Unterschiedliche Umfelder brauchen unterschiedliche Führung!

Mag. Josef Halbmayr, Finanzvorstand der Österreichischen Bundesbahnen, über die Wichtigkeit der Beachtung des jeweiligen "Kontexts" beim Führungshandeln, seine bisherigen Karriereschritte und die rasche Verfallsdauer aktuellen Führungswissens im Top-Management.

Herr Mag. Halbmayr, was war Ihr erster Führungsjob?

Meinen ersten Führungsjob – das würde ich im Nachhinein sagen, denn damals habe ich es nicht so gesehen - hatte ich nach der HTL bei einer Sanitär- und Heizungsfirma, wo ich von Anfang an die Reparaturpartie über gehabt habe. Das waren vier Gesellen mit jeweils einem Lehrling, insgesamt acht Leute und da ging es darum, deren Arbeit einzuteilen. Jetzt kann man sich vorstellen, da rufen die Kunden an - der Abfluss ist verstopft, oder irgendwas ist undicht - und natürlich wollen alle, dass sofort um 7 Uhr früh jemand kommt. Man kann aber nicht nur um 7 Uhr arbeiten, sondern man muss um 12 Uhr auch noch wo hin fahren und den Tag ausfüllen. Das mit den Mitarbeitern auszumachen, auch unter Einbeziehung ihrer Sichtweise - was ist das Dringendste, wo brauchen sie wie lang, was lässt sich schnell erledigen, wie können sie den Tag einteilen - das war meine erste Führungsaufgabe. Führung steht immer in einem Kontext. Und der Kontext war hier, dass du aktuelle Kundenbedürfnisse hast und sofort etwas tun musst, statt dich wie bei anderen Führungsjobs zuerst einmal zurückzulehnen und darüber nachzudenken.

Was hieß da für Sie konkret Führung? Dass man mit den Mitarbeitern eine gute Beziehung aufbaut?

Richtig. Man muss hier sehr flexibel sein und Flexibilität geht nur im Einvernehmen mit den Betroffenen. Reine Disposition ist hier nicht zielführend. Denn wenn die Leute kooperativ sind - und das sind sie nur wenn sie eingebunden sind - dann ist die Flexibilität viel höher als bei jeder Planung am grünen Tisch.

Insofern war es ein Job, der schnell deutlich gemacht hat, dass eine rein rationale Planung nicht funktioniert, denn es kommt immer anders.

Ja, es kommt insofern immer anders, weil sich vor Ort bei der Reparatur herausstellen kann, dass das vier Stunden länger dauert als angenommen. Daher muss man immer sehr flexibel mit der bestehenden Struktur umgehen. Den Job habe ich 2,5 Jahre lange gemacht.

Was kam dann?

Dann habe ich gesagt, das kann nicht alles gewesen sein. Wenn ich diesen Job bis zur Pension machen soll, kann ich das in vier Jahren auch noch. Also habe ich eine Pause eingelegt und BWL studiert. Daraus sind dann sieben Jahre geworden, weil ich so viele Dinge nebenbei gemacht habe. Ich war Vorsitzender der Hochschülerschaft und, und, und. Mir sind so viele Sachen spannend vorgekommen. Interessensvertretung ist wieder eine ganz andere Art von Führung. Es ist etwas völlig anderes, wenn man nur mit Leuten zu tun hat, die das ausschließlich ehrenamtlich machen. Da kann ich überhaupt nichts anschaffen, sondern ich muss darum werben, dass diese Leute ihre Beiträge leisten und bei der Stange bleiben.

Wie haben Sie das angestellt?

Das Grundprinzip ist immer ähnlich. Es geht darum, ein gemeinsames Ziel zu erarbeiten und zu formulieren und das gibt dann auch die Energie und Ausrichtung. Wenn man gut eingebunden ist, fällt es leichter, Beiträge zu liefern.

Also zuerst die Frage, was wollen wir überhaupt erreichen, und wenn man da Einigkeit erzielt, hat man einen gewissen Zug drinnen?

