Die "6 Brillen" des Veränderungsmanagements

Dr. Ingrid Kreuzer und Dr. Michael Schulte-Derne beleuchten anhand der "6 Brillen" den Grundaufriss eines Veränderungsvorhabens, die notwendigen Energiequellen, die Grade möglicher Beteiligung sowie den Umgang mit Systemwiderstand und emotionalen Verarbeitungsphasen.

Angesichts eines so vielschichtigen Themas wie jenem der Veränderung von Organisationen taucht die Frage auf, wie dieses für "Akteure" und "Betroffene" so beschrieben werden kann, dass die in diesem Zusammenhang auftretende Komplexität gleichzeitig ausreichend reduziert (um handlungsfähig zu bleiben oder zu werden) und dennoch auch erweitert wird (um auf den ersten Blick auch nicht leicht zu erkennende Zusammenhänge sichtbar werden zu lassen).

Wir haben uns daher bei unseren “6 Brillen“ von zwei Maximen leiten lassen: zum ersten, dass nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie - das heißt also, dass eine Theorie anwendbar sein muss. Diese Anwendbarkeit steht über dem Anspruch auf Vollständigkeit. Theorie ist immer Komplexitätsreduktion und damit zwangsläufig weniger komplex als die "Wirklichkeit", welche sie daher auch nie in ihren ganzen Facetten abbilden kann ("die Landkarte ist nicht die Landschaft",  sagt Fritz Simon). Zum zweiten, dass - frei nach Albert Einstein -  alles so einfach wie möglich zu sagen ist - aber nicht noch einfacher.

Um diesen beiden Ansprüchen gerecht zu werden, haben wir die Metapher unterschiedlicher "Brillen" gewählt, die aufzusetzen unserer Erfahrung nach sowohl für BeraterInnen von Veränderungsprozessen (wie uns), als auch für ManagerInnen in solchen Situationen hilfreich sein kann. Wie dies auch bei realen Brillen der Fall ist, lenken sie den Fokus jeweils in eine andere Richtung. Schlussendlich sollte aber in der Gesamtnutzung aller Brillen als Instrumente des Veränderungsmanagements ein brauchbares Gesamtbild entstehen. Quasi eine "Gleitsichtbrille" für organisatorische Veränderungsprozesse.

Die Reihenfolge der Brillen ist zwar nicht beliebig (so raten wir in jedem Fall mit der ersten Brille zu beginnen) aber auch nicht trivial-chronologisch zu verstehen. Welche Brille aufzusetzen jeweils zweckmäßig ist, kann nur in der konkreten Situation entschieden werden. Wir empfehlen aber, keine der sechs Brillen zu "vergessen".  Zumindest ein kurzer Blick durch jede sollte stattfinden- und wenn auch nur, um eine von ihnen wieder unbesorgt absetzen zu können.

1. Brille: "Die System-Brille"

Wir betrachten Organisationen als "Systeme". Um es so einfach wie möglich zu sagen (ohne Intensivexkurs in die Systemtheorie), bedeutet das für uns vor allem folgendes:

  1. Veränderung ist kein "Wert an sich". Also weder etwas Positives noch etwas Negatives. Das heißt, Veränderung um der Veränderung willen macht keinen Sinn.
  2. Veränderung ist etwas "Überlebensnotwendiges" für ein System (also z.B. für ein Unternehmen, einen Bereich, eine Abteilung etc). Ohne Veränderung kein langfristig erfolgreiches Überleben eines Systems.
  3. Dieses Überleben ist nur im Zusammenhang und im kommunikativen Austausch mit seinen "relevanten Umwelten" zu verstehen und zu sichern. Das heißt, es gilt jene Gruppen, Personen oder ganz allgemein Einflussgrößen zu definieren, die das System nicht "straffrei übersehen" darf, die also Relevanz für das eigene Überleben haben.

