Evaluation ist Kommunikation

Der Einsatz von Evaluationsinstrumenten im Zuge der Implementierung einer neuen Organisationsstruktur.

Anfang Jänner 2001 wurde die osb eingeladen, ein weltweit führendes Rückversicherungsunternehmen bei der Einführung der neuen Struktur zu unterstützen. Die neue Struktur sollte den Schritt von der Matrix (aus Fach- und Landeszuständigkeiten) hin zu einer stärkeren Marktausrichtung vor dem Hintergrund von neuen Kundenanforderungen bringen, und zwar ohne das überragende technische Know-how des Unternehmens einzubüßen. Die Konzeption der neuen Struktur erfolgte in einer internen Projektgruppe ohne Beiziehung externer Berater. Dafür wurde für die Kommunikation und Implementierung viel an Energie und Beratungsaufwand investiert. Die osb erhielt nach einem Auswahlverfahren den Auftrag, ein Ressort bei der Umsetzung zu unterstützen, was in einem top-down-Kaskadenverfahren angelegt und umgesetzt wurde.

Grundannahmen dabei waren:

     

  • Grundsätzlich werden die Leitideen der neuen Struktur begrüßt 
  • Mit hoher Irritation und Unsicherheit und Unsicherheit ist zu rechnen, einerseits wegen der Auflösung vieler langjähriger Bindungen, andererseits wegen der Einführung vieler neuer Rollen wie etwa der Kundenkoordination
  • Es handelt sich um eine echte Transformation, nämlich die erste umfassende Strukturveränderung seit Jahrzehnten, weshalb mit vielen Irritationen als natürlicher Begleiterscheinung zu rechnen ist; die kulturelle Veränderungsfähigkeit ist mit dem Projekt mitzuentwickeln
  • Die Einführung der neuen Struktur wurde mit einem sehr partizipativen, kommunikativen Ansatz verfolgt, was neue Herausforderungen an die Selbstverantwortung und Teamsteuerung impliziert ("nicht mehr 100% werden vorgegeben, sondern nur 75%").

Prozessverlauf

In einem Top-down-Prozess führten wir im Gesamtressort 10 Umsetzungsworkshops durch, teils mit sehr grossen Gruppen; dadurch konnten 100% der Mitarbeiter erreicht wurden. Der Start erfolgte mit der Führungscrew des Ressorts, die den Rahmen legte für die nachfolgenden Umsetzungsworkshops der Abteilungen. Die Umsetzungsworkshops der Abteilungen folgten stets einer gewissen Prozesslogik:

     

  • Platz für Emotionen (wie gut fühle ich mich mit der Aufgabe vertraut, wie gut mit den Personen in der neuen Abteilung...)
  • Klärung von Rolleninhalten und Rollenerwartungen (Erarbeitung der neuen Rollen; Klärung von konkreten fragen zur Rollengestaltung; Befürchtungen und Erwartungen aussprechen und klären....)
  • Präzisierung von Schnittstellen in der Abteilung, im Ressort und über das Ressort hinaus
  • Entwicklung von Spielregeln für das Miteinander und die Führungskultur in den neuen Abteilungen (die alle deutlich größer sind als frühere Abteilungen)
  • Entwicklung und Vereinbarung von gemeinsamen Lernschritten, um rasch das erforderliche Know-how zu erwerben

 

Nach jedem Workshop wurden die Einschätzungen zum Umsetzungsworkshop und zur neuen Struktur anonym erhoben.

Umsetzungscontrolling – Auszüge aus dem Evaluierungs-Fragebogen

Einschätzung Kick-Off-Workshop

     

  • Der Kick-Off-Workshop wurde gut und nachvollziehbar strukturiert und moderiert
  • Ich konnte meine Fragen und Anliegen einbringen
  • Im Workshop war eine offene Diskussion über die Auswirkungen der neuen Struktur möglich
  • Der Workshop brachte klare Ziele und Aufgaben für unser Team
  • Der Workshop leistet einen effektiven Beitrag zur Umsetzung der Struktur
  • Ich identifiziere mich mit den Workshop-Ergebnissen
Einschätzung der neuen Struktur allgemein

     

  • Die Ziele die mit der Einführung der neuen Struktur verfolgt werden, sind mir klar
  • Durch die neue Struktur wird die Orientierung an den Kundenbedürfnissen verbessert
  • Die internen Abläufe werden durch die neue Struktur effizienter
  • Meine Aufgaben im Rahmen der neuen Struktur werden vielfältiger und verantwortungsvoller
  • Ich bin mit dem bisherigen Verlauf der Einführung der neuen Struktur insgesamt zufrieden

 

Die Ergebnisse dieser Erhebungen wurden im Projektleitungsteam diskutiert und an die jeweiligen Führungskräfte rückgemeldet.

