AC: "Die Personenseite ist nur die halbe Miete"

Dr. Ernst Domayer von der Beratungsfirma OSB über aufschlussreiche Unterschiede zwischen ACs und Self-ACs sowie die tiefsitzenden Probleme von Firmen bei der Änderung ihrer Selektionsprozesse.

Herr Dr. Domayer, wie beurteilen Sie das klassische  Assessment-Center?

Beim klassischen AC wird die Annahme zugrunde gelegt, dass man durch reine Beobachtung eine Art von Objektivität erzeugt. Das ist natürlich so nicht richtig. Denn Sie bekommen nur einen kleinen Ausschnitt. Sie beobachten das, was Sie beobachten, d.h. Sie machen im AC Übungen und das können Sie beobachten. Aber die Frage ist ja: Wenn ich jetzt eine Übung von jemandem sehr genau beobachte, erfasse und beschreibe, warum hat das einen Prognosewert?

Hängt das nicht davon ab, ob ich es schaffe, eine relevante Situation zu simulieren?

Das ist schon richtig. Nur das ist ja auch ein Stück fiktiv. Sie können das nie hundertprozentig simulieren. Sie haben einen Kontext, sprich eine Hier-und-Jetzt-Dynamik im AC. Es ist ein Experiment. Die Grobkritik lautet: Es geht nicht, wie in der Physik ein Experiment zu machen, bei dem man alle Faktoren konstant hält und einen variiert. Und das unter der Annahme, die Beobachtung beeinflusst nicht das Objekt der Beobachtung.

Das ist in der Sozialwissenschaft nicht möglich. Sie haben x Einflussfaktoren. Der Kandidat ist an diesem Tag nervös, er spielt etwas vor, es kommt darauf an, wie die Beobachter drauf sind, worauf die wirklich schauen, wie die Auswertungskonferenz verläuft etc. Es gibt unzählige Variablen, die Sie nicht kontrollieren können. Natürlich kann man sagen, das AC erlaubt eine gewisse Prognose, keine Frage. Aber warum wir dazu übergegangen sind, mit anderen Verfahren zu operieren hat folgende Gründe: einerseits dieser eben geschilderte wissenschaftstheoretische Grund. Der zweite Grund ist, dass die Selbsteinschätzung des Kandidaten hier überhaupt nicht einfließt. D.h. Sie wissen nicht, ob sich seine eigene Einschätzung mit Ihren Beobachtungen deckt oder spießt. Das bleibt schlicht draußen. Der dritte Grund ist, dass die soziale Akzeptanz des Ergebnisses für den Kandidaten nur bedingt gegeben ist.

Ich denke, dass man - vor allem wenn man in unternehmensinterne Potentialeinschätzungsprozesse geht - eine Form braucht, wo jemand das Gefühl hat, dass er sich wirklich öffnen und sein Potential anschauen kann. Und das gelingt meistens dann, wenn die Person selber auf Entdeckungsreise gehen kann. Self-Assessment heißt also, Möglichkeiten der Selbsteinschätzung zu bieten - durchaus mit Hilfe von Instrumenten und mit Hilfe eines kompetenten Gegenübers. Das Ziel ist eine persönliche und berufliche Standortbestimmung.

Wie läuft so ein Self-AC nun ab?

Man hat folgende Datenquellen: Zuerst einmal die Hier-Und-Jetzt-Situation, die in ihren diagnostischen Aussagemöglichkeiten nicht zu unterschätzen ist. Man kann z.B. die Dimension Kontaktaufnahme anschauen, den Erstkontakt: Wie macht das jemand? Wenn ich mich z.B. als Berater zurückhaltend verhalte, was macht dann die andere Person? Wird sie ihrerseits zurückhaltend und wartet bis ich aktiv werde, wird sie nervös, beginnt sie zu sprudeln, gerät sie unter Druck? All das sind Faktoren, die man beobachten kann.

Dann gibt es ein biographisches Interview, in dem die persönliche Entwicklung und die Karriereentwicklung erhoben werden. Auch da kann man wieder schauen: Wie spiegelt sich das in der Hier- Und-Jetzt-Situation? Wenn jemand z.B. sagt, ich war immer eine extrem kontaktfreudige und leistungsorientierte Persönlichkeit und im Hier und Jetzt ist davon überhaupt nichts zu merken oder vice versa, das sind interessante Übereinstimmungen oder Nicht-Übereinstimmungen.

Als dritte Datenquelle machen wir auch Tests, in der Regel vier, und geben unmittelbar darauf eine Rückmeldung der Ergebnisse. Dadurch sehen wir, wie verarbeitet jemand die Testergebnisse? Wie offen gegenüber sich selbst ist diese Person?

Die Hier-Und-Jetzt-Situation gibt es auch im AC.

Der Unterschied beim Self-AC gegenüber dem AC ist, dass Sie hier mit der Person in Kontakt sind, was der Assessor und der Beobachter beim klassischen AC ja vermeiden. Die haben ja schon fast das Problem, dürfen sie mit den Teilnehmern in der Pause überhaupt reden? Das ist auch insofern eine Fiktion, weil man denkt, wenn ich den Kontakt vermeide, habe ich keine Beziehung. Natürlich haben Sie eine Beziehung zu der Person, eine Nicht-Beziehung gibt es ja nicht. Aber nicht dass Sie glauben, dass das Self-AC das einzig Wahre ist. Es ist eine weitere Möglichkeit.