Mit diesen relevanten Umwelten bildet das System eine Überlebenseinheit. Inwieweit dieses Überleben auch gelingt, ist in gewissem Sinne eine Frage erfolgreichen "Erwartungsmanagements". Es gilt für das System selbst die wechselseitigen  Erwartungen der jeweiligen Umwelten zu erfüllen, bzw. „produktiv zu enttäuschen“ und umgekehrt die eigenen Erwartungen erfolgreich zu kommunizieren und in möglichst großem Ausmaß erfüllt zu bekommen. In der Beratung gelingt uns diese Betrachtung mit Hilfe des Instruments der "System-Umfeld-Analyse". Sie ermöglicht eine Ist-Situationsanalyse sowie eine Soll-Zustandsbestimmung der Relationen von Umfeld-Erwartungen und System-Antworten. Dabei kommt uns als BeraterInnen meist die Aufgabe zu, "blinde Flecken" des Systems zu erhellen. Wir haben bislang immer Systeme beobachtet (einschließlich unseres eigenen Unternehmens) welche bestimmte "Systempartner" (im Sinne relevanter Umwelten) sehr genau beobachten, mit ihnen erfolgreich kommunizieren und die wechselseitigen Erwartungen gut managen und gleichzeitig andere – durchaus relevante – Umwelten weitgehend ignorieren, bzw. deren Erwartungen falsch einschätzen.

Wäre das Umfeld eines Systems stabil, so würde dieses auch einen stabilen Zustand finden, in welchem sein eigenes langfristig erfolgreiches Überleben gesichert wäre. Da sich aber das Umfeld – sowohl in seiner Zusammensetzung, als auch bezüglich seiner Erwartungen - in ständiger Entwicklung befindet, ist es notwendig, sich mit der Frage der Veränderungsnotwendigkeit eines Systems immer wieder auseinanderzusetzen. Das ist der Gegenstand erfolgreichen Veränderungsmanagements. Das bedeutet aber nicht einfach, dass Anpassung an die Umwelt die einzige erfolgreiche Überlebensstrategie einer Organisation ist. "Passung" einer Organisation mit der sie umgebenden Umwelt entsteht in einem wechselseitigen Prozess der Anpassung und des "passend Machens", bei der die jeweiligen Systeme füreinander gegenseitig relevante Umwelten darstellen.

2. Brille : "Die Lern-Brille"

System und Umwelt vollziehen immer eine "Ko-Evolution" (Bateson, Simon). Evolution aber ist Lernen und Lernen damit eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche Veränderung von Organisationen. Nun verwenden wir den Begriff "Lernen" in der Regel für Menschen. In der Tat ist es unverzichtbar, dass Menschen in Organisationen (ver-)lernen, wenn eine Veränderung der Organisation möglich werden soll. Wie auch immer diese Veränderung des Bewusstseins vor sich geht: solange Menschen leben, solange "lernen" sie: Sie nehmen ihre Umwelt wahr, entwickeln daraus ihre Hypothesen und schlussendlich richten sie ihre Handlungen oder Unterlassungen danach aus. Auch "nicht lernen" ist in diesem Sinne ein Lernen, laut Simon sogar eine "Kunst" (siehe hier auch Argyris und Schön mit ihrem Ansatz der defensiven Routinen). Dieses "Personenlernen", dieser "change of mindset" wird in Organisationen in der Regel meist auch strukturell professionell unterstützt und ist in der Funktion der Personalentwicklung, bzw. des Human Resources Managements gut aufgehoben. Natürlich geschieht Personenlernen nicht nur in dort angebotenen Seminaren, sondern auch auf höchst individuelle Weise durch entsprechende Lernaktivitäten Einzelner oder auch in Netzwerken und Gruppen. Gemeinsam ist diesen Formen des Lernens jedenfalls, dass einzelne Personen lernen oder "nicht lernen".

Die Zeiten in denen man sich der Illusion hingab, dass man nur über entsprechende Aus- und Weiterbildungsaktivitäten genügend Personenlernen in einer Organisation ermöglichen müsse, damit quasi  ein "kollektives Bewusstsein" entstehen kann, sind schon seit längerem vorbei. Dennoch wird gerade in Veränderungsprozessen nach unserer Beobachtung gerne vergessen, dass die Organisation mit den Personen mitlernen muss, wenn diese Prozesse erfolgreich verlaufen sollen.

