Beobachtung verändert!

Was glauben Sie, in welchem Zustand sich die Schreibtische einer Abteilung morgen befinden, wenn Sie heute ankündigen, morgen die Aufgeräumtheit der Büros zu evaluieren?

Das klassische Schema von Veränderungsprojekten folgt einer Prozesslogik entlang der Sequenz von Analyse, Konzeption und Implementierung. Das ist der Kern. Die Klärung und Ausarbeitung der Ziele als Auftakt und die Evaluation als Abschluss bilden eine Klammer, die die Projekte an das Unternehmen anbinden sollen. Die Evaluation schließt diese Klammer und bewertet, was im Hinblick auf die Ziele erreicht wurde, was nicht erreicht wurde und legt eine gute Grundlage für Weiteres. Die Praxis zeigt allerdings, dass am Ende der Projekte, am Ende der Kraftanstrengung, dann wenn die Aufmerksamkeit nachlässt, Evaluationen oft ein wenig stiefmütterlich behandelt werden. In der Regel glaubt man ein durchaus gutes Gefühl dafür zu haben, was geklappt hat und was nicht erreicht wurde. Da fällt es schwer, noch einmal Ressourcen zur kritischen Selbst- oder Fremdbeobachtung einzusetzen. Die Verführbarkeit ist groß, die Klammer nicht zu schließen und auf Evaluation zu verzichten.

Der vorliegende Artikel geht aber noch einen deutlichen Schritt weiter, indem er zeigt, welche besonderen Möglichkeiten Evaluationen bergen, wenn man die übliche Sequenz von Veränderungsprojekten aufbricht und einen systemischen Ansatz der Organisationsentwicklung wählt.

Evaluation systemisch gesehen

Nur soviel vorab: Was glauben Sie in welchem Zustand sich die Schreibtische einer Abteilung morgen befinden, wenn Sie heute ankündigen, morgen die Aufgeräumtheit der Büros zu evaluieren? Nicht wahr, die Schreibtische werden morgen in einem deutlich besseren Zustand sein als heute. - Worauf möchte diese rhetorische Frage hinaus? Es gibt Rückwirkungen, nicht nur in dem kleinen Beispiel, sonder immer und prinzipiell. Man kann nicht so tun, als könne man folgenlos beobachten.

Selbst für die Königsdisziplin der Naturwissenschaften, für die Physik beschreibt Heisenberg in seinem Unschärfetheorem, dass es unmöglich ist, ein System zu beobachten, ohne es zu verändern. Und was hier formuliert ist, gilt doppelt für das sozial Miteinander.

Soziale Systeme wie Organisationen und Unternehmen sind extrem beobachtungssensibel. Das verunmöglicht eine wie auch immer geartete Objektivität, es ermöglicht aber, Evaluationen in Ausrichtung auf die Interessen und Ziele eines Veränderungsprozesses bewusst als Instrument einzusetzen. Das bedeutet, dass bei der Konzeption von Evaluationen nicht mehr die gemessenen bzw. beobachteten Ergebnisse im Vordergrund stehen, sondern die Funktion der Evaluation als Veränderungsinstrument. Zwei Beispiele aus unserer Zusammenarbeit bei DaimlerChrysler:

I. Evaluation des Vision-roll-out im Geschäftsfeld Nutzfahrzeuge/Transporter Europa

Als wesentliches Instrument der strategischen und kulturellen Integration galt in der Post-Merger-Phase der sogenannte Vision-roll-out. Weltweit und über alle Unternehmensbereiche hinweg wurden Vision, Mission und Leitsätze kommuniziert und zur aktiven Umsetzung der neuen Ausrichtung in das aktuelle Geschäft angeleitet. Nach dem ersten halben Jahr des Vision-roll-out entschied sich die Führung der Transportersparte für ein Evaluation, die ergründen sollte, inwieweit die neue Ausrichtung bereits im Alltagsgeschäft verankert war.

