Innovation oder Tod

Wenn Organisationen nach Innovation rufen, was ist dann damit gemeint? Und warum tun sie sich speziell mit den heiss begehrten "radikalen" Innovationen so schwer?

Sie sind auf der Suche nach aufregenden Innovationen, nach dem ultimativen Wettbewerbsvorteil? Wer nicht! Die Anregungen und Antworten, die Sie dazu aus der vorhandenen Literatur erhalten, werden Ihnen allerdings nur bedingt weiterhelfen.

  • In Laufmetern bemessen sich die Bücher zum Thema Kreativität, mit Schwerpunkt auf der personalen, individuellen Ebene.
  • Ebenfalls zahlreich sind die Bücher und Studien zum Thema "Hochleistungsteams" als Keimzelle vieler Neuerungen (wobei hier im Moment wieder die These Oberhand gewinnt, dass Entdeckungen überwiegend von einzelnen Personen kommen, ihre Weiterentwicklung und Reifung aber durch Teams besser vorangetrieben und realisiert werden kann).
  • Eher dünn gesät und oft sterbenslangweilig, weil technikverliebt, ist Literatur zum Innovationsprozess selbst (meist Phasenmodelle samt Checklisten und Schrittfolgen).
  • Wirklich spärlich wird das Material aber, wenn es nicht um Person oder Team, sondern um die organisatorische Ebene von Innovation geht. Um die Frage, was eigentlich eine innovative Organisation jenseits von einigen kreativen Köpfen und engagierten Teams auszeichnet. Somit der große Rahmen, in dem die Kreativität Einzelner und die Innovationskraft von Teams erst ihre Wirkung zu entfalten mag.

Können Systeme innovativ sein?

Gesucht sind Antworten auf die Frage, wie Organisationen gestaltet werden können und müssen, um Innovationen nicht glücklichen Fügungen zu überlassen, sondern als immanenten Bestandteil des Unternehmens zu verankern. Darauf, wie organisatorische Rahmenbedingungen gestaltet werden müssen und vor allem darauf, wie die dabei unvermeidlich auftretenden Schwierigkeiten konkret gemanagt werden können. Denn ein Punkt wird bei den meisten Abhandlungen und Erfolgsstories über innovative Unternehmen unterschlagen: Innovationen sind – und je radikaler und neuartiger sie sind umso mehr – vor allem einmal Störungen des bisherigen Weges. Sie stellen hart erarbeitete – oft sehr erfolgreiche - Lösungen infrage, machen sie im schlimmsten Fall obsolet. Sie sind unbequem und sie bringen Unruhe ins System. Sie gehen oft einher mit neuen Produktionsweisen und neuer Technologie, sie erfordern die Neugestaltung eingespielter Prozesse, legen neue Markt- und Vertriebskonzepte nahe und benötigen dazu neue mentale Modelle, neue Einstellungen. Eben nicht nur eines Entwicklungsteams, sondern der gesamten Mannschaft.

Der Kampf um Anerkennung

Genau aus dem Grund, dass es geradezu Wesensmerkmal von Innovationen ist, die über die Verbesserung bestehender Produkte und Dienstleistungen hinausgehen, dass sie die bisherigen Grundannahmen in Frage stellen, nach denen die Strukturen und Prozesse der Organisation ausgerichtet sind, haben Innovationen oft so einen schweren Stand. Und genau aus dem Grund kommen sie so oft von Quereinsteigern oder Start-ups, die ihr Geschäft unbelastet von bisherigen Erfolgen an der neuen Logik ausrichten können. Unbelastet von der bisherigen Systemlogik, den bisherigen Technologien und Marktdefinitionen, die ihren Ausdruck finden in bestimmten Produkten und Dienstleistungen und damit eng korrespondierenden Strukturen, Prozessen und Unternehmenskulturen.

Newcomer haben nicht mit widersprüchlichen Logiken zu kämpfen, existierende Unternehmen kommen um diesen Konflikt nicht herum. Viele schaffen diesen Umstieg überhaupt nicht, einige unter großen Schmerzen und nur wenige schnell und "proaktiv". Egal welche Branche Sie hernehmen, betrachten Sie ein Ranking aus dem Jahr 1990, vergleichen Sie es mit einem Ranking von 2000 und einem aus dem Jahr 2010. Einige damalige Marktführer sind bereits untergegangen, viele abgestürzt und nur ganz wenige ursprüngliche Spitzenreiter haben sich gehalten. Die meisten aktuell führenden Namen haben vor 20 oder 10 Jahren noch gar nicht existiert.

