Führungstheorien - einige Blicke zurück und einer nach vorne

Prof. Dr. Heinz Stahl von der Universität Innsbruck skizziert markante Entwicklungen der Führungstheorie in den vergangenen hundert Jahren.

Die Keimzellen der modernen Arbeitsorganisation, so wie wir sie heute kennen, waren die frühen Fabriken des 18. Jahrhunderts. Nur schwer konnten sich die Beschäftigten in diesen Organisationen an die nötige Disziplin gewöhnen. Über einige Generationen hinweg musste ziemlicher Zwang auf sie ausgeübt werden, um gemeinsam mit Schulen, Kirchen und Familie Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Loyalität zu entwickeln. An Führungstheorien dachte damals noch niemand. Menschen müssen geführt werden, lautete die Maxime, die fallweise noch durch eine zweite ergänzt wurde: Menschen wollen geführt werden, da sie die starke Hand des Überlegenen geradezu suchen.

Organisationen benötigen organisationsgerechtes Verhalten

Mit der Größe der Organisationen wuchs auch der Bedarf an einem "oberen Management". Dieses musste sich zum einen auch ohne äußeren Zwang organisationsgerecht verhalten und zum anderen imstande sein, Regeln für die Disziplinierung der Subalternen zu entwerfen und weiterzuentwickeln.

Die "Erfindung" der Bürokratie durch Max Weber bedeutete den entscheidenden Schritt in die "Moderne". Führung (damals noch "Herrschaft") wurde entsubjektiviert. Gehorsam sollte nicht mehr einer Person, sondern einem Regelwerk, der gesatzten Ordnung, entgegengebracht werden. Diese Entsubjektivierung wurde dann durch den Ingenieur Frederick Taylor noch auf die Spitze getrieben. Ab sofort waren es vor allem technische Gründe - Störungen, Abweichungen, Reibungsverluste - die Führung notwendig machten. Das ging vielen denn doch zu weit, und so überrascht es nicht, dass die Sehnsucht nach der starken Persönlichkeit wuchs. Noch heute ist diese "great man theory" aktuell, wobei zu berücksichtigen ist, dass man im Englischen mit dem Begriff "Theorie" sehr großzügig umgeht.

Erste Ansätze

Erst Kurt Lewin kam mit seinem, auf Empirie fußenden Kontinuum zwischen "autoritärer" und "demokratischer" Führung einer Theorie nahe. Die entscheidende Variable ist hier das Ausmaß an Entscheidungsbeteiligung, das Unterstellten zugestanden wird.
Schon komplexer ging es dann bei Fiedler zu. Er führt den "Least Preferred Coworker" (LPC) ein, also den Mitarbeiter, mit dem eine Führungskraft am schlechtesten zurande kommt. Vorgesetzte, die ihren LPC immer wieder abwerten, erzielen einen niedrigen LPC-wert und sind damit aufgabenorientiert, während Führende mit hohem LPC-Wert beziehungsorientiert agieren.

Diese Polarität findet sich auch in der 3-D-Führungstheorie von Reddin wieder. Er kommt auf vier Führungsstile - "sich heraushaltend", "sich den Aufgaben widmend", "integrierend", "Kontakt haltend" - und zeigt auf, in welcher Situation welcher Stil am ehesten zum Erfolg führt. Der beliebte Begriff der "situativen" Führung hat hier vermutlich seinen Ursprung.
Blake & Mouton gehen mit ihrem Verhaltensgitter ("managerial grid") noch weiter. Sie unterscheiden zwischen Mitarbeiter- und Leistungsorientierung und klassifizieren das Führungsverhalten je nach der Position im Gitter, z.B. als 9,1 oder 5,5 oder 1,9 und so fort. Der optimale Führungsstil liegt für sie bei 9,9. Generationen besonders angelsächsischer Führungskräfte versuchen seither, ihr Führungsverhalten in Richtung 9,9 zu trimmen.

Da Führen, so die gängige Ansicht, vor allem Entscheiden bedeutet, konzentrieren sich verschiedene Theorien auf diesen Aspekt. Das Modell von Vroom & Yetton ist das bekannteste. Die beiden formulierten sieben Regeln, nach denen man aus fünf verschiedenen Führungsstilen - "autoritär alleine", "autoritär nach Information", "konsultativ einzeln", "konsultativ mit Gruppe" und "alles durch die Gruppe" - jenen auswählen soll, der zur jeweiligen Situation passt. Ob Stil und Situation zueinander passen oder auseinanderfallen kann anhand sogenannter "Flex-Karten" überprüft werden. Mit kurzen Fallstudien werden Führungskräfte in der Handhabung dieses Modells trainiert.

Unterscheidung nach "Reifegrad" der Mitarbeiter

Alle diese situativen Theorien haben natürlich den Pfad der Disziplinierung durch Zwang, wie er noch zu Beginn der Industrialisierung unerlässlich schien, längst verlassen. Besonders deutlich wird dies in der Führungstheorie von Hersey & Blanchard. Auch sie kennen vier Führungsstile - "telling", "participating", "selling" und "delegating" - , führen jedoch als Anwendungskriterium den Reifegrad der Mitarbeiter ein. Dieser wird anhand einer Reifeskala ermittelt, in der z.B. nach dem Leistungswillen und der Selbstsicherheit des Mitarbeiters gefragt wird. "Reif" ist ein Mitarbeiter dann, wenn er von sich aus tut, was er tun soll. Klar, dass dann unmittelbare Führung, anders als beim unreifen Mitarbeiter, entfallen kann. Wem zwei- oder dreidimensionale Modelle noch nicht genügen, der kommt bei Dreyer auf seine Rechnung. Seine 4-D-Theorie des Führens addiert zu den Dimensionen "Person", "Aufgabe" und " Situation" noch die "Zukunftsorientierung". Führung bedeutet für ihn "Sicherung und Gestaltung der Zukunft". Neu ist, dass man sich mit Zukunft nicht nur rational auseinandersetzen, sondern sie auch emotional antizipieren soll.