Organisationen lernen aber eben anders als Personen. Ein Bewusstsein haben sie nicht. Aber "dumm" können sie dennoch sein. Trotz vieler schlauer Mitglieder. Organisationen lernen über Kommunikations-, über Kooperations- und über Entscheidungsregeln. "Regeln" bedeutet dabei natürlich nicht, dass es sich dabei um veröffentlichte und immer transparente Regeln handelt. Gerade die verborgenen Regeln sind oft besonders wirksam und nicht selten auch allen – unbesprochen - bekannt. Wo steht schon, wer mit wem worüber sprechen darf und worüber besser nicht ("Kommunikationsregel"), wie in einem Projekt mit der Loyalität gegenüber der entsendenden Linienabteilung umgegangen werden soll ("Kooperationsregel") oder wer nach welchen Kriterien mit wem (gemeinsam?) eine Karriereentscheidung über andere trifft ("Entscheidungsregel")?

Veränderung gelingt nur, wenn es innerhalb der Organisation eine "Bühne" gibt, auf welcher diese Regeln zum Thema und auf ihre Stimmigkeit hin überprüft und gegebenenfalls angepasst werden können  Eine gute Gelegenheit hierzu bieten Klausuren. Die Verantwortung für das Zustandekommen solcher Veranstaltungen kann nicht an das Human-Resources-Management delegiert werden, sondern bleibt ureigenste Führungsaufgabe von Managern in Veränderungsprozessen. Hier bietet sich ihnen die Gelegenheit vom "Organisationsopfer" zum "Organisationstäter" zu werden.

Als BeraterInnen in Veränderungsprozessen betonen wir unter dem Gesichtspunkt dieser "Brille" nicht nur die gleichwertige Bedeutung von Personen- und Organisationslernen für das Gelingen dieser Prozesse, sondern auch die Bedeutung des formalen Aspektes organisatorischen Lernens. Wenn die Auseinandersetzung über die Zweckmäßigkeit organisatorischer Spielregeln ausschließlich verdeckt im Informellen stattfindet, hat dies zwar oft den Vorteil, dass der "Normalbetrieb" weiterläuft, strukturelle Veränderungen aber gleichzeitig keine Chance auf Realisierung haben. Das Informelle wirkt hier einerseits wie ein "Schmiermittel" (manchmal auch im doppelten Wortsinn) und ist damit auch hilfreich (schließlich ist "Dienst nach Vorschrift" ja in der Regel eine Drohung und kein Versprechen), verhindert aber andererseits auch häufig die offiziell angestrebte Veränderung, vor allem wenn diese – wie durch die folgende, dritte Brille betrachtet - tiefgreifender sein soll.

3. Brille: "Die Muster-Brille"

Wir verwenden in der Regel den Begriff "Veränderung" im organisatorischen Umfeld für zwei sehr unterschiedliche Phänomene. Im Veränderungsmanagement ist es aber sinnvoll und nützlich, diese beiden auseinanderzuhalten, weil sie unterschiedliche "Begleiterscheinungen" hervorrufen. Dies insbesondere hinsichtlich des Widerstands gegen Veränderungen. Auf diesen Widerstand blicken wir dann noch intensiver mit Hilfe der vierten bis sechsten Brillen.

Die erste Art der Veränderung (systemtheoretisch ein "Wandel 1.Ordnung") nennen wir in der Beratungsarbeit "Optimierung". Hier dreht es sich darum, das "selbe" wie bisher zu machen. Dies aber verbunden mit einer Verbesserung der Input-/Output- Relation. Also entweder dasselbe Ergebnis unter Einsatz geringer Mittel zu erreichen, oder aber mit unverändertem Einsatz ein höheres Ergebnis zu erzielen. Eine Verbesserung unter dem Aspekt des Wirtschaftlichkeitsprinzips. Wenn wir hier davon reden, dass dasselbe wie bisher gemacht wird, so bezieht sich das "selbe" auf die unveränderten Regeln der Organisation (für Kommunikation, Kooperation und Entscheidung - siehe oben unter dem Blickwinkel der "Lern-Brille"). Diese Regeln werden bei Optimierungen nicht angetastet.

