Appreciative Inquiry: Verändern über positive Energie

Appreciative Inquiry – was für ein sperriges und unaussprechliches Wort! Und doch wird es in der Berater-Szene seit neuestem immer öfter zitiert und mitunter auch eingesetzt. Appreciative Inquiry – kurz "AI" – hat sehr schnell den Sprung aus den USA nach Europa gemacht.

AI wurde in den 90er Jahren vom amerikanischen Organisationspsychologen David Cooperrider entwickelt. Als Beratungsansatz für Veränderungsprozesse baut AI auf der konstruktivistischen Annahme auf, dass jedes menschliche Handeln von Wirklichkonstruktionen gesteuert wird. Und Wirklichkeitskonstruktionen werden unter anderem von der jeweiligen Perspektive des Beobachters geprägt: Was wir wahrnehmen, hängt nicht zuletzt vom Blickwinkel der Beobachtung ab.

Was ist Appreciative Inquiry?

Der AI-Ansatz geht davon aus, dass wir immer nur das finden, wonach wir fragen. Fragen wir nach Fehlern, nach Mängeln, nach Defiziten, dann finden wir diese sofort. Fragen wir nach unseren Stärken, Ressourcen, nach Lösungen, dann finden wir eben diese. AI wendet sich damit radikal von der "Reparatur-Beratung" ab, die der Idee anhängt, man müsse zunächst genaue Fehleranalysen machen, bevor man zu Lösungen kommen kann.

Organisationen konstruieren und rekonstruieren sich permanent selbst über die Geschichten, die erzählt werden. Geschichten erzeugen und erhalten die kollektiven Wirklichkeitskonstruktionen der Organisation und bilden die "Unternehmenskultur", die als schwer greifbare Atmosphäre voller heimlicher Spielregeln Handlungen und Entscheidungen prägt.

Zentrale Annahmen

Die Idee von AI ist denkbar einfach: Menschen und ganze Organisationen können sich, ihre Kultur, ihre Problemsituation verändern, wenn sie ihre Perspektive verändern – konkret: wenn sie sich auf Lösungen und Ressourcen fokussieren. Die Veränderung entsteht, indem Menschen in Organisationen beginnen, neue Geschichten zu erzählen. Die Wertschätzung ("appreciation") dessen, was gut funktioniert - der Stärken und Ressourcen der Organisation - ist Haltung und Methode zugleich.

Das Kerninstrument von AI ist die Frage, das Interview ("inquiry"). AI sucht in Organisationen nach dem, was funktioniert, nach den Aspekten, die der Organisation Kraft und Lebendigkeit geben, nach Geschichten und Erfahrungen von Erfolg, Freude und Begeisterung. Durch Fragen nach den Schätzen der Organisation sollen die Menschen angeregt werden, neue Perspektiven einzunehmen und damit ihre Geschichte, ihr Unternehmen und seine Kultur neu zu konstruieren. AI ist eine Methode der Neukonstruktion von Organisationen und bringt "empowerment" für Organisationen und Personen.

Wie funktioniert Appreciative Inquiry?

Das Grundkonzept von AI umfasst 5 Schritte:

1. Vom Problem zum Ziel der Veränderung: Was wollen Sie wirklich?

Ausgangspunkt für Veränderungen sind meistens Probleme bzw. Situationen, die negativ konnotiert werden. Die konstruktivistische Annahme, dass hinter jeder Beschreibung zugleich auch die Beschreibung des Gegensatzes liegt, führt zu der Empfehlung, von der Problembeschreibung direkt auf die dahinter liegende Ziel- bzw. Wunschbeschreibung zu führen. Die Definition des Ziels oder Themas der Veränderung ist die Drehscheibe des weiteren Prozesses.

AI vermeidet nicht, über Probleme zu sprechen, was immer wieder als Einwand gegen diesen Ansatz vorgebracht wird, sondern nimmt die Problembeschreibung als Ausgangspunkt für die Entwicklung von Lösungen und Visionen. Diese Arbeit am Thema oder Ziel des Veränderungsprozesses ist die wichtigste, oft aber auch die schwierigste Phase des Prozesses.

2. Entdecken, was funktioniert und wo die Schätze liegen

Auf der Grundlage des definierten Themas erfolgt eine Forschungsreise zu den Ressourcen, den Erfolgen und Höhepunkten in der Vergangenheit sowohl der einzelnen Personen, die im Prozess der Veränderung beteiligt sind, als auch der Organisation. Die Wieder-Entdeckung der Erfolgsgeschichten bringt die Energie, die der gesamte Prozess braucht.

Die Erforschung der Höhepunkte der Vergangenheit bietet die "Erdung" der später entwickelten Visionen. Die positiven Erfahrungen aus der Geschichte – "wann haben wir ähnliche Schwierigkeiten gut gemeistert?" – gibt den Zukunftsbildern Realität und Machbarkeit. Diese Phase dient dazu, die Kräfte der Organisation zu mobilisieren und für den Weg der Lösungen zu nützen.