Vorschreiben versus Beschreiben

Die meisten dieser Theorien sind das, was Führungskräfte von ihnen zu erwarten scheinen. Sie sind normativ, schreiben also vor, wie man führen soll. Eine Reihe von Theoriegruppen begnügt sich hingegen mit der Erklärung des Phänomens Führung und überlässt es der aufklärten Führungskraft, daraus die Schlüsse für das eigene Führungsverhalten zu ziehen.

Die Austauschtheorien sehen Führung als Aushandlungsprozess in Zweierbeziehungen zwischen Führendem und Geführtem. Sie lehnen die Idee des durchschnittlichen Führungsstils ab und weisen vor allem auf die Bandbreite der Verhaltensweisen hin, innerhalb derer sich Führungskräfte bewegen müssen. Die Austauschtheorien sind gleichsam anschlussfähig an das Konzept des Beziehungsmanagements, wie es heute - zumindest in der Theorie - zur Umsetzung der Kundenorientierung angewandt werden sollte.

Die Lerntheorien gehen der Frage nach, wie Verhalten in Organisationen verändert werden kann. Sie sind im Kern Verstärkungstheorien. Wer führt, operiert mit bestimmten Reizen oder Stimuli. Durch Hinzufügen (z.B. Belohnung, Bestrafung) oder Entfernen (z.B. Entzug der Belohnung, Beenden der Bestrafung) solcher Reize kann ein bestimmtes Verhalten des Mitarbeiters ausgelöst, gesteigert oder verringert werden. Je geschickter es jemand versteht, zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der Verstärkung zu jonglieren, desto "besser" führt er oder sie.

Die Attributionstheorien schließlich erklären Führung aus dem Blickwinkel der sozialen Wahrnehmung. Führungskräfte beobachten ihre Mitarbeiter, kommen je nach Person, Aufgabe und Situation zu unterschiedlichen Urteilen über deren Verhalten, und reagieren infolgedessen unterschiedlich. Diese Theorien bieten verschiedene Modelle und Schemata, welche die Aufmerksamkeit auf Kausalbeziehungen und Beurteilungsverzerrungen lenken. Wer bereit ist, über seine eigenen Attributionsfehler nachzudenken, hat eine Lernchance, mit der er sein Führungsverhalten verbessern kann.

Von der Theorie zur Praxis

Wie haben sich all diese Theorien auf "Führung" ausgewirkt? Haben sich zehntausende Seminar- und Trainingsstunden gelohnt? Für manchen Seminaranbieter sicher, für die Führungskräfte wohl kaum. Zu mächtig, weil simpel und dem Anschein nach plausibel, ist die Idee des Führungsstils (z.B. autoritär, kooperativ, partizipativ, situativ), den man wie einen Anzug an- und ablegen kann. Diese Idee, die, wie etwa auch die Bedürfnispyramide nach Maslow, bis in die letzten Winkel der Seminarlandschaft gepredigt wird, erdrückt alles Anspruchsvollere. Man hört die einfache Botschaft und ist erleichtert, sich nicht mit Matrizen, Diagrammen und Entscheidungsbäumen beschäftigen zu müssen.

Manche der vorschreibenden Modelle sind so kompliziert, dass allein die Vorstellung, ihnen im Führungsalltag auch zu folgen, Ärger, Belustigung oder Resignation hervorruft. Nein, erkennbare Spuren haben die Führungstheorien in der Praxis kaum hinterlassen. Sie sind Produkte des jeweiligen Zeitgeistes, etwa der Maschinengläubigkeit, des Behaviorismus oder des Voluntarismus.

Warum flammt dann die Diskussion um zeitgemäßes Führen gerade jetzt wieder auf? Weil Wirtschaftsorganisationen, wie alle sozialen Systeme, nicht beliebig steuerbar sind. Das war schon immer so, nur konnte man in stabileren Zeiten schlechte Resultate einer Überraschung, einem Trendbruch zuschreiben. Heute, wo die Überraschung zum Normalfall geworden ist, funktioniert das nicht mehr. Zur Einsicht, dass auch das x-te Managementmodell nicht weiterhilft, kommt die Gewissheit, dass es doch am Zwischenmenschlichen liegen muss. Das Wort Führungskrise macht immer öfter die Runde.

Also, lassen Sie den Ball hier aufnehmen. Nicht, um wieder nur eine neue Führungstheorie zu entwickeln, sondern um "Führung" zu entmystifizieren. Um voneinander zu lernen, über Grenzen hinweg, die mittlerweile zu Wällen geworden sind: Gemeint ist der Diskurs zwischen Wissenschaft, Beratung und der Führungspraxis. "Leaders-Circle ", vor allem mit dem Leaders Report und dem Leaders Talk bietet dafür den idealen Rahmen.

09.2004

...zurück zum Seitenanfang

Teilen:

Prof. Dr. Heinz Stahl, Zentrum für Führungsforschung, Universität Innsbruck