Widersprüche in Organisationen

Der Berater Christian Rottensteiner über das Problem der Eigenverantwortung in hierarchischen Strukturen.

Traditionelle Ansätze der Organisationsentwicklung gehen davon aus, dass Konflikte in Organisationen aufgelöst werden können. Sie sind getragen von der idealen Vorstellung einer harmonischen Unternehmensentwicklung oder einem unreflektierten Planungs- und Steuerungsoptimismus, mit dem Prozesse optimiert werden können.

Mittlerweile zeigen allerdings vielfältige Erfahrungen bei Umstrukturierungen, dass dieser Optimismus der Gestaltbarkeit von Veränderungsprozessen nicht berechtigt erscheint. Was bleibt, ist eine Reihe scheinbar unauflösbarer Widersprüche.

Nachfolgend - exemplarisch - einige Erklärungsangebote, die in der Praxis immer wieder für das Scheitern von Veränderungsvorhaben herhalten müssen:

     

  • Diffuse Zielsetzung seitens des Vorstandes
  • Ungünstige Zusammensetzung des Projektteams
  • Mangelnde Einbindung der Mitarbeiter
  • Schlechte Vermarktung des Veränderungsprozesses
  • Schlechte Zeitplanung

 

Diese Liste ließe sich problemlos fortführen. Ein Muster ist dabei erkennbar: Die Ursache für “Versagen” wird hier in irgendwelchen Defiziten geortet, wie in der fehlerhaften Anwendung von Instrumenten bzw. in Ignoranz usw. Dies führt geradewegs in die Denkwelt, an der Perfektionierung des vorhandenen Instrumentariums zu arbeiten.

Um nicht missverstanden zu werden: Die Bedeutung der Verfeinerung von Methoden und Instrumentarien zur Gestaltung von Veränderungsprozessen darf nicht unterschätzt werden. Nur, eine auf Perfektionierung ausgerichtete Betrachtungsweise lässt eines außer Acht: Jeder Veränderungsprozess, der sich an der Schnittstelle von Hierarchie und Eigenorganisation bewegt, führt zwangsläufig zu fundamentalen Widersprüchen zwischen Sagen und Tun!

Dafür sind in erster Linie drei Ursachen verantwortlich:

1. Das "Sei-selbständig-Dilemma" oder die zentralistische Einführung dezentraler Strukturen.

Dieses Dilemma besteht darin, dass dezentrale Strukturen nur mit Macht hierarchisch eingeführt werden können, weil dezentral die erforderlichen Systeme, Strukturen und Haltungen noch fehlen. Dies muss von den Mitarbeitern als Widerspruch erlebt werden. Dies liegt an der Widersprüchlichkeit/Doppeldeutigkeit der Botschaft: “Einerseits die Einräumung von mehr Kompetenz und damit Macht” und andererseits die Vorgehensweise auf dem gewohnten “Verordnungsweg”.

2. Das "Entscheide-selbst-aber-nur unter Vorbehalt" Dilemma”

Dieses Dilemma besteht darin, dass ein “fortschrittlicher Manager modernen Zuschnitts”, der andere dazu bringt, selbst zu entscheiden und eigenverantwortlich umzusetzen, sich aus einer hierarchischen Logik heraus selbst überflüssig macht. Dies führt zu einer Bedrohung der eigenen Funktion, zumindest des derzeitigen Funktionsverständnisses.

Eine andere Ursache für dieses Dilemma liegt darin, dass viele Entscheidungen, die aus Sicht des Gesamtunternehmens getroffen werden müssen, bei sich widersprechenden Einzelinteressen nicht getroffen werden würden. Das Management kann daher Entscheidungsbefugnisse zu Recht oft nur unter Vorbehalt weitergeben.

Beim Mitarbeiter führt dieses Dilemma wiederum zu Unverständnis/Zitat: “Grundsätzlich soll ich selbst entscheiden, aber mein Chef behält sich das Recht vor, ständig ins Tagesgeschäft hineinzuintervenieren.”

3. Das "Organisier-dich-selbst-aber nicht so" Dilemma:

Dieses Dilemma besteht darin, dass eine von oben propagierte Selbstorganisation die bereits existierende informelle Selbstorganisation bedroht. Dies wird noch verstärkt, wenn das Management sich so verhält, als müßte man Selbstorganisationsprozesse erst installieren. De facto funktionieren Organisationen in erster Linie deshalb so gut, weil jede Organisationseinheit in der Vergangenheit für sich selbst Mittel und Wege gefunden hat, Vorgaben und Ziele der Geschäftsleitung in einer für ihre Zwecke passenden Form zu interpretieren (Zitat: “Was glauben die da oben, wie bisher alles funktioniert hat!”)

Welche Schlussfolgerungen können aus den o.g. Dilemmata gezogen werden bzw. welche Chancen für die Gestaltung von Veränderungsprozessen können daraus entstehen:

     

  • Bewusstmachung  und Akzeptanz von Widersprüchen anstelle sie ignorieren bzw. beseitigen zu wollen (erst das Vorhandensein von Dilemmata ermöglicht oft Veränderungsprozesse)
  • Fokussierung auf die jeweils andere Seite des Widerspruches im Sinne des Balancehaltens (Es gehört zu den faszinierenden Prozessen in Organisationen, dass immer, wenn man eine Seite in einer Organisation betont, die entgegengesetzte Seite der Kraft an die Oberfläche drängt (z.B. man lässt sehr große Freiheiten  und die MitarbeiterInnen suchen nach einem Halt in Form von Traditionen oder einer starken Leitfigur).
  • Fokussierung auf die Frage nach dem “Was ist dann NICHT?”, d.h. z.B.:  was wird bei Einführung von Selbstorganisation nicht getan/nicht entschieden/wer macht dann was nicht usw.?

 

Im Zusammenspiel mit klassischen Instrumenten der OE können Dilemmata damit wichtige, wertvolle neue Impulse bei der Gestaltung von Veränderungsprozessen geben.

Autor: Mag. Christian Rottensteiner, R&W Consulting, 09.1999

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