Wandel ist ungleich Innovation

Sie könnten einwenden: "Das Problem ist nicht neu. Das gibt es bei jeder Reorganisation, die über reines Kostendrücken hinausgeht." Ja und nein. Ja, weil auch eine strategische Neuausrichtung mit einem neuen "Mindset" verbunden sein kann, oft sein muss, um eine Chance auf Erfolg zu haben. Nein, weil eine neue Strategie, etwa die Konzentration auf bestimmte Märkte und das Aufgeben anderer, bislang favorisierter Geschäftsfelder, noch lange keine innovative Leistung sein muss. Häufiger ist es eine lange aufgeschobene, dringend anstehende Optimierung, eine Beseitigung von Schwächen und gar nicht so selten ein Nachahmen derzeit moderner Strömungen. ("Die anderen machen das ja auch, da muss ich nachziehen.")

Die Innovationskraft einer Organisation langfristig und nachhaltig zu stärken, meint hier aber etwas anderes. Barbara Heitger und Alexander Doujak formulieren dies in ihrem Buch "Harte Schnitte, Neues Wachstum" folgendermaßen: "Wir beziehen die Innovationsstärke nicht - wie üblich - unmittelbar auf Produktinnovation, sondern auf die Bereitschaft und Fähigkeit der Organisation und der involvierten Personen dazu, Innovationen zu entwickeln, zu erproben und in der Umsetzung voranzutreiben. Innovativität als fundamentale Systemeigenschaft ist gewissermassen in der Handlungslogik der Organisation verankert – oder auch nicht. Begünstigt die organisationale Handlungslogik innovatives Verhalten, dann – und nur dann – sollte man eine Organisation auch als innovativ bezeichnen."

Das Managen zweiter Logiken

Innovationsbemühungen folgen nach Ansicht der beiden Autoren - im Vergleich zum Tagesgeschäft und zu den "harten Schnitten" von Rationalisierungs- und Optimierungsmaßnahmen  - einer ganz andere Logik, sowohl hinsichtlich der Logik der Zahlen (langfristige Potentiale statt kurzfristige Kostenminimierung und Gewinn) als auch hinsichtlich der Logik der Gefühle (Aufbruchstimmung, spielerische Neugier, Risikobereitschaft statt Sorgen, Ängsten, aber auch Aggression bei harten Schnitten). Dazu bedürfe es der Fähigkeit, sich zu öffnen - die Wahrnehmungsbarrieren der Alltagsroutinen aus dem Tagesgeschäft hinter sich zu lassen und radikal Neues zu denken, zu erproben, weiterzuentwickeln und schließlich in der Fläche umzusetzen.

Neues Wachstum dieser Art zu fördern oder besser noch herauszufordern sei daher nicht trivial, gehe es doch darum, einerseits die "Selbstverständlichkeiten" der Alltagsroutine bisheriger Erfolge hinter sich zu lassen (Wirklichkeitskonstruktionen, innere Bilder und Annahmen über sich, Kunden, Mitbewerber den Markt, Manager, Mitarbeiter, Handlungs- und Entscheidungsmuster). Andererseits gehe es darum, Offenheit und Anreiz dafür, dass "ganz Anderes" entstehen und reifen kann, zu schaffen.

Wie öffnet man Organisationen?

Die große Herausforderung ist daher, Organisationen so flexibel zu halten, dass sie trotz der bisherigen Erfolge offen und aufnahmefähig für Innovationen bleiben. Wie geht das aber konkret?

Auch wenn es keine einfachen Rezepte gibt, ein paar Hinweise liefern besonders innovative Unternehmen allemal. Zum einen sind sich Manager solcher Unternehmen dieses zu balancierenden Widerspruchs nur allzu bewusst, und das ist durchaus keine Selbstverständlichkeit. Sie wissen um die unterschiedlichen Logiken von Tagesgeschäft und Innovation und handeln dementsprechend.