Die erste Überlegung zur Evaluation bestand darin, eine quantitative Untersuchung in der Form von Telefoninterviews von einem externen Beratungsunternehmen durchführen zu lassen. In Zusammenarbeit mit der internen Beratung wurde dann aber ein integrierter Gesamtprozess im Sinne einer systemischen Evaluation aufgesetzt. Im Detail sah dieser systemische Evaluationsprozess ein gemischtes Setting aus 220 Telefoninterviews und sechs Gruppeninterviews in der Form von Focus Groups vor. Durch die Verschachtelung der unterschiedlichen  Befragungssformen über einen Zeitraum von sechs Wochen gelang es, die systemischen Rückwirkungen der Evaluation systematisch zu integrieren und selbst wieder zu evaluieren.  Damit wurde ein Anpassungs- und Veränderungsraum geschaffen, in dem eine intensivierte Verarbeitung des Themas möglich wurde. So steht dann auch am Ende der Evaluation die Rückmeldung, dass die eigentliche Operationalisierung des Vision-roll-out erst mit der Evaluation begann und in dem gewählten Setting eine gute strukturelle Unterstützung  erfuhr.

Mit den ersten Telefoninterviews war deutlich geworden, dass die Eindringtiefe des Vision-roll-out eher gering war. Erst in den Focus Groups kam es dann zu einer intensiven Erarbeitung des Themas. So generierte die Evaluation den entscheidenden Veränderungsimpuls und sorgte gleichzeitig für eine entsprechende Durchdringung des ganzen Bereichs. Die abschließenden Telefoninterviews bestätigten dies, sowohl auf der inhaltlichen, als auch auf der prozessoralen Ebene. Mit dem Ende der Evaluation war die Operationalisierung des Vision-roll-out so weit fortgeschritten, dass die Implementierung als erfolgreich beendet erklärt werden konnte.

II. Evaluation des In-house Consulting Developments

Das In-house Consulting ist heute in vielen Unternehmen eine gängige Supportfunktion. Das Evaluationsvorhaben der zentralen internen Beratung des DaimlerChrysler Konzerns bestand zunächst in der Evaluation der sogenannten Beraterqualifizierung (BQ). Die BQ war ein Seminarprogramm zur Ausbildung interner Berater. Schon im Ausgangspunkt war der klare Wille formuliert, die Evaluation nicht auf eine Fragebogen-gestützte Seminarauswertung zu beschränken, sondern mit Einzelinterviews anzureichern. Es zeigte sich jedoch sehr bald, dass mit der Evaluation der BQ die Fragestellung auf die Auswertung der Professionalität der internen Beratung als Ganzes erweitert werden musste. Es wurde ein Zwei-Phasen-Setting gewählt. Den Auftakt bildete eine sechsmonatige Interviewphase, in der in qualitativen Interviews nicht nur die In-house Berater, sondern auch die internen und externen Stakeholder interner Beratung zur Wort kommen sollten. Die zweite, ebenfalls sechsmonatige Phase sah dann eine gezielte Rückspiegelung der aus den Interviews gewonnenen beraterischen Hypothesen vor. Dazu wurden die unterschiedlichen Plattformen der Regelkommunikation der unterschiedlichen internen Beratungseinheiten genutzt. (Leitungstreffen, Prozessmanager-Kreis etc.)

Art und Umfang des Evaluationssettings legen die Interpretation des Vorhabens als systematische, langfristige Bereichsentwicklungsmaßnahme nahe. Im Verlauf und Ergebnis darf dann auch die Evaluation der internen Beratung als Paradebeispiel einer systemischen Evaluation gelten. Schon mit den an die Methodologien des Storytelling angelehnten Interviews selbst gelang eine Fokussierung organisationaler Aufmerksamkeit auf den Zustand und die Entwicklungsmöglichkeiten nicht nur der zentralen internen Beratung, sondern auch der dezentralen Beratungseinheiten in den Werken. Eine Aufwertung und gesteigerte Auslastung der BQ sowie die Steigerung der Professionalität der einzelnen Berater war dabei nur ein vordergründiger Effekt. Von nachhaltiger Bedeutung war die Initiierung eines Prozesses, in dem sich die interne Beratung entlang eines neuen Verständnisses für die eigene Professionalität sozusagen neu erfinden und etablieren konnte. Die prominenteste Konsequenz war dabei die Ausgründung der zentralen internen Beratung als DaimlerChrysler Management Consulting GmbH.

Autor: Dr. Louis Klein, Systemic Consulting, 02.2003

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