Wie Phönix aus der Asche

Dass Not erfinderisch machen kann, haben im vergangenen Jahrzehnt wohl wenige Firmen eindrücklicher und erfolgreicher unter Beweis gestellt als Philips Sound Solutions.

Besitzen Sie ein Mobiltelefon? Sehr wahrscheinlich. Damit haben Sie gute Chancen, zum Kundenkreis von Philips Sound Solutions zu zählen, denn das ist der Weltmarktführer bei Lautsprechern im Handy-Bereich mit etwa 47 Prozent Weltmarktanteil. Heute. Vor 12 Jahren hätte darauf wohl niemand einen müden Euro gewettet. Denn Anfang der 90er-Jahre stand die Lautsprecher-Produktion in Wien nach mehreren Jahren chronischer Verluste und diverser gescheiteter Sanierungsversuche vor dem endgültigen Aus.

Gesucht: Werkschließer

Das Angebot, das der Philips-Vorstand dem Manager Ernst Müllner im Jahr 1990 unterbreitete, war deshalb alles andere als erfreulich. Die Bitte war schlicht und einfach, das Werk dicht zu machen. Müllners erste Reaktion: „Warum soll ich etwas schließen, wofür ich nicht verantwortlich bin? Das ist ja nicht gerade eine erstrebenswerte Aufgabe. Wir haben das dann diskutiert und am Ende des Gesprächs hatte ich eine Forderung: Ich kann nichts schließen, was ich nicht kenne. Ich kann es nur dann, wenn ich es kennen gelernt und eine persönliche Überzeugung gewonnen habe.“

Die Forderung wurde akzeptiert und die Aufgabe modifiziert: „Gut, Sie haben drei Monate Zeit, sich ein Bild zu machen. Wenn Sie eine Lösung finden, sind wir sehr interessiert, uns das Konzept anzuhören, und wenn nicht, dann schließen Sie die Fabrik.“

Wohin soll man sich wenden?

Die Zeit war verdammt knapp, dafür der Ehrgeiz hoch, eine tragfähige Alternative zur Schließung zu finden. Die Ausgangslage war allerdings alles andere als toll. Die Mannschaft frustriert, demotiviert, resigniert. Die Wiener Fabrik, Teil des globalen Geschäftsbereichs „speaker systems“, entwickelte und produzierte Lautsprecher für die Geschäftsbereiche Audio, Video und Automotive und stand dabei nicht nur mit externen Konkurrenten im Wettbewerb, sondern auch mit anderen Philips-Fabriken, die samt und sonders eine bessere performance aufzuweisen hatten. Dieser Krieg, das war schnell klar, war nicht zu gewinnen. Damit war aber auch klar: ein neues Betätigungsfeld musste her, die laufenden Verluste mussten gestoppt werden und die Mannschaft benötigte dringendst einen veritablen Energiestoß. Denn ohne Glauben lassen sich bekanntlich keine Berge versetzen.

Eine Vision muss her

Wie es der Zufall (wenn Sie daran glauben) so will, hatte Ernst Müllner in seiner früheren Funktion geschäftlich viel mit Fernost zu tun gehabt, wobei ihm bestimmte Begebenheiten besonders.im Gedächtnis haften geblieben waren: „Zu der Zeit gab es bei uns in Europa nur diese klobigen Mobiltelefone, die man wie einen Koffer mit sich herumgetragen hat. In Asien hingegen kamen damals gerade die ersten Handys auf den Markt, die so klein waren, dass man sie einstecken konnte. Speziell in Hongkong war es ein Ritual, dass das erste, was Geschäftspartner gemacht haben, wenn man mit ihnen Essen gegangen ist, war, dass sie in die Tasche gegriffen und ihr Handy in Zeitlupe auf den Tisch gelegt haben Und alle haben sich daran ergötzt.

