"Wirtschaft kennt keine Ethik"

Dr. Bernhard Pesendorfer, Leiter des Instituts angewandte Philosophie Wien und Zürich über den Zusammenhang von Wirtschaft, Ethik, Politik und Recht.

Herr Dr. Pesendorfer, was haben Management und Ethik miteinander zu tun?

Ich behaupte, jeder der managt, der Menschen führt, hat einen extrem politischen Job. Sie können aus Anlass des Umgangs mit Menschen in sachlichen Zusammenhängen die anderen - während Sie sie als Mittel gebrauchen, was in wirtschaftlichen Zusammenhängen unvermeidlich ist - als Bürger behandeln oder als Sklaven. Dadurch, dass eine asymmetrische Existenzbedrohung besteht, sind Sie in der Wahl Ihrer Mittel frei, wenn keine politischen Vorgaben das einengen. Deregulierung heißt insofern natürlich möglichst wenig Einengung.

Wenn Wirtschaftsethik aber glaubt, man könnte Ethik aus der Wirtschaft heraus begründen, ist das sinnlos. Die Wirtschaft wird niemals Menschen als Menschen behandeln, sondern immer nur als Sachen. Das ist auch ihr gutes Recht. Daher müssen die politischen Umweltbedingungen so sein, dass aus Anlass dieser Tätigkeit, wo wir einander Mittel sind, wir uns wechselseitig dennoch als Menschen behandeln. Das ist immer eine politische Frage, keine wirtschaftliche. Die Wirtschaft kennt Ethik nicht.

Also gibt es eigentlich gar keine Wirtschaftsethik?

Wirtschaftsethik gibt es schon, nämlich: Welche politischen Grundsätze muss die Wirtschaft einhalten, wenn sie Menschen zum Zweck der Arbeit und der Gewinnmaximierung organisiert oder behandelt? Ansonsten ist Wirtschaftsethik immer nur Mittel zum Zweck, um das Zusammenwirken der Menschen innerhalb der Sklavenlogik zu optimieren. Daher kommen ja auch Bestrebungen wie Corporate Governance. Das sind Regeln, die sich die Unternehmen selbst geben, damit sie nicht eines vom Staat in Form einer staatlichen Regulierung auf die Schnauze bekommen. Klarer Weise sagen sie: "Es ist immer noch besser, wir machen so eine unverbindliche Regulierung, die nicht weiter groß kontrolliert werden kann." Denn das ist ja nicht rechtlich verbindlich, was da drinnen steht. Es ist weder einklagbar noch gibt es Sanktionen.

Ich würde mich aber bei der Durchsetzung ethischer Grundsätze gegenüber der Ökonomie nicht auf das Wohlwollen der Herrschenden verlassen, auf diese Eigenverantwortlichkeit der Unternehmen. Das ist ja zum Lachen, denn der Manager muss der Logik der Wirtschaft folgen. Der Eigenverantwortung der Unternehmen zu überantworten, ob sie ethisch handeln oder nicht, ist Willkür. Das ist wie wenn man dem einzelnen Arzt die Euthanasiefrage übertragen würde. Das kann nicht der Einzelne entscheiden, er braucht dafür einen gesellschaftlichen, juristischen Rahmen.

Damit ist die Politik gefragt..

Früher haben Unternehmen immer auch eine gewisse Verantwortung für eine Region übernommen. Den großen Konzernen ist das heute völlig egal. Wenn Daimler heute in Irland seinen Firmensitz hat und dort Steuern zahlt, dann heißt das nichts anderes, als dass der Konzern in großem Stil Infrastruktur stiehlt. Das ganze Bildungssystem und die Infrastruktur zahlt Baden-Würtenberg, die Gewinne werden aber in Irland versteuert. Das ist im Grunde genommen großräumiger Diebstahl, der im Rahmen der Konkurrenz der Volkswirtschaften sozusagen geduldet wird. Die Schweiz war immer schon stolz darauf, dass sie eine Steuerkonkurrenz zwischen den Kantonen hat, was aber zu einer enormen Ungerechtigkeit führt. Denn wenn man viel Geld hat, kann man in einen anderen Kanton gehen und dort bei den Steuerbehörden kundtun: "Ich gebe euch eine Million im Jahr, dafür möchte ich aber keine Deklaration machen. Ihr wisst nicht, was ich verdiene." Wenn der dann sagt: "Ja, aber..." heißt es: "Was, aber? Dann gehe ich eben in den Nachbarkanton!"

Durch diese Konkurrenz der Steuersysteme können die Unternehmen die Kantone völlig ausspielen. Deswegen hat die Schweiz auch große Schwierigkeiten mit der EU mit deren Bestrebungen in Richtung Steuerharmonisierung. Steuerharmonisierung ist nur nach Begriffen der Gerechtigkeit durchzusetzen, nicht nach Begriffen der Konkurrenz zwischen Volkswirtschaften. Steuerharmonisierung ist ökonomisch nicht sinnvoll, sie ist politisch sinnvoll, dann wenn man den Frieden im gemeinsamen Wohlstand mitbegründet sieht. Das ist das EU-Projekt. Europa will teilen, weil es keinen Krieg mehr will. Daher die EU-Erweiterung als Konfliktlösungsmodell. Die EU zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass viele Dinge, die früher ein glatter Kriegsgrund gewesen wären, heute zu Ritualkriegen führen: zu Verhandlungsmarathons und zu Verstimmungen. Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft und jetzt gibt es sogar eine gemeinsame Verfassung. Wie sie die herbeigeführt haben, ist eigentlich selbst wieder eine tolle Geschichte. Dass die Leute gestritten haben bis aufs Blut und sich am Schluss zu 98 Prozent einig sind, das wäre früher in Europa undenkbar gewesen.

