Ein großer Schwenk im Führungsverständnis

Dr. Gerhard Matschnig, Vertriebsvorstand der Zürich Versicherung, über die besonderen Anforderungen im Umgang mit TopverkäuferInnen, die Wichtigkeit passender Systeme zur Steuerung des Führungsverhaltens, die Gefahr auszubrennen und teils überraschende Erkenntnisse auf dem Karriereweg an die Vertriebsspitze.

Herr Dr. Matschnig, sind Vertriebsleute ein eigener Menschenschlag, der irgendwie anders geführt werden muss?

Bei Topverkäuferinnen und Topverkäufern würde ich sehr wohl sagen, dass sie ein eigener Menschenschlag sind. Das sind Diven, die sich außerhalb der üblichen Grenzen bewegen und sicherlich schwerer zu führen sind. Ich denke, dass alle Menschen, die bereit sind, extreme Spitzenleistungen zu erbringen, auch schwer führbar sind.

Der Unterschied zwischen Innendienst und Außendienst ist geringer als der zwischen Spitzenleuten und Normalleistern. Gute VerkäuferInnen haben gelernt, Situationen auszuloten. Das machen sie dann nicht nur im Kundengespräch, sondern auch mit ihrer Führungskraft. Die Gefahr ist: Je schwächer die Führungskraft ist, desto unführbarer werden diese MitarbeiterInnen, weil sie immer weiter überziehen. Sie tun dann nur mehr das, was sie selbst für richtig halten und überschreiten dauernd Grenzen. Noch dazu sind das oft Perfektionisten, die sich alles sofort erwarten und mit halben Antworten nicht gut umgehen können. Daher braucht es starke Führungskräfte, die ihnen von Anfang an die Grenzen zeigen.

Also sehr wohl unterschiedliche Anforderungen an Führung?

Im Außendienst haben Sie es im besten Fall mit Verkäufern und Verkäuferinnen zu tun, die sehr selbstständig handeln können, die selbst entscheiden, sich selbst motivieren, sich selbst gut organisieren, sich ihren eigenen Weg suchen und ihre Ziele selber setzen. Solche VerkäuferInnen sind per se Menschen, die auf eine zu enge und direktive Führung mit Widerstand reagieren. Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es Verkäufer und Verkäuferinnen, die all das nicht können oder nicht tun. Dort versucht man dann mit allen Mitteln, die meistens nicht viel fruchten, Menschen zu einer Selbstständigkeit oder einer Autonomie zu bringen, die sie nicht in sich tragen. Für Führungskräfte ist es enorm schwierig, dieses gesamte Spektrum abzudecken. Praktisch gesehen haben wir daher zum einen Führungskräfte, die gut mit ihren SpitzenleisterInnen können und weniger erfolgreiche Performer wenig beachten, was ein Fehler ist. Gleichzeitig haben wir Führungskräfte, die in unendlicher pädagogischer Zuwendung und Geduld mit den schwächeren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen arbeiten, die dafür aber von ihren Spitzenleistern für dieses ständige Kümmern fast schon verachtet werden.

Bei diesen High Performern beschränkt sich das Führen mitunter einfach auf das Einhalten von Regeln. Hier geht es wesentlich um das Einhalten von Standards, sprich Tarifgestaltung, Kommunikation (z.B. das Einhalten der Hierarchie). Das verlangt andere Zugänge und Mittel als Führen über Time Management, Zeitplanung, Arbeitsmittel und Skills wie: Wie führe ich ein Kundengespräch? Das ist ein völlig anderes Arbeiten. Bezüglich Zahlen ist der Topleister/die Topleisterin ein Selbstläufer, hier ist die Schwierigkeit eher: Wie schaffe ich es, dass sich diese Person in das Gesamtgefüge einordnet? Wie bringe ich sie ins Team, ohne dass die anderen wegbrechen?

Im Vertrieb werden die Unterschiede zwischen den MitarbeiterInnen viel direkter spürbar oder besser noch, messbar. Sie sind für alle im Team nachvollziehbar. Im Außendienst haben Sie überall Rankinglisten hängen, auf denen die Zahlen jedes einzelnen Mitarbeiters und jeder Mitarbeiterin für alle nachlesbar und gut sichtbar sind. Damit sind die Leistungen bzw. Leistungsergebnisse viel transparenter.