Nach Abschluss der Einführungsphase zeigte die Auswertung, dass sowohl die neue Struktur als auch die Umsetzungsworkshops hohen Anklang fanden. Der Durchschnittswert des Ressorts lag auf einer Skala von 1 bis 6 bei 1,7.

Ein Jahr später wurde erneut evaluiert: 86% der Mitarbeiter/innen des Ressorts waren der Ansicht, die Umsetzungsworkshops inkl. der entsprechenden Vor- und Nachbereitungsaktivitäten und follow-ups hätten sie bei der Einführung der neuen Struktur sehr gut oder gut unterstützt. Diese erste Phase hat gezeigt, dass auch sehr turbulente Umorientierungsphasen durch intensive Kommunikation (der Kommunikationsprozess in Veränderungen ist ein spezifischer eigener Prozess!!) und klare Einführungsunterstützung gut bewältigt werden können.

Die nächste Phase: Vom Wandel erster Ordnung zum Wandel zweiter Ordnung

In einem Folgeschritt im Frühjahr 2002 wurde die osb seitens der für das Umsetzungscontrolling verantwortlichen Projektgruppe beauftragt, den Zusammenhang zwischen der neuen Struktur und der Ist-Kultur des Unternehmens zu erheben und Entwicklungslinien zu erarbeiten. Dabei wurde die Methode der "Learning History" verwendet.

Bei einer "Learning History" (nach Art Kleiner und George Roth) geht es stets um zentrale Fragestellungen eines Unternehmens, z.B. im Zuge von Fusionen, bei der Einführung einer neuen Struktur, bei grundlegenden strategischen Weichenstellungen. Kleine, repräsentative Gruppen werden gebeten, über dieses Ereignis - im nachstehenden Fall über die Erfahrungen mit einer radikal neuen Struktur - zu sprechen. Die Methode ist eine Mischung von Innen- und Außenperspektive, in der persönliche Geschichten der Beteiligten im Vordergrund stehen. Die Kernfrage ist: Wie erleben Sie persönlich im Moment den ganzen Prozess?

Die Gespräche werden aufgezeichnet, aus jeder Gesprächsrunde Originalzitate ausgewählt und zu Themenfeldern geclustert. Nach der Freigabe der Zitate wird eine erste "Learning History" erstellt, mit Hypothesen und Vorschlägen der Berater angereichert und graphisch in zwei Spalten dargestellt. In einem Experten-Workshop werden die Überlegungen abschließend nochmals reflektiert und gegebenenfalls verfeinert.

Im konkreten Unternehmen wurden in 5 Gesprächsrunden mit je sechs Teilnehmern (von Top-Führungskräften bis zu Mitarbeitern, die soeben von Auslandseinsätzen zurückgekehrt waren) die Einschätzungen zum Thema  "Wie läuft die neue Struktur – welche Kultur brauchen wir, damit sie noch besser läuft" anhand einiger Leitfragen erhoben.

Im Mittelpunkt bei dieser Methode ist der Dialog der Teilnehmer, nicht die Befragung durch den Berater. Alle Gespräche werden mitgeschnitten, zu wörtlichen Zitatelisten verdichtet und um - deutlich abgegrenzte und als solche kenntlich gemachte - Hypothesen der externen Berater ergänzt. In einem Workshop mit dem Projektteam wurde die Essenz herausgearbeitet und zu Umsetzungsclustern gebündelt.