Da war mir klar, dass das nur eine Frage der Zeit ist, bis da ein gewaltiger Boom einsetzen wird und das war dann genau mein Lösungsansatz. Daraus habe ich dann - natürlich mit den notwendigen Recherchen - die Vision für die Organisation geboren: Wir wollen in die Telekommunikation und mittelfristig einer der top drei Anbieter in diesem Segment werden. Zu der Zeit gab es klarerweise wenig Berechtigung, das für uns in Anspruch zu nehmen. Es war zuerst nur eine Vision, aber je mehr wir uns damit beschäftigt haben, umso mehr haben wir begonnen es zu glauben. Zuerst auf der Managementebene und dann darunter.“

Tolle Vision, harte Realität

Schon lauerte das nächste Problem: Konkurrenzanalyse und Benchmarking - was gibt es bereits für Produkte, was gibt es für Konkurrenten ,welche Technologie setzen die ein -  machten eines schnell klar: „Wenn wir versuchen, das nachzumachen, was andere schon tun, die noch dazu im billigsten Eck der Erde sitzen, dann werden wir nie eine Chance haben. Wir müssen uns deutlich unterscheiden. Aber wie tut man das? Wir müssen den Kunden etwas bieten, was einzigartig ist. Das führt zum Schlagwort Technologieführerschaft. Naja gut, super, aber was heißt das jetzt? Selbst wenn Sie Technologieführer sind, heißt das noch lange nicht, dass Sie in der Lage sind, die besten Produkte zu produzieren. D.h. Sie müssen auch auf der Manufacturing-Seite Spitze sein. Was heißt das aber wieder? Und vor allem: Wie lösen Sie das Problem, dass die Firmen in Asien mit Kosten von 1:50 zu uns produzieren? Sie brauchen also völlig andere Produktionstechnologien. So haben wir uns durch die ganze Kette durchgearbeitet.“

Wollen ja, aber Können?

Das Ziel wurde immer klarer, die zu bewältigenden enormen Aufgaben zeichneten sich zumindest in Umrissen ab, aber was brauchte es dazu für Kompetenzen? „Wir haben zu Beginn eine Ist-Zustands-Analyse gemacht. Wir nennen das Key-Competence-Matrix. Wir haben uns gefragt: Wo wollen wir in 3,4, 5 Jahren sein. Was denken wir, was brauchen wir dazu für Kompetenzen? Welche haben wir schon und wo sind Lücken? Dann haben wir intensive Trainings gemacht und – wo nötig und möglich – aus anderen Konzernbereichen zusätzliches Wissen ins Unternehmen geholt. Schlimm ist, wenn man die Lücken nicht kennt. Dann hat man Misserfolge, und wenn man das analysiert, merkt man erst: Das ist ja ganz klar, uns fehlt diese oder jene Kompetenz!

Es gab aber auch Fragestellungen, da war von vornherein klar, dass uns dieses Wissen keiner anbieten kann. Denn da waren wir eben die ersten, die sich damit beschäftigt haben. Da bleibt Ihnen nur die Möglichkeit, die nötigen Software- und Hardwarekompetenzen einzukaufen, die Leute auf das Thema anzusetzen und ihnen zu sagen, ihr habt ein Jahr Zeit, dann muss das Problem gelöst sein. Und dann brauchen Sie – jenseits aller Meilensteine und Zwischenchecks - einen sehr starken Glauben, damit Sie unterwegs nicht der Mut verlässt.“

Können ja, aber Dürfen?