Die zweite Art der Veränderung ("Wandel 2.Ordnung") bezeichnen wir in der Regel als "Musterwechsel" und daher auch unsere dritte Brille als "Muster-Brille", weil sie uns helfen soll, die beiden Arten der Veränderung auseinanderzuhalten. Hier geht es quasi ans "Eingemachte". Und das Eingemachte der Organisation sind ihre Kommunikations-, Kooperations- und Entscheidungsspielregeln. Jetzt dreht es sich nicht mehr nur darum, eine bessere Input-Output-Relation zu erreichen (obwohl langfristig meist auch darum), sondern etwas wirklich "anders" als bisher zu machen, also "nach anderen Regeln zu spielen".

Es liegt auf der Hand, dass Organisationen und die Personen, die in ihnen arbeiten, nicht von vornherein von der Aussicht begeistert sind, bestehende Spielregeln zu ändern. Auch wenn man unter diesen Regeln möglicherweise gelitten hat und mit ihnen nicht zufrieden ist, hat man doch auch die Erfahrung gemacht, dass sie in gewissem Sinne funktionieren (sonst gäbe es die Organisation gar nicht). Wie reagiert die Organisation also auf diese "Zumutung", ihre bewährten Regeln zu ändern? Sie geht in Widerstand. Aber in eine ganz besondere Form des Widerstands: in "Systemabwehr". Diese besteht vor allem darin, "Optimierungsangebote" zu unterbreiten, also einen Wandel 1.Ordnung zu forcieren, um einen Wandel 2. Ordnung zu vermeiden. Wenn nun keine klare und gemeinsame Sichtweise über die Notwendigkeit eines Musterwechsels innerhalb der Organisation existiert, dann besteht die Gefahr, der Verlockung zu erliegen, sich mit einer Optimierung zu begnügen, zumal sich damit in der Regel kurzfristige Einsparungen erzielen lassen. Das bedeutet aber ausdrücklich nicht, dass jeder Veränderungsprozess mit dem Ziel eines Musterwechsels verbunden sein sollte. Optimierung und Musterwechsel stehen prinzipiell gleichwertig - aber eben nicht gleichartig - nebeneinander. Nur: man sollte wissen, welche Art der Veränderung angestrebt wird. Auch um den "defensiven Routinen" der Organisation entsprechend (siehe die folgenden "Brillen") begegnen zu können.

Eine Zwischenbilanz

Aus der Logik der Planung eines Veränderungsvorhabens ist mit Hilfe der Brillen 1, 2 und 3 der Grundaufriss fertig gestellt:

  • Man weiß, was das eigentliche Veränderungsvorhaben ist, indem  das System "abgegrenzt" und mit den "relevanten Umwelten" die Überlebenspartner für das Gelingen des Vorhabens definiert wurden (System-Brille);
  • Die Voraussetzungen wurden geprüft, dass sowohl Personen, also von der Veränderung Betroffene, als auch die Organisation lernen = sich verändern können (Lern-Brille); und
  • Das Management kann die Entscheidung treffen, welche Art der Veränderung dem Vorhaben angemessen ist (Muster-Brille).

Diese Entscheidung ist für die weitere Planung des Veränderungsvorhabens nicht nur unerlässlich, weil das Prozessdesign bei den stabilen Strukturen der Optimierung anders gestaltet werden kann als bei den instabilen Verhältnissen des Musterwechsels. Die Entscheidung birgt zusätzliche "hard impacts", denn je mehr Veränderung nach dem Muster "anders als bisher", umso deutlicher wird die Systemabwehr wirksam werden.