D.h. wenn da eine neue Führungskraft kommt, muss man aufpassen, dass sie nicht sofort von den erfahrenen Verkäufern verheizt wird?

Ja absolut. Zum einen brauchen Sie Leute, die von ihrer Fachkompetenz her außer Frage stehen. Der zweite wichtige Punkt ist, dass die Entscheidungskompetenz immer bei den Führungskräften liegen muss, die direkt führen. Denn die sehr guten VerkäuferInnen haben in der Organisation immer Kontakte bis hinauf zum Generaldirektor und wenn die das Spiel spielen: "Mir dir rede ich nicht! Ich geh direkt zum Oberboss und mach mir das persönlich aus!" und das funktioniert tatsächlich, dann steht die direkte Führungskraft auf verlorenem Posten. Da muss man vor allem auch als höhere Führungskraft strikt sein und immer wieder sagen: "Warum kommst du damit zu mir? Dafür ist dein Verkaufsleiter, deine Verkaufsleiterin zuständig, besprich das direkt mit ihm bzw. ihr." Wenn, dann kann also nur eine meiner Führungskräfte zu mir kommen und von mir direkte Unterstützung einfordern. Wenn High PerformerInnen etwas wollen und dann alle gleich hupfen - ob nun in der Vertriebsleitung, den Servicebereichen oder den versicherungstechnischen Bereichen ist ganz egal - dann entsteht eine ungesunde Kultur. Und genau das ist auch in vielen Verkaufsorganisationen das Problem.

Das war übrigens einer der Punkte, die wir in den vergangenen Jahren massiv verändert haben. Früher sind die High Performer in der Chefetage ein- und ausgegangen und haben sich das irgendwie gerichtet. Und der arme direkte Vorgesetzte ist in seinem Büro gesessen und hat gar nicht gewusst, was ihm passiert. Der hat Nein gesagt und der Verkäufer/die Verkäuferin hat es dann von oben doch bekommen. Das ist natürlich fatal. Als wir das abgestellt haben, gab es von den VerkäuferInnen zuerst massive Beschwerden, dass ich nicht mehr präsent wäre. Es hat lange gebraucht, bis sie verstanden haben, dass ich meinen Job völlig falsch machen würde, wenn ich ständig präsent wäre, da das gar nicht mein Job ist, sondern der Job der VerkaufsleiterInnen. Dazu kommt: Wenn es tatsächlich Probleme gibt, dann ist die nächste Ebene die Ebene der Landesdirektoren. Erst ganz am Ende steht die Vertriebsleitung.

Wie äußerst sich dieses Problem konkret?

Bei einer verschobenen Hierarchie bekommen Sie als Vertriebschef ständig E-Mails, werden ständig angerufen und gefragt, wie man dies und das lösen soll. Daran merken Sie es sehr deutlich. Die schnellste Möglichkeit, es abzustellen, ist, das E-Mail sofort an die zuständigen VerkaufsleiterInnen weiterzuleiten, mit der Anmerkung: Bitte um Erledigung! Oder Ähnliches.

Bei der Bevorzugung der Topleister entstehen ja zwei große Probleme. Führen im Vertrieb heißt auch stark, über Regeln zu führen und das wird durch Sonderregelungen, die noch dazu meistens kaum nachvollziehbar sind, ad absurdum geführt. Das zweite Problem ist, dass die lokale Führungskraft dadurch in eine unmögliche Situation gebracht wird, weil sie von wichtigen Teilen des Teams nicht mehr ernst genommen wird. Dementsprechend verhalten sich diese Führungskräfte dann auch und fühlen sich für nichts mehr verantwortlich, weil sie wissen, dass ohnehin alles Wichtige an ihnen vorbei geht. Die unmittelbare Führungskraft wird quasi zum Briefträger, der seine Kompetenz dann nur mehr seiner Preishoheit verdankt - d.h. zu bestimmen, wie viel Rabatt Verkäufer geben dürfen - und daraus seine Macht bezieht. Früher war das mitunter das Einzige, das ihnen blieb, nachdem alles andere an ihnen vorbei ging. Als wir ihnen diese Preishoheit weggenommen haben, gab es zuerst einen großen Aufschrei: "Aber dann haben wir überhaupt keine Kompetenz mehr." Heute sagen sie: "Ich hätte gar nicht mehr die Zeit, mir ständig Einzelfälle anzuschauen." Das war ein großer Schwenk im Führungsverständnis.

