Management Audit als Selbsteinschätzung

Ein Industrieunternehmen mit ca. 1500 Mitarbeitern unterzieht sich einem anspruchsvollen Reengineeringprozess, der das ganze Unternehmens umfasst und eine Neuordnung der Führungspositionen erfordert. Die gewählte Form des Audits bezieht auch den Vorstand aktiv mit ein.

"Eine präzisere Segmentierung der Geschäftsbereiche, um überschaubare, lebensfähige Organisationseinheiten entstehen zu lassen, die einer klaren Produkt/Marktrelation folgen und eine verstärkte unternehmerischer Verantwortung dieser Bereiche gewährleisten." Das waren, so beschreibt es ein ehemaliger Vorstand, die wichtigsten strategischen Ziele der angepeilten Neuorientierung.

"Früher hatten wir eine Struktur nach technischen Abteilungen und den klassischen Verwaltungsbereichen Buchhaltung, Personal usw. Der Neuentwurf bestand nun aus einer holdingähnlichen Struktur und darunter den operativen Geschäftsbereichen mit je einem technischem und kaufmännischen Leiter. Im wesentlichen zu besetzen waren die kaufmännischen Leiter. Die sollten jeweils mit dem Techniker ein Führungsteam bilden. Die zentrale Frage war nun: Wer der bisherigen Abteilungsleiter der internen Verwaltungseinheiten hat dazu das Zeug, und wer ist eher prädestiniert für die Leitung der Serviceabteilungen, die nun in der Holding angesiedelt sein und eine neue Querschnittsfunktion wahrnehmen würden."

Einerseits stand also die Besetzung neuer Funktionen an, zum anderen galt es generell, unter den Führungskräften eine Auseinandersetzung mit den geänderten Rahmenbedingungen und den damit geänderten Anforderungen ans Führungsgeschäft zu initiieren. Dr. Gundi Vater von der Beratungsfirma OSB: "Die Intervention sollte klar machen, dass sich alle im Haus bewegen mussten. Es sollte aber nicht Bisheriges abgewertet werden, sondern wir wollten eine Form des "in Würde Lernens" auch für langgediente und erfahrene Führungskräfte finden."

Selbsterkenntnis statt Benotung

Als klares Signal an die Führungskräfte entschied sich der Vorstand für die Durchführung eines Management Audits. In einer Klausur mit einem Prozessberater und einem Eignungsdiagnostiker der OSB erarbeitete das Top-Management die neuen Anforderungen an die erste Berichtsebene, erstellte ein Anforderungsprofil und legte den Personenkreis fest, aus dem ausgewählt werden sollte. Genannt wurden etwa 20 Personen.

Gewählt wurde die Form eines Self-Assessments, d.h. die Erarbeitung eines Selbstgutachtens anstatt eines Fremdgutachtens, um nicht die Entscheidungsverantwortung aus dem System heraus an die Experten zu delegieren, sondern einen Aushandlungsprozess zwischen Top-Management und erster Ebene in Bezug auf neue Aufgabengebiete, veränderte Führungsbeziehung und vorhandene Potenziale zu unterstützen.

Im nächsten Schritt präsentierte der Vorstand in einer Kick-off-Veranstaltung den in Frage kommenden Führungskräften noch einmal die neue Struktur und die strategischen Überlegungen, informierte sie über das Stattfinden des Self-Assessments und übergab ihnen als Vorbereitungsunterlage einen von der OSB entwickelten Leitfaden zur Erstellung eines Anforderungs- und Eignungsprofils für neu zu besetzende Stellen.

Die Führungskräfte kamen dann mehr oder weniger skeptisch, irritiert, abwartend, reserviert, aber auch neugierig zu den Terminen mit einer/m der beiden EignungsdiagnostikerInnen. Den Start des eintägigen Verfahrens prägten die Unklarheit über den Sinn des Verfahrens und Irritation über die Zumutung, sich trotz langjährig bewährter Führungsarbeit im Haus so einer Prozedur unterziehen zu müssen.