Die Brillen 4, 5 und 6 fokussieren die möglichen Auswirkungen der Systemabwehr schon in der Planungsphase. Sie sind Umsetzungsbrillen und helfen die Möglichkeiten zu schärfen, wie von (gravierender) Veränderung Betroffene effektiv "abgeholt" und "mit ins Boot genommen" werden können. Wenn nun im Fall des Musterwechsels der Widerstand das Normale und keine Panne ist, stellt sich für Veränderungsmanager wie Berater in gleicher Weise die Frage, ob und wie man überhaupt Energie für Veränderung entwickeln kann. Um uns an eine Antwort anzunähern, setzen wir die 4. Brille auf.

4. Brille: "Die Energie-Brille"

Um sich für eine Veränderung erwärmen zu können, muss man deren Sinn und damit deren Notwendigkeit verstehen. Denn sie konfrontiert uns ja gleichsam mit einer "Zumutung", sich vom lieb und vertraut gewordenen Ist-Zustand lösen zu müssen. Darauf wird am Beginn von Veränderungsprozessen aus unserer Beobachtung häufig viel zu wenig geachtet. Man unterstellt vielfach, dass die Organisation schon irgendwie mitziehen wird. Eine durchaus übliche Ausgangssituation in Veränderungsprozessen ist, dass das Management die Veränderungsidee in den Führungskreis trägt und dazu eventuell auch schon ein neues Organigramm mitbringt. Das war es dann. Denn, siehe oben, man geht davon aus, dass das mittlere Management die Idee schon entsprechend weiter tragen bzw. übersetzen und in der Folge umsetzen wird. Das mittlere Management ist aber allzu oft beileibe noch nicht so weit, kann die Veränderungsnotwendigkeit selbst nicht richtig erkennen, meint sie aber kommunizieren zu müssen. Die Interpretationsspielräume sind entsprechend groß, wie "die da oben" es gemeint haben könnten. Und in rasender Geschwindigkeit ist die gute Veränderungsidee in sich und in unterschiedliche Teillogiken aufgelöst. Erste Spitzenleute verlassen aus Verunsicherung oder Ärger darüber das Unternehmen, die durch und für die Veränderung erhoffte Power zieht gleichsam dahin. Und manchmal ist die Idee damit auch wieder gestorben.

Was sollte daher unbedingt beachtet werden? Der Sinn der Veränderungsnotwendigkeit kann nur verstanden werden, wenn in den Betroffenen und in der Organisation ein Spannungsbogen aufgemacht wird, der die notwendige Energie für die Veränderungsreise und das heißt für zusätzliche Anstrengungen freisetzt. Denn Veränderung wird immer oben drauf gepackt und muss neben dem daily business bewältigt werden. Mit der Energie-Brille hat man ein Check-Instrument zur Verfügung, das hilft, die erfolgskritischen Komponenten für die Transformationsaktivierung herauszuarbeiten. Folgende drei Fragen sind zu beantworten:

  • Gibt es gemeinsam erarbeitete Bilder über die Ist-Situation in der Organisation als einen "Mangelzustand"? Denn wenn ohnedies alles komfortabel ist, braucht man sich nicht zu bewegen!
  • Gibt es gemeinsam erarbeitete Bilder über den Soll-Zustand, der nach der Veränderung erreicht werden soll als einen "attraktiven künftigen Zielzustand"?
  • Gibt es gemeinsam erarbeitete Bilder über den Weg, der im Veränderungsprozess zurückgelegt werden muss, um vom Ist zum Soll zu gelangen? Und das heißt: Gibt es robuste road maps, die den Betroffenen das Gefühl geben, der Weg wäre auch für sie „machbar“, weil sie dabei vom Management navigiert werden? Und gibt es Ernst zu nehmende Hinweise dafür, dass an eine Mitwirkung der Betroffenen an der einen oder anderen Stelle gedacht wurde?