3. Erfinden, wie es sein könnte

Für einen gelungenen Veränderungsprozess braucht die Organisation eine positive, herausfordernde und attraktive Vision für die Zukunft. Dieses Zukunftsbild gibt die Richtung an, in die man sich bewegen will. Auch diese Visionen werden in Interviews erhoben. Dazu dient die berühmte und bewährte "Wunderfrage" von Steve de Shazer.

4. Entwerfen, wie es werden könnte

Aufbauend auf das Zukunftsbild werden Entwürfe gemacht, die einen kühnen und herausfordernden Schritt in die Richtung der Vision darstellen. Hier wird die Zukunft als konkrete Vision antizipiert.

5. Entfalten, wie es sein wird

Schließlich geht es darum, die Kraft zu entfalten, um in einer gemeinsamen Anstrengung des gesamten Systems die neuen Ideen und Visionen zu verwirklichen. Dazu gehören unter Umständen Veränderungen in den Strukturen, Lernprozesse oder auch Orientierung auf neue Märkte und Produkte.

Die Kunst der Beratung mit AI besteht zum einen in der Formulierung von Fragen für den Interview-Prozess, zum anderen in der Gestaltung von komplexen Beratungs-Architekturen. Die Fragen für Interviews müssen immer wieder neu auf die konkrete Situation und Thematik hin entwickelt werden. Hier einige allgemeine Beispiele von Fragen, wie sie in AI-Interviews verwendet werden können:

Wertschätzung der Vergangenheit

Wenn Sie sich an den Beginn Ihrer Zeit bei Ihrem Unternehmen erinnern: Was hat Sie damals besonders angezogen? Wenn Sie an diese Zeit Ihrer Tätigkeit zurückdenken: Gab es da eine besondere Situation, die für Sie ein Höhepunkt war, an die Sie sich auch heute noch gern erinnern? Erzählen Sie bitte die Geschichte: Was war geschehen? Wer war beteiligt? Was war Ihr persönlicher Beitrag zu dieser Situation? Was war das für Sie besonders Positive und Wertvolle?

Wertschätzung der Gegenwart

Ohne falsche Bescheidenheit: Was schätzen Sie an sich selbst am meisten – als Führungskraft, als KollegIn, als Person? Was schätzen andere an Ihnen? Was schätzen Sie an Ihrem Unternehmen? Was macht Sie stolz, hier tätig zu sein? Gibt es konkrete Beispiele? Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Kernfaktoren, die ein Unternehmen lebendig und erfolgreich machen? Was davon finden Sie heute bereits in Ihrer Organisation vor? Wovon sollte Ihr Unternehmen mehr haben? Was schätzen Sie an Ihrer Arbeit?

Konstruktion einer Vision

Stellen Sie sich vor, es geschieht ein Wunder: Sie kommen eines Morgens in Ihr Unternehmen und alles ist genau so, wie Sie es sich immer gewünscht haben. Alles passt, es ist ein großartiges Unternehmen. Was können Sie wahrnehmen? Woran bemerken Sie die Veränderung? Welches sind die wichtigsten Dinge dieser Veränderung für Sie?

Umsetzung der Vision

Wer könnte zur Verwirklichung dieser Vision beitragen? Wie könnten Sie selbst dazu beitragen? Welche Schritte könnten Sie selbst als nächstes setzen, um Ihre Vision Wirklichkeit werden zu lassen?

AI in der Praxis

AI kann in vielfältiger Weise eingesetzt werden. Nicht immer muss dabei der genaue Ablauf des AI-Prozesses eingehalten werden. Mitunter können auch Teile und einzelne Schritte sinnvoll verwendet werden. Ich selbst arbeite in ganz unterschiedlichen Kontexten mit AI: In Seminaren ist ein AI-Interview ein optimaler Einstieg zum jeweiligen Thema. Beispielsweise tut es den TeilnehmerInnen eines Führungsseminars gut, wenn sie einander am Beginn in Interviews befragen, was Höhepunkte in ihrer Geschichte als Führungskräfte waren, wo sie erfolgreich waren, worauf sie stolz sind.

Nun ein konkretes Firmenbeispiel: Kunde ist ein Betrieb des Automobil-Handels mit etwa 250 Mitarbeitern. Das Unternehmen hat eine außergewöhnliche Struktur: Der Gründer hat in den 60er Jahren den Versuch unternommen, sein Wirtschaftsunternehmen nach demokratischen Prinzipien zu führen: Mitarbeiterbeteiligung wird in Form von Mitgestaltung bei Entscheidungen und Gewinnbeteiligung realisiert. Um diese Kultur strukturell zu stützen, wurde eine Stiftung eingerichtet, in der das Top-Management und Vertreter der Mitarbeiter strategische Entscheidungen treffen. Diese Struktur ist auch heute noch gültig.