Ein Schwenk wohin? Was wäre die Führungsaufgabe gewesen?

Ziele zu vereinbaren, dabei zu helfen, diese Ziele tatsächlich zu erreichen, Erfolgskontrolle, das Adaptieren der Ziele. Eben wirkliches Management plus Personalentwicklung, plus Recruting - das sind die Kernaufgaben. Heute haben die Führungskräfte wesentlich mehr Kompetenz als zu den Zeiten, in denen sie sich auf irgendwelche äußeren Zeichen kapriziert haben.

Wie kam es zu diesem Wandel?

Wir haben eine intensive Ausbildung der Führungskräfte begonnen. Zudem bin ich viel auf Tour und mindestens viermal im Jahr in jeder Landesdirektion. Vor allem habe ich versucht, selbst Vorbild zu sein und keine Spielchen über den Vertriebschef mehr zuzulassen.

Eine wichtige Neuerung war die Einführung der "Eskalationsregel": Wenn MitarbeiterInnen mit der Entscheidung des/der Vorgesetzten nicht leben können, haben sie die Möglichkeit, das eskalieren zu lassen, d.h. ein Dreiergespräch mit der/dem nächsthöheren Vorgesetzten einzufordern. Das predige ich ständig, und in diesem Punkt fordere ich auch jeden heraus: "Wenn ihr von eurer Führungskraft nicht das bekommt, was ihr braucht und was wir predigen, dann habt ihr die Möglichkeit zur Eskalation, d.h. gemeinsam zum Landesdirektor zu gehen." Das wissen auch die Führungskräfte. Ich sage ihnen immer "Ihr dürft nicht beleidigt sein, dass das so ist. Damit eure Führung funktioniert, muss es diese Möglichkeit geben. Sonst hat die Mitarbeiterin, der Mitarbeiter das Gefühl, eh nichts tun zu können, worauf sie/er in die innere Emigration geht und wir die Person verlieren."

Im Einzelnen haben wir auf zwei Dinge gesetzt. Wir haben klare Durchführungsregeln ausgegeben und sie dann auch eingehalten und wir haben die VerkaufsleiterInnen vor Ort durch viel Ausbildung, Coaching und Beratung dabei unterstützt, ihre Rolle klarzubekommen.

Nachdem Sie selbst vom Verkäufer bis hinauf zum Vertriebsvorstand alle Positionen selbst durchlaufen haben, wie unterscheiden sich jetzt die Aufgaben?

Es wird in Richtung Basis immer konkreter und genauer. Als Vertriebschef gebe ich die Strategie vor und den Weg, unsere Verkaufsphilosophie, wie wir an die KundInnen herantreten wollen. Aufgabe des Landesdirektors ist es dann, das an die VerkaufsleiterInnen weiterzugeben, die dann direkt am Geschäft dran sind. Der Landesdirektor hat zwei Vertriebswege, für die er verantwortlich ist und er muss schauen, dass das Spannungsverhältnis zwischen dem Maklervertrieb und dem Außendienstvertrieb nicht zu groß wird. Er muss Eskalationen glätten und ist Repräsentant der Zürich nach außen, bei den Ämtern, in den Gremien usw.

Arbeiten die VerkäuferInnen heute noch nach denselben Prinzipien wie früher?

Natürlich ist der Umsatz immer noch wichtig, aber unsere VerkäuferInnen haben eine Deckungsbeitragskomponente, die rein schadensatzabhängig, nicht kostenabhängig ist, denn die Kosten können die VerkäuferInnen kaum beeinflussen. Die Kosten bestimmen wir, denn ich sage, wie viel Provision bezahlt wird, wie viel wir für Büros ausgeben etc. Da haben die VerkäuferInnen keine Verantwortung. Sie können nur Ziele haben, die sie auch beeinflussen können. Den Schadensatz kann man über die Auswahl seiner KundInnen beeinflussen und wenn man hohe Schadensfälle hat, muss man das sanieren, d.h. hingehen und sagen: "Lieber Kunde, da musst du einen Selbstbehalt zahlen oder dir einen anderen Versicherer suchen." Da bei uns viele Entscheidungen an diesem Kriterium hängen, müssen sich die VerkäuferInnen damit auseinander setzen. Andererseits - wenn VerkäuferInnen nur auf die Qualität schauen würden, wäre die Gefahr groß, dass der Umsatz einbricht und wenn der Verkauf zu wenig hereinschaufelt, kann man auch nicht selektieren. Daher gibt es immer eine Gratwanderung zwischen Quantität und Qualität.