Zitate und Hypothesen: ein kleiner Ausschnitt

Thema: Kundenorientierung: (Wörtliche Zitate aus den Gesprächsrunden) Interpretationen, Fragen und Hypothesen der Berater (extern und intern)
Die Kundenorientierung konnte vor der neuen Struktur nicht so gelebt werden wie jetzt. Wir hatten x verschiedene Fachabteilungen, jede hatte eine eigene Strategie und jede hat branchenspezifisch agiert. Über Branchen hinweg im Sinne der Gesamtkundenverbindung schnell und effizient zu entscheiden – das ist der Vorteil der neuen Struktur. In den Köpfen der Mitarbeiter muss man manchmal noch etwas tun...es gibt manche, die tun sich mit dem Ansatz schwer.

Hier hat ein erster Schritt in Richtung Kundenorientierung stattgefunden, und der ist auf der Organisationsebene...wir haben uns jetzt kundenorientiert organisiert, aber das Denken ist noch sehr weit weg, weil wir im Hirn nach wie vor branchenorientiert sind..

(im Original: ca. 30 weitere Zitate)
Das Tor zur Kundenorientierung ist aufgemacht; die Struktur bietet die formale Erlaubnis; dies reicht aber vielfach noch nicht, da hinter der formalen Seite auch tiefere Denkmuster stecken...

Insgesamt ist noch hohe Rollenunsicherheit zu beobachten, mit der Tendenz, gleich ganz in die Ohnmacht zu gehen oder auf „Kundendirektiven“ von oben zu warten.
Thema: Mitunternehmertum und Kreativität: (Wörtliche Zitate aus den Gesprächsrunden) Interpretationen, Fragen und Hypothesen der Berater (extern und intern)
Wir als Führungskräfte haben keine Möglichkeiten, Mitunternehmertum und Kreativität zu belohnen oder zu sanktionieren. Wir können nur ein Klima schaffen.

Man kann doch nicht von uns ständig Unternehmertum verlangen und dann die Freiräume ständig einengen. Der Trend ist leider, Freiräume zu verlangen und was anderes zu tun und das ist eine große Gefahr....

Explizites Ziel ist: Eigenverantwortung, Kreativität, nütze die Freiräume...wir haben die Freiräume teilweise, aber in der Praxis tut man sich schwer, sie auszufüllen...der implizite Wert ist: sei vorsichtig, erst mal langsam...

(im Original: ca. 25 weitere Zitate)

.Der Trend zur Einengung von Freiräumen ist ein ganz großes Thema. Hier gibt es keine Schuldigen, sondern dies ist ein zirkuläres Phänomen: Die Mitarbeiter sind großteils mit der Situation zufrieden und verlangen bei Unsicherheiten ein mehr an Orientierungen und Regelungen; die Führungskräfte erleben nicht den Druck, den Ruf nach mehr Freiräumen. Damit bleibt – im wechselseitigem Einverständnis – die Regelungskultur erhalten.

Das Thema der „Vorsichtskultur“ ist außerordentlich wichtig und sollte ev. auch als Schwerpunkt ausgewählt werden – mit konkreten Tools und Hilfen, aber nicht unbedingt mit Regelungen

Weitere Themenbereiche in dieser learning history waren:

     

  • Konfliktkultur und Umgang mit Fehlern
  • Gesamtinteresse/übergreifende Zusammenarbeit
  • Konkrete Umsetzungsideen – Wie kann die neue Struktur auf der Wertebene zum Leben gebracht werden

Den Abschluss dieser learning history bildeten zusammenfassende Hypothesen der Berater und Empfehlungen für Umsetzungsaktivitäten der Geschäftsbereiche

Dieses Ergebnis wurde im Projektcontrolling-Team aufgearbeitet und in einen Vorstandsworkshop eingespielt. Die Überlegungen führten u.a. zu einem Projekt zur Förderung des strategischen Dialogs und zu neuen Formen der Kommunikation über die Hierarchien hinweg und mit den Kunden.

Im Kern geht es bei diesem Instrument darum, nach dem Wandel erster Ordnung (Veränderung in den Strukturen und Prozessen) auch den Wandel zweiter Ordnung (Veränderung zentraler Denk- und Handlungsmuster) zu unterstützen.

Autor: Dr. Anton Kofler, 02.2003

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Dr. Anton Kofler