und die Arbeit wird in der Regel anstrengend oder langweilig. Wenn diese Gefühle auftreten, ist das ein deutliches Signal, dass man nicht mehr in Kontakt ist.

Was hilft nun beim Aufbau einer vertrauensvollen Beratungsbeziehung?

Unter der Oberfläche der "professionellen" vertrauensbildenden Maßnahmen entscheidet die Bewältigung zweier Gefühle darüber, ob Berater und Klient in Kontakt miteinander kommen: Angst und Scham. Angst entsteht bei der Bedrohung von psychischen oder physischen Grenzen. Scham entsteht durch Beschädigung der sozialen Identität ("ich werde als schlechte Führungskraft gehandelt") sowie bei teilweisem oder ganzem Verlust von Interaktionskompetenz ("ich kann auf diese Situation in unserem Unternehmen nicht angemessen reagieren"). Beide Gefühle sind typische Begleiter vor allem, aber nicht nur am Beginn von Beratungsprozessen und zwar beim genaueren Hinsehen nicht nur beim Klienten, sondern auch bei uns Beratern selbst ("bin ich ein guter Berater?", "Wirken meine Interventionen?").

Ich glaube, eine zentrale Herausforderung im Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung liegt im Eingehen des Risikos, im Kontakt von diesen beiden Gefühlen erfasst werden zu können. Durch das sachte Antasten an heikle Themen, durch den Verzicht auf zu genaue Analysen, durch das mutige Vorangehen im Ansprechen von Ungereimtheiten, Unkonventionellem, von Zweifel und Unsicherheiten wird der Kontaktprozess gefördert. Ein Grund, warum das für viele Berater so schwierig ist, ist meines Erachtens nach die fehlende psychologische Ausbildung. Über diese Beratungsdynamik lernt man den Beraterausbildungen nichts. Allerdings lernt man in jeder Therapieausbildung, über diese Beziehungsdynamik nachzudenken.

Was genau funktioniert die Balance von Einfachheit und Komplexität?

Bei der Arbeit an dem Artikel haben wir unsere Arbeitserfahrungen und die unserer Kollegen nach zwei Gesichtspunkten durchforstet: Wo fanden wir eine gute Balance zwischen Komplexität und Einfachheit und wo rauchte uns und unseren Klienten vor lauter Komplexität schon der Kopf? Welchen Stellenwert hatten Designs und Prozessarchitekturen im einen bzw. im anderen Fall?

Wir haben dann zwei typische Konstellationen unterschieden: das Kopfrauchen und die gute Balance. Im Falle des Kopfrauchens beobachteten wir folgendes:

     

  • Die Beziehung zum Klienten war eher von Distanz und Sachlichkeit geprägt, beiderseitige Wertschätzung, dennoch eher neutral bis desinteressiert.
  • Prozessarchitektur oder Design hatten eigentlich die Funktion, Kontrollierbarkeit und Sicherheit zu stiften oder Systematik in eine verwirrende Situation zu bringen.
  • Wir selbst erlebten uns im Korsett dieser Prozessschritte zunehmend gefangen und vermissten das sichere Gefühl, an den wesentlichen Anliegen dran zu sein. Gleichzeitig war nichts wirklich Falsches an diesem Prozess, die Klienten waren zufrieden, doch die Arbeit war nicht wirklich fließend.

Im Falle der guten Balance beobachteten wir folgendes:

     

  • Die Beziehung zum Klienten war vertrauensvoll, wir selbst und der Klient waren sachlich und persönlich emotional engagiert und interessiert. Es gab so etwas wie Interesse, Sympathie und Respekt für einander, kurz, wir waren in Kontakt.
  • Prozessarchitektur und Design beschränkten sich auf minimale Vereinbarungen, die es ermöglichten, den Prozess an den jeweiligen Fortschritt nach einem Arbeitschritt anzupassen. Lerndesigns waren einfach, auch repetitiv, wenig spektakulär und die Abstimmung im Trainerstaff war fließend und wenig zeitaufwendig.
  • Wir entspannten uns im Prozess häufig und die Klienten meldeten zurück, dass sie an den wesentlichen Themen arbeiten konnten und mehr gelernt hatten, als sie erwarteten.

Den wesentlichen Unterschied zwischen Kopfrauchen und guter Balance liegt in der Beziehungsgestaltung zwischen Berater und Klient. An der Güte des Kontaktprozesses zwischen Klient und Berater entscheidet sich, ob und wie viel unnötige Komplexität produziert wird.

Frau Dr. Untermarzoner, vielen Dank für das Gespräch.

08.2002

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Mag. Dagmar Untermarzoner, Lemon Consulting