Das Self-AC wird doch genau so als Prüfungssituation erlebt.

Ja, nur wird das hier angesprochen und thematisiert. Und es ist eine weitere Datenbasis im Sinn von: Spricht das jemand selber an, kann er darüber reden, kann er das vielleicht auflösen? Natürlich ist es auch eine Drucksituation, aber sie wird nicht wie beim klassischen AC manchmal bewusst übertrieben, sondern so gering wie möglich gehalten und sie ist Teil des Reflexionsprozesses. Beim klassischen AC wird nie thematisiert, wie geht es den Kandidaten in der Situation jetzt? Das halte ich schlicht für einen Verlust an Daten.

Wir arbeiten nicht mit dieser Objektivitätsannahme, sondern mit der Annahme, Potentiale oder Talente können eigentlich nur inter-subjektiv, kommunikativ gefunden werden und dazu brauchen Sie die Selbsteinschätzung des Probanden. Die basiert auf Verhaltensbeobachtungen und auch auf den Testinstrumenten, weil sie unter die Verhaltensoberfläche gehen und so etwas wie Neigungen erfassen. Das sind natürlich nur Wahrscheinlichkeiten, aber es sind Aussagen, sich in bestimmten Situationen eher so zu verhalten als andersrum.

Welche Tests setzen Sie ein?

"Captain" z.B. ist ein PC-gestützter Test, der Dispositionen zum Arbeits- und Leistungsverhaltens erfasst. Da bekommen Sie ganz pragmatische Aussagen auf Dimensionen wie Zielorientierung, Entscheidungsfreude, Detailorientierung, Konsequenz in der Aufgabenerledigung oder Veränderungsbereitschaft.

Ein zweiter Test ist der "Karriereanker" von Edgar Schein. Hier geht es um die innere Karriereorientierung. Der "Stabtest" erfasst vier grundsätzliche Persönlichkeitsorientierungen und der vierte Test ist ein Test zur Erhebung des Verhaltens in Konfliktsituationen. Am Ende des Self-AC wird eine Art Gutachten geschrieben, gemeinsam besprochen und damit ergänzt, wie der Proband sich selbst sieht. Das ist sozusagen sein eigenes Gutachten, das er selbst erarbeitet hat.

Nun gibt es auch ACs mit der Simulation konkreter Arbeitssituationen, transparenten Prozessen und klaren Rückmeldungen.

Das ist ok. Eine gemischte Variante. Eine Tendenz geht dahin, komplexere Prozesse zu simulieren. Das ist ein anderer Zugang, der sozusagen auf Arbeitsproben basiert. Wenn es gut interaktiv ausgewertet wird, habe ich nichts dagegen. Dieser Auswertungsprozess ist halt ganz wichtig. Dazu braucht es aber wieder die Offenheit, denn sonst wertet man nicht wirklich gemeinsam aus. Das ist mein Fragezeichen: Wie stellen Sie die Offenheit sicher?
Gerade weil es in einem Unternehmen oft schwierig ist offen zu sagen, "Ich bin nicht jemand, der das und das anstrebt, sondern jenes ist mir viel wichtiger", ist es gut, das einmal in einem geschützten Rahmen zu besprechen.

Jetzt weiss ich nach einem Self-AC mehr über meine Neigungen. Die Schwierigkeit bleibt, die Neigungen mit der adäquaten Position zusammenzubringen.

Genau, die Frage ist, welches Angebot kann das Unternehmen jetzt machen? Welche Aufgabe passt da dazu? Da ist Kreativität angesagt.  Bei den New-Economy-Unternehmen sieht man es ja, dass sie Sonderlösungen anbieten müssen, wenn sie die Leute halten wollen. Die müssen die persönlichen Entfaltungswünsche des Individuums schon viel mehr berücksichtigen. Diese Form von Antwortfähigkeit der Organisation beginnt sich langsam umzudrehen. Früher hat man gesagt, das ist die Organisation, passen Sie zu uns oder nicht? Heute sagen die Leute, das bin ich, ich bin begehrt, passt die Firma zu mir? Man muss verhandeln und das ist für manche Firmen eine bittere Pille.

Wenn Sie Selektionsprozesse in Unternehmen verändern, ändern Sie in gewisser Weise die Grundmuster der Organisation. Denn Sie ändern damit ja auch Entscheidungsstrukturen und damit Machtverhältnisse, und das ist eine hochpolitische Frage. Unternehmen ändern das nur, weil sie an ihre Grenzen stoßen. Irgend etwas fehlt. Daher muss man auch erst die bestehenden Selektionskriterien und -muster reflektieren, bevor man wirklich Neues zulassen kann. Unser Ansatz ist ja eine systemische Sichtweise, da geht es um die Koppelung von Person und Organisation, um das Zusammenspiel. Man muss beide Seiten reflektieren, die Personenseite alleine ist nur die halbe Miete.

Herr Dr. Domayer, vielen Dank für das Gespräch.

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Dr. Ernst Domayer, OSB