Wozu brauche ich im Außendienst eigentlich ein Team?

Das ist relativ schnell erklärt. Ich vergleiche den Verkauf immer mit Spitzensport. In der Situation, in der VerkäuferInnen die Leistung bringen, kämpfen sie für sich allein. Davor und danach, im Training, im Umgang mit ihren Emotionen, brauchen sie aber Unterstützung. Im Verkauf sind sehr viele Emotionen im Spiel. Sieg und Niederlage wechseln sich ständig ab. Dann brauchen die Einzelnen ein Team, in das sie kommen können, wo sie sich fallen lassen können und wo sie gehört werden. Daher ist dieses Spiel zwischen Einzelleistung und Team ein sehr wichtiges. Das sieht man u.a. auch daran, dass es nur ganz wenige Leute gibt, die in Ein-Personen-Büros arbeiten können und wollen. Wir haben lange überlegt, ob es nicht besser wäre, wenn alle mit einem Internetzugang von zu Hause aus arbeiten und wir uns die Bezirksstellen ersparen. Aber die Erfahrung ist: Wenn man dieses "Wahnsinn, gestern diese Kundin! Was da wieder los war" niemandem erzählen kann, geht man emotional ein. VerkäuferInnen leben auf einer emotionalen Hochschaubahn. Genau deshalb brauchen sie das Team.

Und – wir fördern auch Teamziele. Es gibt eigene Teamrankings und Teampreise. Ein Teamziel könnte die Summe der Einzelziele sein, wobei aber jedes Einzelziel limitiert ist. D.h. es ist nicht möglich, dass einige wenige Hochleisterinnen oder Hochleister das Gruppenergebnis bringen. Also muss man sich gegenseitig helfen, wenn man das Teamziel erreichen will.

Wie groß ist die Gefahr, schnell auszubrennen?

Die Burnoutgefahr sehe ich, wenn ich an die VerkäuferInnen denke, viel stärker bei jenen, die schlecht performen als bei denen, die erfolgreich sind, weil es zu existenziellen Krisen führt, wenn jemand nicht und nicht weiterkommt. Es gibt sozusagen den zufriedenen Low-Performer, der sich denkt: "In meinem Ort verdienen alle 1000 Euro, ich verdiene 1300 und bin eh der Kaiser." So jemand ist sehr schwer zu führen, weil zu nichts zu bewegen, aber ein zufriedener Mensch. Er muss sich halt gelegentlich eine Predigt anhören. Dann aber gibt es die, die nicht zurande kommen, die den Erfolg dringend brauchen würden, die aber erfolglos sind und nicht wissen, wie sie es besser machen sollen. Wenn es über die Jahre Probleme gab namentlich mit Alkohol, dann war das nie bei den Spitzenleuten, sondern eigentlich immer am unteren Ende des Leistungsspektrums.

Wenn man VertriebsmitarbeiterInnen sucht, gibt es da einen bestimmten Typ von VerkäuferIn, den es vor 30 Jahren gab und den es jetzt gibt, oder haben sich die Anforderungen an den Vertrieb so geändert, dass man heute andere Leute braucht, Stichwort Hochdruckverkäufer versus Berater?

Die Frage ist, was bedeutet Hochdruckverkäufer? Interessanterweise ist mir dieses klassische Bild von einem Verkäufer, der alle über den Tisch zieht, noch nie begegnet. Diesen kaltblütigen Typ, der sagt, "Ich verkaufe dir, was immer ich will, egal ob du es brauchst oder nicht. Da wird unterschrieben! Das mach ich bei 5 Leuten am Tag und am Ende habe ich meinen Ferrari und meine Rolex." - Den kenn ich nicht, den gibt es bei uns nicht, vielleicht, weil hier die soziale Kontrolle zu stark ist. Die wirklich erfolgreichen VerkäuferInnen machen ja auch den besten Kundenservice. Sie sind genau deshalb so erfolgreich, weil sie verstanden haben, dass sie ihre KundInnen bei der Stange halten können, indem sie für sie da sind. Und indem sie ihnen eben nichts verkaufen, was sie nicht brauchen. Diese Druckverkäufer, bei denen die Kunden gleich wieder aus dem Vertrag herauswollen, haben wir nicht.