Es hängt davon ab, wie ist das Umfeld, wie ist der Kontext. Es ist ein großer Unterschied, ob das ein Privatunternehmen ist oder ein öffentliches, ob es ein Produktionsunternehmen oder ein Dienstleister oder eine Interessensvertretung mit Freiwilligkeit und ehrenamtlicher Tätigkeit ist. Das sind jeweils andere Umfeldbedingungen.

Inwiefern wirkt sich das dann konkret aus?

Ich glaube, dass in einem Privatunternehmen der Unternehmer die klare Nummer Eins ist und in der Regel die Vorwärtsorientierung außer Streit steht. Da ist klar vorgegeben, wo vorne ist, was wir machen wollen. Damit entsteht eine andere Ausrichtung als wenn man sich das Vorne erst suchen muss.

Was passierte dann nach dem Studium?

Da war ich beim Landesverlag OÖ, einem Medienkonglomerat mit Buch, Papier, Zeitungen und Druckereien. Der Landesverlag hat dem Pressverein gehört, ein diskreter Eigentümer, den man nicht mitbekommen hat. Dort war ich fünf Jahre in vielen betriebswirtschaftlichen Funktionen und mit vielen strategischen Überlegungen beschäftigt. Wir haben schon damals mit dem Managementzentrum St. Gallen intensiv an der Geschäftsfeldorientierung, an Zukunftsfragen, an Marktchancen und möglichen Bedrohungen gearbeitet.

In den ersten Jahren erlebt man oft verschiedene Vorgesetzte mit sehr unterschiedlichem Führungsverhalten. Wie war das bei Ihnen?

Wenn man als junger Mensch irgendwo zum Arbeiten anfängt, dann ist Führung nicht das dominante Thema. Man beschäftigt sich mit den Alltagsfragen der Betriebswirtschaftslehre in ihrer konkreten Anwendung. Da ist man noch nicht so interessiert daran, wie funktioniert das mit Führen und Folgen. Erst später, wenn man in einem größeren Ausmaß Verantwortlichkeiten für Mitarbeiter wahrnimmt, die mit Ergebnisverantwortung verbunden sind, kommt die Frage zum Tragen, wie funktioniert das mit Führung? Warum folgen mir die Leute, warum folgen sie mir nicht?

Wann ist das Thema Führung bei Ihnen aufgetaucht?

Mit gewachsenem Verantwortungsbereich reflektiere ich zunehmend über die verschiedenen Situationen, weil ich daraus immer etwas lernen möchte. Und Lernen kann man nur etwas, wenn man die Erlebnisse, die man hat, reflektiert. Denn sonst reiht sich eine Führungserfahrung an die andere. Erst wenn man darüber nachdenkt, kann man etwas lernen.

Nach dem Landesverlag habe ich dann in Toronto einen MBA gemacht. Das hat mir sehr genützt, weil man aus einem Studium etwas ganz anderes mitnimmt, wenn man selber schon jahrelange Berufserfahrung mitbringt. Dann ist das nicht alles so theoretisch. Wenn man z.B. etwas über Mitarbeitergespräche als Aspekt der Führung hört, und man hat selbst schon solche Gespräche geführt, dann ist das, was man darüber lernt, von einer ganz anderen Relevanz und Ernsthaftigkeit als wenn man das noch nie gemacht hat und nur aus den Büchern kennt. Das war mein erstes großes Sabbatical und ich habe es sehr genossen, in einem anderen Kulturkreis zu sein und mit Leuten aus aller Welt zu tun zu haben. Damals war ich 35. Ich messe dem auch heute noch viel Bedeutung zu. Das, was ich heute als Manager einbringe, ist Stand der Lehre und Forschung von 1991 und nicht noch zehn Jahre älter. Bei großen Unternehmen braucht man aktuelles Wissen und es tut sich sehr viel in der Wissenschaft.

Als ich dann zurückgekommen bin, bin ich zu einem amerikanischen Unternehmen gegangen, CPC International, in Österreich bekannt für Knorr Goldaugen Rindsuppe und Mazola Maiskeimöl. Das Unternehmen wurde inzwischen an Best Foods verkauft und Best Foods selbst kürzlich an Unilever. Die haben mich damals gerne genommen, weil sie jemand gebraucht haben, der die amerikanischen Accounting-Standards kennt, weil sie nach diesem Standard reporten mussten. Dort war die Führungserfahrung wieder eine völlig andere.