Bei der Beantwortung dieser Fragen ist das (Top)Management gefragt! Erst wenn in der gemeinsamen Sicht auf diese drei Eckpfeiler der Energiebrille "kein Blatt mehr" zwischen die Vorstände oder Geschäftsführer (etc.) passt, kann daraus vernünftiger Weise die eigentliche Veränderungsnotwendigkeit abgeleitet werden. Jetzt erst ist man dem "Sinn" auf der Spur, oder wie Kotter formulieren würde, dem "case for action". Und der ist klar, einfach und eindeutig kommunikativ zu vermitteln. Denn auf den Punkt gebracht ist die Veränderungsbotschaft für die davon Betroffenen eben jene Zumutung, von der wir eingangs gesprochen haben. Sie hat den Charakter einer "schlechten" Nachricht, die zunächst einmal verdaut werden muss (siehe auch 6. Brille): "Das, was die Organisation bisher erfolgreich gemacht hat, ist nicht mehr überlebensfördernd." Dieses vergemeinschaftete Verständnis für die Dringlichkeit in der Anfangsphase von Veränderungsvorhaben ist die Schlüsselressource für den möglichen Erfolg. Ohne Wissen, "welche Not gewendet werden soll" gibt es keine Energie für Veränderung.

5. Brille:  "Die Integrations-Brille"

Mit der 4. Brille wird bei der Beschreibung des Wegs vom Ist zum Soll bereits ein zentraler Aspekt möglicher Beteiligung unter die Lupe genommen. Die spätere Akzeptanz durch die Betroffenen wird umso leichter zu gewinnen sein, je mehr Hinweise es gibt, dass an eine Mitwirkung durch sie gedacht wurde. Deswegen empfehlen wir bereits in der Planungsphase mit Hilfe der 5. Brille ein Beteiligungskonzept zu entwickeln, das dann ebenso wie die Veränderungsnotwendigkeit klar und unmissverständlich zu kommunizieren ist. Denn wenn man nicht weiß, ob man überhaupt eingeladen ist mitzuwirken, oder nicht gesagt bekommt, worin die Beteilung besteht, neigen Betroffene dazu, sich entweder nur als "Opfer" zu fühlen ("uns sagt ja keiner was, was wir denken interessiert ja doch niemanden, wir müssen immer nur ausbaden, was sich die da Oben ausgedacht haben") oder sich in eine Beteiligungsform hineinzureklamieren, die gar nicht vorgesehen war. Die Integrations-Brille schärft die Sicht auf vier Grade möglicher Beteiligung, die das Management anbieten kann:

  • Informieren: die Betroffenen bekommen die Begründung für das Veränderungsvorhaben vermittelt, sie wissen, worum es geht;
  • Beraten: Betroffene erhalten die Möglichkeit, ihre Meinung zu artikulieren, auf mögliche Stolpersteine und Scheiterfallen, hinzuweisen, oder auch ihre inhaltliche Expertise einzubringen;
  • Mit-entscheiden: das Management lädt Betroffene ein, bestimmte Themen gemeinsam mit den Führungskräften zu erarbeiten und zu entscheiden;
  • Entscheiden: das Management gibt bestimmte Themen nach Bekanntgabe von Rahmendaten zur alleinigen Entscheidung durch Betroffene frei und lässt sich im Anschluss selbst informieren.

Je nach Beteiligungsgrad sind im Prozessdesign unterschiedliche Formate vorzusehen. Also etwa "Informationsveranstaltungen" oder "Dialogveranstaltungen" oder Klausuren bzw. Workshops.