Das würde auch schnell offensichtlich, oder?

Absolut. Was es aber sehr wohl gibt, ist der Wandel von Produkt- zu LösungsverkäuferInnen. Heute muss ich beraten und Gesamtlösungen anbieten. Heute setzt man sich mit den KundInnen zusammen, geht ihre Ausgangssituation durch, ihre Wünsche, ihre Ziele, was haben sie bisher abgedeckt, was ist ihnen wichtig, was bedrückt sie, und dann bietet man eine Gesamtlösung an. VerkäuferInnen, die das leben können, die sich das auch zutrauen, brauchen eine breitere Ausbildung, ein breiteres Spektrum. Diese Leute haben auch eine besondere soziale Kompetenz, das müssen runde und reifere Personen sein.
Denn wenn Sie mit einem Kunden und dessen Familie über deren Gesamtsituation sprechen wollen und es Ihnen nicht nur darum geht, das Auto zu versichern, dann müssen Sie eine Gesprächssituation herstellen können, in der der Kunde überhaupt erst in der Stimmung ist, über sein Leben zu reden, über die Arbeit, das Einkommen, die Wohnungspläne, die Familie, die Träume und Wünsche, die Sorgen usw.

Wenn Sie VerkäuferInnen haben wollen, die das können, spielt z.B. Alter in der MitarbeiterInnenauswahl eine viel größere Rolle, denn ein 20-Jähriger kann solche Gespräche gar nicht führen. Der hat beim Kunden gar nicht die notwendige Akzeptanz. Da geht es um Lebenserfahrung. Sie müssen ein Gefühl haben dafür, wie die Dinge zusammenhängen und Sie müssen eine gewisse Gelassenheit haben, die Ihnen sagt, wenn Sie im ersten Gespräch nicht die Autoversicherung verkaufen, werden Sie im zweiten oder dritten Gespräch dennoch möglicherweise eine Haushalts- und vielleicht noch eine Lebensversicherung verkaufen. Dafür gehen Sie am Anfang vielleicht ohne Abschluss nach Haus. Diese Sicherheit und Gelassenheit müssen wir aber auch den Führungskräften vermitteln. Auch hier geht es darum zu akzeptieren, dass die Lösung im Mittelpunkt steht und nicht der schnelle Abschluss. Da sind wir gerade in einem sehr interessanten Prozess.

Das geht aber nur dann, wenn die Systeme dazu passen. Wenn ich ohne Abschluss rausgehe und dafür im Büro niedergemacht werde ...

Richtig. Wir haben daher auch alle Systeme darauf abgestimmt. Wir sind wahrscheinlich die Einzigen, bei denen neue Verkäuferinnen und Verkäufer einen entscheidenden Anteil ihres variablen Gehaltes im ersten Jahr für Aktivitäten bekommen statt für Umsatz. D.h. die Verkäuferin/der Verkäufer bekommt z.B. das Ziel: drei Kundenkontakte pro Tag oder drei Beratungsgespräche oder eine bestimmte Zahl von Terminvereinbarungen oder von Kundenanalysen. D.h. die Person  ist aktivitätengesteuert. Das war ein mutiger Schritt. Das verlangt ein Vertrauen in die Führungskräfte, denn das sind alles individuelle Ziele, keine standardisierten. Da macht also jede/r VerkaufsleiterIn mit den neuen MitarbeiterInnen individuelle Ziele pro Monat aus, die werden gemessen und dann wird gezahlt.

Wir haben aber auch noch etwas anderes verändert: Früher war es üblich, dass VerkaufsleiterInnen bestimmte Ziele hatten, sagen wir z.B. 1 Mio. Wenn man das Ziel erreicht hatte, hatte man 100%, egal wie gut die einzelnen VerkäuferInnen waren. Heute hat man hingegen auch ein Ziel pro MitarbeiterIn. Jede/r MitarbeiterIn muss z.B. 100.000 bringen. Bringt die Mitarbeiterin den Umsatz, bekommt die Verkaufsleiterin einen Punkt, bringt die Verkäuferin nur 50.000, bekommt die Verkaufsleiterin Minuspunkte. Nun müssen die VerkaufsleiterInnen also eine bestimmte Punktezahl erreichen. D.h. es nutzt ihnen gar nichts, wenn sie zwei TopverkäuferInnen haben, sie müssen sich mit jedem einzelnen Mitarbeiter beschäftigen.