Die Vision war also da, das Konzept plausibel, die Mannschaft von Tag zu Tag mehr motiviert, die notwendigen Kompetenzen entwickelbar, aber die dazu nötigen Resourcen? Was war mit dem OK des Konzerns? Mindestens ebenso dringend wie die Neuausrichtung war die schnellstmögliche Sanierung des bestehenden Geschäfts, um den Rest einer Chance zu wahren, das neue Konzept umsetzen zu können. Ob Durchforstung des Produktportfolios samt Aufdecken von Kalkulationsfehlern, aufgrund dessen sich vermeintliche Cash cows plötzlich als massive Verlustbringer entpuppten, ob radikales Qualitätsmanagement zur Verringerung des Ausschusses oder schnellere Durchlaufzeiten aufgrund verbesserter Prozesse – es gab unzählige Maßnahmen, neue Prioritäten, erste Erfolge, die bei den Mitarbeitern wieder Hoffnung weckten, weitere Verbesserungen und nach neun Monaten ging die Firma erhobenen Hauptes wieder über die Nulllinie. Parallel dazu wuchs das Vertrauen des Top-Managements (s. Interview, Seite..) und das eben noch Unvorstellbare trat ein: statt „go and close them down“ hieß es nun „ok folks, go and get them!“

Todgeglaubte leben länger

So entscheidend es war, das Top-Management vom Vermögen der Organisation und der Zukunftstauglichkeit des Konzepts zu überzeugen, so wichtig ist in diesem High-Tech-Segment der lange Atem. Denn Entwicklungsprozesse, beginnend bei der Grundlagenforschung, über Technologieentwicklung, Konzeption neuer Produktionsprozesse und darauf aufsetzend erst Produktentwicklung nehmen circa drei Jahre in Anspruch. Der erste, allerdings revolutionäre, Output datiert daher aus dem Jahr 1994. In diesem Jahr installierte die Firma eine vollkommen neuartige Produktionsanlage. Ihr Produktionszyklus: Eine Sekunde! D.h. nach jeder Sekunde kam am Ende dieser vollautomatisierten Produktionsstrasse ein fertiger Lautsprecher heraus, während der Mitbewerb damals ein Assembling mit tausenden Personen und sehr viel Handarbeit betrieb.

Ein Detail, das die zu lösenden Probleme bei der Entwicklung dieser Anlage zumindest erahnen lässt, ist die Fragestellung, zu deren Lösung das oben erwähnte Projektteam ein Jahr Zeit gehabt und das es schließlich mit Bravour gelöst hatte. Die Frage hieß: Wie können wir die akustische Qualität der Lautsprecher in einer voll automatisierten Anlage messen, die eine Produktionszeit von 1 Sekunde hat, wodurch eine Messzeit übrigbleibt von 0,2 Sekunden?

Das Glück des Tüchtigen

1994 kam das erste selbst entwickelte Telekommunikationsprodukt auf den Markt, gerade zu der Zeit, als der Handy-Boom begann. Ein optimaler Start. Unterstützt dadurch, dass das Management frühzeitig damit begonnen hatte, eigene Vertriebswege aufzubauen und entgegen bisherigen Konzerngepflogenheiten direkten Kontakt zu den Kunden zu suchen. Bisher hatte das Werk als interner Lieferant produziert, andere Bereiche hingegen hatten die Produkte verkauft – nun lief die Kommunikation zwischen Werk und Kunden direkt und ungefiltert. Massive konzerninterne Konflikte blieben nicht aus, wurden aber riskiert und erfolgreich durchgefochten.

Eine Folge dieses direkten Marktzugangs war u.a. eine höchst gedeihliche Entwicklungspartnerschaft mit einer damals gerade aufstrebenden Firma namens Nokia, aus der 1998 ein Produkt entstand, das sich zum Renner entwickelte und heute als Normprodukt angesehen wird, das die Konkurrenz nachzubauen bemüht ist. Der Rest ist Geschichte und durch einige wenige Zahlen eindruckvoll zu unterlegen: 1990 produzierten in Wien rund 180 Mitarbeiter in etwa 8 Millionen Produkte und einen Umsatz von 7,27 Mio. Euro. Heuer produzieren rund 460 Mitarbeiter 220 Millionen Produkte und einen Umsatz von etwa 145 Mio. Euro. Und das bei einer durchschnittlichen Preiserosion von 10-20 Prozent pro Jahr.

10.2002

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