Unserer Erfahrung nach geht es vor allem darum, von Anfang an Transparenz zu schaffen, wie viel Beteiligung in welcher Phase möglich, aber auch nicht möglich ist. Niemand geht mehr davon aus, dass Veränderung eine "basisdemokratische" Veranstaltung ist. Wenn man aber zu einer "Dialogveranstaltung" eingeladen wird und nur die schlechte Nachricht vermittelt bekommt, fühlt man sich nicht wirklich abgeholt. Durch das Ausschildern kann unnötige Frustration verhindert werden. Wir regen in diesem Zusammenhang an, die Integrations-Brille zur Entwicklung einer Integrations-Matrix zu nutzen. Mit dieser kann anschaulich visualisiert werden, wer in welcher Phase des Vorhabens im Sinne von informieren - beraten - mitentscheiden - entscheiden zu beteiligen ist. Dabei sollten auch mögliche sogenannte "Bedenkenträger", die von der Notwendigkeit der Veränderung und der angestrebten Lösung (noch) nicht überzeugt sind, berücksichtigt werden! Denn je intensiver die kritische Seite einbezogen wird, umso mehr kann der vermeintliche Widerstand als Ressource genutzt werden. Dass auch das Management in der Umsetzung in der einen oder anderen Rolle der Mitwirkung präsent sein sollte, versteht sich zwar von selbst, wird jedoch zu oft anderen, scheinbar noch wichtigeren Aktivitäten geopfert. Dadurch leidet häufig die Glaubwürdigkeit der Führungskräfte und es stärkt die Opferhaltung der Betroffenen, die im schlimmsten anzunehmenden Fall sogar in eine Art Resignation verfallen können. Um das näher zu beleuchten, empfiehlt es sich, die 6. Brille aufzusetzen.

6. Brille: "Die Emotions-Brille"

Mit dem Brillenset 1-5 haben wir den Grundaufriss des Vorhabens, die notwendigen Energiequellen sowie die Grade möglicher Beteiligung beleuchtet. Also könnte man sagen, stünde der eigentlichen Veränderung wohl nichts mehr im Weg und der Ist-Zustand könnte zugunsten des veränderten, neuen Zustands nun endlich aufgegeben werden. Wie man aus Praxisbeispielen hinlänglich weiß, funktioniert das aber anscheinend nicht so linear wie gewünscht. Man kommt nicht so einfach trockenen Fußes von A nach B. Manchmal leiden Betroffene noch Monate oder gar Jahre an den Folgen von Übernahmen, Fusionen oder anderen radikalen Einschnitten. In den meisten Fällen wohl deswegen, weil der Gestaltung des Übergans von der alten Realität in den gewünschten Zielzustand zu wenig Bedeutung beigemessen wurde. Diese Phase des Übergangs zoomen wir mit der 6. Brille näher heran. Dabei erkennt man, dass jetzt die "Systemabwehr" (3. Brille) in Form von mehr oder weniger heftigen Emotionen ins Spiel kommt. Diese sind Voraussetzung dafür, dass Personen und Organisation sich vom Alten ablösen, und in das Neue wieder eingliedern können. Es gilt gleichsam eine Schwelle zu überwinden, wo man sich nicht mehr im alten Zustand befindet, aber auch noch nicht in der neuen Realität angekommen ist. Es geht um loslassen, um verlernen, akzeptieren, dass etwas definitiv vorbei ist. Es geht um das Aushalten von vorübergehender Orientierungslosigkeit und Identitätsverlust. Wer bin ich, wenn ich nicht mehr das bin, was mich einmal erfolgreich gemacht hat? Und dann gilt es, sich an das Neue heranzutasten, es auszuprobieren, es abzuwägen und nach und nach zu akzeptieren und zum Bestandteil der eigenen neuen Identität zu machen. Das ist ein intensiver Prozess, der von einer Abfolge von Grundgefühlen und deren intrapsychischer und innerorganisatorischer Verarbeitung (siehe 2. Brille über die Regeln von Kommunikation, Kooperation und Entscheidung) begleitet wird. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von emotionalen Verarbeitungsphasen, die vom Management entsprechend begleitet werden müssen, wenn die Veränderung erfolgreich umgesetzt werden soll. In der populären Change-Literatur verwendet man an dieser Stelle gerne das Bild vom "Tal der Tränen".

Die emotionalen Verarbeitungsphasen sind in ihrer Abfolge meist aus eigener Erfahrung bekannt.