Minderleister einfach nur zu kündigen nutzt ihnen auch nichts, denn dann haben sie wieder Minuspunkte, weil sie ihren Sollstellenplan nicht erfüllen. D.h. sie haben eine vorgeschriebene Zahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die eine bestimmte Leistung erreichen müssen. Wenn Mitarbeiter schlecht performen, kostet das Punkte, wenn man sie aber kündigt und nicht durch leistungsfähigere MitarbeiterInnen ersetzt, kostet das auch Punkte. Es bleibt ihnen also nur, sie produktiv zu machen. Wir haben jahrelang über diesem System getüftelt, das so gut wie möglich abbildet, was wir erreichen wollen und die KollegInnen in der Schweiz und Deutschland finden das toll, weil es, wie sie sagen, keine Möglichkeit gibt auszubüchsen. Ein weiterer Aspekt ist, dass wir heute bei 130 Prozent Zielerreichung ein Limit setzen. Wenn also einzelne MitarbeiterInnen 150% bringen, bringt das der Verkaufsleiterin nichts mehr, da wir der Meinung sind, dass das Selbstläufer sind, die eine andere Aufmerksamkeit benötigen als VerkäuferInnen, die underperformen. Früher haben sich die Verkaufsleiter immer um die Guten gekümmert, die haben sie bis zum Umfallen gemolken. Heute brauchen sie die Breite, daher müssen sie sich um alle kümmern.

Bei den LandesdirektorInnen ist es ähnlich, die haben wieder Ziele wie Zielerfüllung pro Führungskraft. Hier war es ähnlich: Solange es nur Zahlenziele gab, konnte es durchaus vorkommen, dass z.B. der Maklervertrieb tolle Zahlen brachte und es den Direktoren dann fast egal war, wie gut der Außendienst performte. Denn den Zielumsatz holten sie sich eben im Maklervertrieb. Heute müssen die LandesdirektorInnen jede einzelne Führungskraft auf 100 Prozent bringen, nur dann bekommen sie ihre Punkte und daraus bestimmt sich ihr variables Einkommen.

D.h. das System ist ständig in Bewegung.

Wir haben das System jetzt schon einige Jahre. In den ersten Jahren hat sich viel bewegt, da haben wir viel angepasst und manches auch wieder verworfen. Das System wird verstanden, auch weil dadurch wirkliche Führungsarbeit belohnt und somit auch geleistet wird. Es nützt aber auch den Führungskräften, weil sie nicht mehr so abhängig sind von einzelnen Top-Performern. Es kann ja durchaus mal sein, dass ein/e TopleisterIn ein großes Storno hat, weil z.B. ein großer Kunde in Konkurs geht. Damit war früher das gesamte Teamergebnis im Keller. Das ist heute nicht mehr der Fall, denn dann hat die Verkaufsleiterin/der Verkaufsleiter vielleicht bei einem Mitarbeiter einen Minuspunkt, kann das aber locker über die anderen kompensieren. Das System ist deutlich gerechter und das empfinden die Leute auch so. Entscheidend ist, dass das System wirklich das abbildet und unterstützt, was man verstärken will: Wenn wir sagen, wir wollen Mitarbeiter zubauen und das wird im System nicht abgebildet, weil es egal ist, wie viele Mitarbeiter der Verkaufsleiter in seinem Gebiet hat, dann werden wir das nicht schaffen, weil wir einen Widerspruch im System haben.