Wie steht es um die persönliche Verantwortung?

Wenn man über Wirtschaftsethik redet, fangt man meist bei der individuellen Ethik an. Aber Ihre und meine Reichweite der Verantwortung sind begrenzt. Meine Verantwortung reicht dort, wo die mächtigen ökonomischen und politischen Verantwortungen aufeinanderprallen, nicht hin. Daher ist der Appell ans individuelle Gewissen für die Katz. Es ist gut, dass wir uns im Umgang mit unseren Partnern, Kindern und Nachbarn Gedanken machen, aber viel weiter reicht diese Verbindlichkeit nicht. Eine darüber hinausreichende Ethik des Zusammenlebens zu entwickeln ist eine politische Frage, bei der gebündelte Mächte und Interessensgruppen aufeinanderprallen und sich dort ums Gute streiten. Das müssen sie auch. Aber diese Art von Ethik ist keine Frage des individuellen guten Willens, sondern des ausgehandelten gemeinsamen Willens im politischen Zusammenleben. Und dieser politische Wille braucht das Machtmonopol, das Gewaltmonopol, um die Menschen zu dieser Verbindlichkeit zu nötigen. So nötigen wir uns selbst.

Die einzelnen Staaten haben doch  immer weniger zu sagen...

Ja, der Nationalstaat wird in seiner Macht weiter abnehmen – das Staatsprojekt ist nicht mehr an den Nationalstaat zu knüpfen, sondern muss überstaatliche Strukturen finden, etwa die EU. Der Rechtsgedanke, der den Rahmen abgibt für alle anderen Aktivitäten des Zusammenlebens, muss übernational werden. Darum ist bei den Amerikanern so ärgerlich, dass sie sich keiner Rechtsordnung unterwerfen wollen.

Ich beschäftige mich schon lange mit der Frage: Wann lernen Großsysteme? Als der Finanzboom voll am Laufen war, wann haben die Großsysteme angefangen zu lernen? Als es in Asien angefangen hat zu krachen, waren die multinationalen Konzerne die ersten, die nach übernationalen Regulierungen gerufen haben, damit ihnen die Gewinne nicht verloren gehen. In meiner Sprache heißt das: Die ganze Wirtschaft funktioniert nur – und das wird immer wieder übersehen – wenn es Marktfrieden gibt. Der Marktfriede ist aber keine ökonomische Angelegenheit. Denn Konkurrenz will ein Monopol und keine Konkurrenz. Wenn man die Marktwirtschaft den eigenen Kräften überlässt, ist sie bald kaputt, denn kein Unternehmen will Konkurrenz. Das Aufrechterhalten von Konkurrenz ist also ein politischer Wille und der ist selbst nur politisch durchsetzbar. Die Garantie des Rechts, des Eigentums oder der Gültigkeit von Verträgen ist nur durch Recht einklagbar. Ohne Recht ist die ganze Wirtschaftswelt überhaupt nicht denkbar. D.h. die Unternehmen sind angewiesen auf einen Marktfrieden, tun aber nach außen immer so, als wären die Marktkräfte das, was regulieren würde.

Wenn man vom Markt spricht als "bestem Instrument des Erfassens des Volkswillens", dann würde man de facto die Demokratie an den Markt delegieren und das ist absolut falsch. Markt bringt überhaupt keine Demokratie. Sondern der politische Wille, Marktwirtschaft zu wollen, der hat viel mit Demokratie zu tun. Aber nicht die Marktwirtschaft selbst, die ist eine Ordnung von Sklaven und Konsumenten. Aus. Am Markt bin ich Wirtschaftsteilnehmer und nicht Bürger. Ein Wirtschaftsteilnehmer braucht keine Rechte, der braucht Geld. Dass der Markt Demokratie bringt, ist also eine der größten Lügen, die es gibt und das kann man am Gedanken des Marktfriedens schön zeigen.

Die Ethikdimension wird erst relevant in diesem Kampf um einen politischen Rahmen für die Ökonomie. Wir werden uns immer aufregen über die Grenzen, über die Ränder, an denen gerade geknabbert wird. Aber ich glaube, emotional kann man sich beruhigen, ich hoffe es jedenfalls, dass durch die Konkurrenz der Demokratien schon noch ein Vergleich möglich ist, der es erlaubt, die eigene politische Situation katastrophal zu finden, ohne die ganzen Errungenschaften des Rechtsstaats als solches über Bord werfen zu müssen. Ich behaupte immer noch, dass selbst diese Skandalrepublik mir als Bürger mehr Rechte sichert, als mir als Individuum zu fordern je eingefallen wäre.

08.2003

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Dr. Bernhard Pesendorfer