  • Zunächst setzt "Verdrängen" bzw. je nach Musterwechselintensität "Schock" ein: Die Veränderungszumutung wird entweder gar nicht wahrgenommen (vielleicht, weil man vor lauter Veränderungsaktivismus schon abgestumpft ist) oder die schlechte Nachricht kann aufs Erste gar nicht gehört werden, weil biochemische Prozesse einen Zusammenbruch der Informationsweiterleitung in den Nervenzellen produzieren.
  • Dann kommt die "Wut" über die Zumutung oder auf jene, die die Zumutung aussprechen, verbunden mit dem Bedürfnis, dieses Gefühl auch für andere sichtbar zu aktualisieren: Abwertungen, Beschimpfungen bis hin zu Protestveranstaltungen oder Demonstrationen können die Folge sein. Irgendwann ist Wut gleichsam verdampft. Zurück bleibt ein Gefühl von Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und Zweifel an der eigenen Kompetenz. In der Affektlogik heißt dieses Gefühl "Angst" – wenngleich es in Unternehmen selten beim Namen genannt wird. Ein gutes, nicht überforderndes Maß an Angst, sagt Ed Schein, hilft, Energien für die Veränderung zu aktivieren. Nach dem Motto "wenn ich jetzt nicht mit ins Boot steige, bleibe ich zurück". Wird die Angst zu mächtig, werden wir handlungsunfähig und verfallen in einen Zustand der Resignation. Weil Gefühle, vor allem negative, durchaus ansteckend wirken, kann es passieren, dass ganze Abteilungen in eine kollektive innere Emigration gehen. Bemerkbar wird dies dadurch, dass Kompetenzen sich auflösen, niemand sich mehr zuständig fühlt, die Betroffenen zwar psychisch präsent, aber innerlich abgetaucht sind.
  • Wird die Angst gut verarbeitet, entsteht in Bezug auf das Veränderungsthema erstes "Interesse", weil sich ein Licht am Ende des Tunnels abzuzeichnen beginnt. Langsam wird es möglich, den Sinn der Veränderung zu begreifen und zu akzeptieren. Im Bild des Tals der Tränen geht es jetzt darum, "die Kurve zu kriegen" in Richtung neuer Realität. Bevor Betroffene und die Organisation dort gut ankommen können, ist eine weitere Verarbeitung zu bewältigen.
  • Die "Trauer" ist, wenn es ausreichend Zeit gibt, sich ihr zu stellen, die letzte Phase vor der Ankunft im Zielbild. Sie erfolgreich zu bearbeiten heißt, sich ("endlich") wirklich vom Alten zu verabschieden. Und das heißt, dem Alten die verdiente Wertschätzung zu geben, damit Platz entstehen kann für das Neue. Wird Trauer nicht zugelassen, kommt man nie wirklich an. Das merkt man, wenn immer wieder die gute alte Zeit zitiert wird. Gute Trauerarbeit hat zum Ergebnis, dass wir akzeptieren, dass etwas definitiv vorbei ist und nun eine neue Lebens- bzw. Organisationsphase folgt.

Diese emotionalen Verarbeitungsphasen zu begleiten, ist Aufgabe der Führungskräfte. Die 6. Brille schärft den Blick, womit diese angesichts von "Systemwiderstand" jenseits aller (sachlichen) Logik von der soft fact Seite her zu rechnen haben. Die Haltung, mit der sie dieser Dynamik begegnen sollten ist: nicht beschleunigen und nicht ungeschehen machen wollen, sondern Raum und Zeit schaffen, damit sich aus der Formlosigkeit des Übergangs das Neue formen kann.

Die hier beschriebenen Brillen 1-6 aufzusetzen hilft uns als Berater, das Veränderungsvorhaben gemeinsam mit unseren Kunden zu konturieren. Weil einfach zu handhaben, sind nach unserer Erfahrung Veränderungsmanager damit in der Lage, sich gut auf den Prozess der Umsetzung einzustimmen. ein eigenes Instrument auf Basis der „6-Brillen-Theorie“ ermöglicht es uns, in etwa zwei bis drei Stunden ein komplexes Veränderungsvorhaben phasenweise zu planen.


Autoren: Dr. Ingrid Kreuzer, Dr. Michael Schulte-Derne. Die Autoren sind Geschäftsführende Gesellschafter von C/O/N/E/C/T/A, Wiener Schule der Organisationsberatung, www.conecta.com

Literaturhinweise:

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