Unser Ziel ist, das System jetzt einige Jahre stabil zu halten. Denn jedes Jahr etwas zu verändern und damit natürlich auch zahlreiche Diskussionen führen und Überzeugungsarbeit leisten zu müssen, ist auch nicht Sinn der Sache. Es dauert mehrere Jahre, bis sich Prozesse einschleifen. Wenn es dann endlich soweit ist und man dann das System wieder ändert, dann fängt man wieder bei null an. Das musste ich auch als Vertriebschef zur Kenntnis nehmen: Wenn ich heute A sage, dauert es vielleicht drei Jahre, bis in ganz Österreich alle A sagen, oder zumindest 60-70%. Die Dinge ändern sich nicht, nur weil du das jetzt sagst. Das war für mich am Anfang nicht leicht, weil man immer wartet, wann das endlich passiert, wann das greift, wann alle das verstehen und tun. In dieser Situation ist es dann das Schwierigste, am Ball zu bleiben. Denn der erste Impuls ist, bereits nach kurzer Zeit zu sagen, das hat nicht funktioniert und etwas Neues zu probieren. Dadurch wechselt man dann ständig viel zu früh, und es wird nie was funktionieren. Daher war es für mich eine wichtige Umstellung, bewusst die Entscheidung zu treffen: Jetzt warten wir einmal ein Jahr und vielleicht auch noch ein zweites. Denn wenn man ständig wechselt, unterstützt man auch die Kultur des Aussitzens. Dann denken die Leute: "Das brauchen wir gar nicht umsetzen, denn nächstes Jahr haben sie eh schon wieder eine andere Idee." Inzwischen – aber das hat Jahre gedauert – wissen die MitarbeiterInnen: Wenn wir sagen, jetzt ist das so, dann kommen sie da nicht aus.

Im Vertrieb führt man auf Distanz, da man die Leute ja selten sieht, oder?

Die Verkaufsleiterin/der Verkaufsleiter sieht sie zwei-, dreimal in der Woche. Und zwar auch beim Kunden, denn als VerkaufsleiterIn muss man immer wieder mal mitgehen. Dazu zwinge ich die Führungskräfte auch. Zum einen müssen sie also mitgehen, um zu wissen, was vor Ort passiert und um sich selbst ein Bild machen zu können, und zum anderen erleben sie die VerkäuferInnen auch bei Videotrainings. Das einzuführen war sicher einer der schwierigsten Punkte. Aber ich komme aus dem Sportbereich und dort war Videoanalyse Alltag. Wenn der Hermann Maier nicht seine Videos anschaut, weiß er nicht, was er falsch macht und woran er besonders arbeiten muss. Das müssen die VerkäuferInnen genauso wissen. Sie müssen wissen, wie sie sich verhalten, was sie sich vielleicht für Eigenheiten angeeignet haben, was gut läuft, was falsch läuft. Das kann ich zweifach überprüfen, einmal durch Beobachtung bei den KundInnen, einmal im Trockentraining. Es gehört zu den klaren Aufgabe der Verkaufsleiterin/des Verkaufsleiters, zu beobachten und hier Feedback zu geben.

Es gibt zwar vereinzelt noch Verkäufer und Verkäuferinnen, die beim Gedanken daran einen Hautausschlag bekommen, aber bei den jungen MitarbeiterInnen stellen wir das gar nicht mehr zur Diskussion. Es gibt einfach die Forderung, dass sich die Führungskräfte selbst ein Bild davon zu machen haben, wie ihre MitarbeiterInnen arbeiten. Durch direktes Begleiten und durch Simulation. Das wird auch gemessen und kontrolliert.

Es würde auch Sinn machen, die High Performer zu beobachten, um daraus zu lernen.

Ja, es gibt auch genug Verkaufsleiter und Verkaufsleiterinnen, die genau das machen. Außerdem haben wir auch Patenmodelle, wo Junge mit erfahrenen Leuten zusammenarbeiten können. Das sind Modelle, bei denen die PatInnen auch davon profitieren und Geld dafür bekommen, dass sie NachwuchsverkäuferInnen einführen.

Was ist Ihnen als Landesdirektor im Vergleich zur Position des Verkaufsleiters abgegangen?

Das Mitgehen zu KundInnen, das unmittelbare Spüren des Geschäftes. Als Landesdirektor schaut man, dass die strategischen Dinge umgesetzt werden, dass die Verkaufsleiter und Verkaufsleiterinnen wirklich mit allen MitarbeiternInnen die Gespräche führen, dass sie das Recruting ernst nehmen etc. Außerdem ist man plötzlich auch für einen Teil des Innendienstes verantwortlich und man ist die Schnittstelle zur Zentrale in Wien. Man ist Teilnehmer in verschiedenen Projektgruppen, und sicher drei-, viermal mal im Monat in Wien, als Verkaufsleiter hingegen war ich das so gut wie nie.

Auf viele Dinge kommt man ja erst drauf, wenn man die Funktion bereits übernommen hat. Denkt man sich dann, o Gott, was habe ich mir da eingehandelt?