Nun zieht sich der Gründer aus Altersgründen aus dem Unternehmen zurück und wird sein "Werk" dem jungen Management übergeben. Dieses steht vor schwierigen Zeiten und großen Herausforderungen, die nicht zuletzt durch die Lage im Automobilmarkt geprägt sind. Als externe Berater wurden wir angefragt, diesen Prozess des Abschieds vom Pionier und die notwendige Neuorientierung der Organisation zu begleiten.

Die Beratungs-Architektur, die wir eingerichtet haben, ist rund um die Philosophie von AI gebaut und gemeinsam mit dem Geschäftsführer und der Personalentwicklerin erarbeitet worden.

Der Prozess dieser Architektur umfasst im wesentlichen 5 Schritte:

  • Vorstellen des Projekts vor allen Führungskräften: alle ins Boot holen.
  • Einschulung einer internen "Forschergruppe", die aus vier Personen besteht. Diese vier Personen lernen die Grundgedanken von AI kennen und werden darauf vorbereitet, selbständig im Unternehmen Gruppeninterviews mit allen Mitarbeitern durchzuführen. Die Fragen sind auf die Erforschung und Wertschätzung der Vergangenheit – insbesondere der gesellschaftspolitischen Wertorientierung des Unternehmens und der Person des scheidenden Pioniers – gerichtet. Darüber hinaus soll erfragt werden, vor welchen großen Herausforderungen das Unternehmen aus Sicht der Mitarbeiter heute steht. Dazu wird ein eigener Fragenkatalog und Interview-Leitfaden entwickelt.
  • Die "Forschergruppe" führt die Gruppen-Interviews durch. Sie sammelt die Ergebnisse auf Flips.
  • In einem "Redaktions-Workshop" werden die Ergebnisse der Befragung sortiert und verdichtet. Darüber hinaus bereiten die vier Personen die Präsentation der Ergebnisse ihrer Befragung vor allen Mitarbeitern des Unternehmens vor.
  • Der vorerste letzte Schritt in diesem Prozess ist eine Großveranstaltung, an der im wesentlichen alle MitarbeiterInnen des Unternehmens teilnehmen. Die "Forschergruppe" präsentiert ihre Ergebnisse, einige der berührendsten Geschichten mit dem Gründer werden erzählt. Die Vergangenheit wird gewürdigt und der Pionier verabschiedet. Nun geht es in der Großveranstaltung darum, die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft gemeinsam anzunehmen und sich darauf einzurichten. Aufbauend auf den Informationen aus den Befragungen werden gemeinsame Zukunftsentwürfe gemacht und Ideen für erste Schritte der Umsetzung entwickelt. Die Umsetzungsphase liegt noch vor uns und kann daher hier noch nicht vorgestellt werden.

Typisch amerikanisch?

Europäische BeraterInnen sind von diesem einfachen wie wirkungsvollen Ansatz teils begeistert, teils aber auch skeptisch: Wie kann man ohne Problemanalyse Beratung machen? Was ist mit unserer Balance von "beiden Seiten der Medaille?" Ist der Blick auf die positive Seite nicht auch langweilig? Was passiert mit der Kritik, der Wut, dem Ärger? Ist das in Europa anschlussfähig? Ist es nicht einfaches amerikanisches "think pink"?

Zweifellos muss AI auf die konkreten Kultur-Phänomene in Europa adaptiert werden. Allein die stark emotionale Sprache der amerikanischen Kollegen – "What gives life to the organisation?" – ist in unserem Raum kaum anschlussfähig. Hier muss der Beratungsprozess und die Sprache auf die jeweiligen Gegebenheiten abgestimmt werden.

Aus systemischer Sicht ist AI dort am wirkungsvollsten und hilfreichsten, wo diese positive Perspektive einen neuen Unterschied im System erzeugt. Also etwa dort, wo Probleme bislang mit langwierigen Analysen und kleinlichen Zielen und Lösungen "erster Ordnung" bewältigt wurden. Auch dort, wo die Unternehmenskultur vorwiegend auf Defizite und Mängel fokussiert und diese dadurch in der Regel noch verstärkt, setzt AI ein neues Zeichen.

Eine Begrenzung der Anwendung von AI liegt meiner Erfahrung nach in Situationen, die emotional hoch eskaliert sind, beispielsweise Konfliktsituationen. Dort kann AI erst dann wirksam werden, wenn zuerst die Ventile geöffnet werden können und die Menschen ausdrücken können, was sie stört, ärgert oder kränkt. Bei der anschließenden Suche nach Lösungen ist AI allerdings wieder sehr wertvoll.

AI ist für viele systemische BeraterInnen nicht ganz neu: Lösungsorientierung, Ressourcenorientierung zählen immer schon zu den Grundhaltungen systemischer Beratung. Neu an AI ist lediglich die Radikalität und Konsequenz der Wertschätzung. AI ist damit eine wertvolle Ergänzung und Weiterentwicklung des Instrumentariums systemischer Beratung.

Autorin: Dr. Ruth Seliger, geschäftsführende Gesellschafterin von Train Consulting.

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