Herzstück des Verfahrens war ein ausführliches Tiefeninterview, gefolgt von einigen Fragebögen und speziellen Tests. Eingesetzt wurden der "STAB-Test", der Hinweise liefert auf grundlegende Muster der Interpretation und Verarbeitung der sozialen Wirklichkeit, "der Karriereanker", der Hinweise gibt auf innere Werthaltungen, Hintergründe beruflicher Entscheidungen und Rückschlüsse darauf erlaubt, wie Herausforderungen sein müssen, damit so etwas wie ein Gefühl innerer Stimmigkeit entsteht sowie "der Giessen-Test", der Motivlagen, Antriebe und Ängste erfasst.

Im nächsten Schritt, während der Berater die Eindrücke und Ergebnisse auswertete und zu einer ersten Einschätzung bündelte, setzte sich die Führungskraft noch einmal mit den vermuteten eigenen Stärken und Lernfeldern, gemessen an den Anforderungen der neuen Stelle, auseinander.

Anschließend wurden Selbst- und Fremdeinschätzung verglichen und eingehend diskutiert, angereichert mit Fragen zu möglichen Konfliktlinien zu Vorstand, Kollegen, Mitarbeitern und Ideen zu Kooperationen unter den geänderten Rahmenbedingungen. Damit war die Basis gelegt für den nächsten Schritt: ein gemeinsames Gespräch zwischen Vorstand, Führungskraft und Berater. Der Berater war dabei, um diesen noch eher ungewohnten Aushandlungsprozess eher moderierend zu begleiten, wenn nötig mitzuhelfen, gewohnte, eingespielte wechselseitige Vorurteile und Kommunikationsmuster zu vermeiden und bei Bedarf fachliche Fragen zu den verschiedenen Verfahren beantworten zu können.

Training für die Vorstand

Erster Punkt war die Diskussion des vermuteten Anforderungsprofils, wobei der Vorstand bestimmte Punkte korrigierte, sie hervorhob und unterstrich. Vor dem Hintergrund des geklärten Rollenprofils wurde das Selbstgutachten der Führungskraft besprochen, wobei der Vorstand sich dazu mit seiner Einschätzung in Beziehung setzte. "Interessant zu beobachten", so Dr. Vater "war ein beeindruckender Nebeneffekt bei den Vorstandsmitgliedern. Dauerten die ersten Gespräche noch kaum länger als eine halbe Stunde, gelang es den Vorständen dann immer besser, die Gespräche tatsächlich als Beginn neuer Formen der Kommunikation zu nutzen. Es wurden äußerst professionell Fragen gestellt, Rückmeldungen gegeben, Position bezogen, Klartext gesprochen und die Gespräche dementsprechend ausführlicher."

Nach dem Abschluss der Gespräche gab es eine Entscheidungsklausur des Vorstandes, bei dem die Ergebnisse der Gespräche ausgewertet wurden und gemeinsam die anstehenden Personalentscheidungen – wer ist eher geeignet für eine Leiterfunktion in den neuen Töchtern, wer eher für die Leitung einer Verwaltungseinheit oder einer Stabstelle in der neuen Holding – getroffen wurden. Dann gab es eine Rückmeldung des Vorstands an die einzelnen Führungskräfte sowie das Angebot, jetzt wo die Besetzungen feststanden, auf Wunsch noch ein Entwicklungsgespräch mit den Eignungsdiagnostikern zu führen, was teilweise auch in Anspruch genommen wurde.

Inzwischen hat sich viel verändert. Wechsel im Vorstand, dann Wechsel der Eigentümer, damit wieder neue Strukturen. Geblieben ist, zumindest beim ehemaligen Vorstand, "diese Vorgangsweise bei Stellenbesetzungen. Dieses Abgleichen von Selbst- und Fremdeinschätzung. Da bekommt man schon einen sehr guten Eindruck von den Leuten. Von den 20 Leuten haben wir uns bei einem geirrt. Und da weiß ich heute ziemlich genau, welchen Fehler ich gemacht habe."

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