Besonderer Schutz:

Neue, "gefährliche" Ideen sind zarte Knospen, die schnell gleich wieder absterben, wenn sie am Anfang nicht besonderen Schutz bekommen. Sie brauchen eine bestimmte Reifungsphase. Werden sie zu früh auf ihre Umsetzbarkeit und den voraussichtlichen Return on Investment geprüft, erblicken sie nie das Licht der Welt. Manager besonders innovativer Firmen schaffen daher systematisch "geschützte Räume", Biotope, damit aus Samen zumindest einmal kleine Setzlinge werden können. Und sie schützen diese Setzlinge länger als weniger innovative Unternehmen.

Zeit und Raum:

Sie stellen Resourcen zur Verfügung und transparente Regeln auf, nach denen Resourcen zugeteilt werden. Eines der immer wieder zitierten Beispiele dafür ist der Konzern 3M, der heuer sein hundertjähriges Bestehen feiert und mittlerweile ein bis zwei Produkte pro Tag (!) neu auf den Markt bringt. Mag. Gerhard Mrak, Human Resources-Leiter für mehrere europäische Länder: "Ein – vielleicht banal klingender, aber wichtiger – Grund dafür, dass eine kreative Atmosphäre entsteht, ist Geld. Sie müssen bereit sein, Resourcen bereitzustellen. Bei 3M fließen 7 Prozent des Umsatzes in die Forschung. das sind 1 Milliarde Dollar pro Jahr. Mindestens so wichtig wie Zeit und Geld für Forschung sind aber auch Zeit und Geld für Austausch. Unsere insgesamt 7.000 Forscher und Entwickler weltweit treffen sich immer wieder in den verschiedensten Foren, um sich auszutauschen und gegenseitig zu befruchten, aber auch, um die Konkurrenz im Haus niedrig zu halten. Zudem kann jeder von ihnen 15 Prozent seiner Zeit an Projekten seiner eigenen Wahl arbeiten, auf Basis bestimmter Prüfkriterien."

Besondere Antennen:

Innovationsmanager setzen sehr gezielt Maßnahmen, um die Sensitivität ihrer Organisation für Umweltveränderungen zu erhöhen. Sie etablieren sozusagen verschiedene "Radarsysteme": sie bringen "die ganze Organisation zum Kunden" indem Mitarbeiter aus Forschung und Entwicklung "gezwungen" werden, direkten Kundenkontakt zu halten, indem sie Kundenbesuche absolvieren oder für bestimmte Projekte an Kunden "verliehen werden". Sie vergeben gezielt Aufträge an Mitarbeiterteams, bestimmte Themenbereiche systematisch zu scannen, sei es durch Internet-Recherchen oder Interviews mit Kunden, Lieferanten und Komplementäranbietern (Firmen, die Kontakt zur Konkurrenz haben und damit nicht selten über höchst relevante Infos über neue Entwicklungen und Trends verfügen).

Außenperspektive: Vor allem erzeugen solche Manager immer wieder gezielt Irritationen und Unruhe im eigenen Unternehmen, indem sie Szenarien hochspielen und damit den Aufmerksamkeitsfocus der Mitarbeiter verschieben. Sie nutzen Gefährdungspotenziale wie "Wenn wir nicht aufpassen und dieses oder jenes eintritt, dann könnte uns bald der Boden unter den Füssen weggezogen werden" um der ständig drohenden "Überheblichkeit" erfolgsverwöhnter Unternehmen gegenzusteuern. Sie fordern Mitarbeiter z.B. auf, ihre Firma einmal aus dem Blickwinkel der Konkurrenz zu betrachten: An welchen Stellen sind wir besonders verwundbar? Was könnte die Konkurrenz tun, um solche Schwächen bestmöglich auszunutzen?

Toll, Fehler!

Sie pflegen – nicht nur in Sonntagsreden, sondern in ihrem täglichen Handeln – eine andere Herangehensweise an Fehler und Probleme am Markt, indem sie sie systematisch als Lernfelder und unschätzbare Informationsquellen nutzen. Nach dem Motto: "Der einzige Fehler, den man bei mir nicht machen darf, ist, Fehler vertuschen zu wollen, weil dann rechtzeitige Lösungen komplizierter oder gar unmöglich werden."

10.2002

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