Das nicht, aber eine Erkenntnis hat mich schon sehr überrascht: Man glaubt immer, je weiter man hinaufkommt, desto mehr ist man selbst gesteuert. Ich behaupte inzwischen, es ist genau umgekehrt. Ich werde immer mehr fremdgesteuert. Als Verkaufsleiter habe ich hin und wieder den Landesdirektor getroffen, der mir etwas gesagt hat, aber im Prinzip habe ich in meinem Zuständigkeitsbereich das gemacht, was ich wollte, so wie ich es wollte. Dann wird man Landesdirektor, glaubt, nun ist man derjenige, der steuert, und merkt plötzlich: Jetzt gibt es auf einmal einen Vertriebschef in Wien, der einen massiv steuert, und zahlreiche Verpflichtungen wie die Teilnahme an Gremien. Noch eine Ebene höher, als Vertriebschef, gibt es plötzlich einen Konzern und durch die Matrixorganisation eine ganze Reihe von Verantwortlichen, die da alle irgendwie mitsteuern. Und auf einmal bin ich von viel mehr Dingen abhängig, als ich vorher jemals angenommen hätte. Als Verkaufsleiter war ich aus heutiger Sicht viel freier und eigenständiger, z.B. hatte ich wesentlich mehr Einfluss auf meine eigene Zeitplanung als jetzt. Jetzt bekomme ich viele Termine herein, sei es vom Versicherungsverband oder vom Konzern, die mir einfach aufoktroyiert werden. Als Verkaufsleiter habe ich meine Termine selbst bestimmt, heute sind 80% meiner Termine fremdbestimmt. Das hätte ich nie gedacht.

Und man muss als Vertriebschef immer mehr über Systeme nachdenken und weniger über Einzelmaßnahmen?

Natürlich. Die entscheidende Frage ist: Welcher Vertriebsweg ist derjenige, der mir in Zukunft am meisten hilft, meinen Marktanteil auszubauen? Wie stark wird z.B. der Internetverkauf? Wie viel investiere ich da? Soll ich das forcieren und wenn ja, wie? Wie schaffe ich eine Balance, ohne die klassischen Vertriebswege zu beleidigen? Das ist ein zentrales Thema, das ich lösen muss, denn ich entscheide, wo forciert wird, wo investiert wird, wo ich MitarbeiterInnen auf- oder abbaue. Das sind ganz entscheidende Fragen. Wenn man auf das falsche Pferd setzt, schaut es schlecht aus.

Wie lange dauert es, bis man in der neuen Position wirklich arbeitsfähig ist und das Gefühl hat, jetzt habe ich Boden unter den Füßen?

Der schwierigste Wechsel war der erste vom Verkaufsleiter zum Landesdirektor, weil da sehr viel Verwaltung dazugekommen ist. Materialbeschaffung, Büroerhaltung, Anschaffung von Telefonen, Büromöbeln, Anmieten von Büros, Verhandeln mit Vermietern etc. Auf die weiteren Tätigkeiten wurde ich vom Unternehmen bereits im Vorfeld sehr gut vorbereitet. D.h. ich habe immer schon die Ausbildungsschritte gemacht, bevor ich die neue Funktion übernommen habe. Bevor ich Leiter eines Regionalzentrums wurde, gab es Managementkurse am IMD in der Schweiz. Vor dem Schritt zum Vertriebsleiter habe ich eine Ausbildung an der Universität St. Gallen gemacht, mit den Schwerpunkten Rechnungswesen und Bilanzierung. Mit jedem Wechsel bekommt man dann mehr Übung und Gelassenheit. Was die Akzeptanz betrifft, habe ich es relativ einfach gehabt dadurch, dass ich immer im gleichen Unternehmen und in allen Funktionen sehr erfolgreich war. Man kannte mich und wusste, was ich mache. Ich kenne alle meine 500 MitarbeiterInnen im Vertrieb persönlich. Und von den insgesamt 1200 MitarbeiterInnen in Österreich kenne ich wohl mindestens 1000 mit Namen und Gesicht. Ich denke, das hat auch etwas mit jener Wertschätzung zu tun, die wir vorzuleben versuchen.

06.2006

...zurück zum Seitenanfang

Teilen:

Dr. Gerhard Matschnig, Vertriebsvorstand der Zürich Versicherungs AG