Was war das dort für eine Position?

Leiter Controlling und strategische Planung. Dort war die Zukunftsfrage und insofern die Führungsfrage eine andere. Die Zielrichtung war klar, sie hat geheißen, Verdoppelung von Umsatz und Gewinn alle fünf Jahre. D.h. 15% pro Jahr und das hieß 5% aus Preis, 5% aus Menge und 5% aus Akquisition. Und wenn halt nicht 5% aus Preis und 5% aus Menge geht, dann muss man eben mehr akquirieren. Der Punkt war: Die ganze Managementaufmerksamkeit hat sich darauf gerichtet, wie erreichen wir das Ziel und nicht darauf, was wollen oder sollen wir erreichen. Das war eine sehr lehrreiche Zeit. Hier ging es eben nicht darum, was sind Mission oder Vision, sondern die Frage war nur, wie stellen wir es an, die Ziele zu erreichen. Der Unterschied ist, dass man dadurch viel stärker auf die Umsetzung schaut. Das war ein gutes Beispiel, wie amerikanische Unternehmen Business betreiben.

Wie wirkt sich das auf das Führungsverhalten aus? Steht man mehr unter Druck und gibt den dann auch weiter?

Ich denke, es ist irgendwie klarer ausgerichtet und fokussiert und man kann transparent und sehr eindeutig kommunizieren, warum es geht. Das ist für alle Mitarbeiter verständlich. Das betrifft auch alle Fragen von Qualität und Zuverlässigkeit.

Anschließend war ich in einem reinen Privatunternehmen, einem Unternehmen für Spezialtransporte, wo klar war, wer der Herr im Haus ist. Hier ging es vor allem darum, die Kommunikation zu unterstützen und die Organisationsstruktur dem Wachstum nachzuziehen, damit der Unternehmer seine Ideen verwirklichen kann. Dann bin ich nach Wien gegangen und habe den Bereich Postbus und Werkstätten bei der damaligen Post und Telekom Austria übernommen. Das war schon damals als eigenes Unternehmen angedacht, allerdings gab es noch keine eigenen Verrechnungskreise. Ich war also Unternehmensbereichsleiter Postauto.

Was hat Sie daran gereizt, von einem amerikanischen, dann einem privaten Unternehmen zu einem öffentlichen Unternehmen zu wechseln?

Ich habe mich damals aus einer Urlaubslaune heraus beworben. Ich hatte das Stellenangebot während des Urlaubs in Italien in der Zeitung gelesen, dann spontan in Wien angerufen und die Auskunft war: "Das geht nicht ohne schriftliche Unterlagen, wie wollen Sie sich da bewerben? Und die Frist verlängern, das geht schon gar nicht, sonst ist nie eine Ruhe." Ich habe dann gefragt, ob ich ein Fax schicken kann und am nächsten Tag aus Italien eine sechsseitige, mit der Hand geschriebene Bewerbung geschickt, das Ganze allerdings nicht so ernst genommen. Dann hat das eine Eigendynamik bekommen. Es gab ein 2-tägiges Assessment und daraus bin ich dann als erstgereihter Kandidat hervorgegangen. Angefangen habe ich am 1.September 1997. Das war eine große Aufgabe. Der Bereich hatte damals 4.200 Mitarbeiter und 1.600 Busse in ganz Österreich, dazu sehr viele Standorte, Werkstätten und Garagen.

Was war diesmal Ihre genaue Aufgabe?

Die Aufgabe war, ein katastrophales Ergebnis zu verbessern, erstmals eine Zukunftsrechnung und einen Business Plan aufzustellen und zu prüfen, ob das in irgendeiner Form sanierbar ist. Die Leitfrage war: Was wäre notwendig, um den Bereich langfristig auf gesunde Beine zu stellen und die Ausgliederung vorzubereiten?

Was hieß unter diesen Rahmenbedingungen Führung?

Das war wieder ganz anders. Der Hauptpunkt war, eine Mehrheit der Beschäftigten und der Führungskräfte dafür zu gewinnen und davon zu überzeugen, dass Handlungsbedarf gegeben ist, dass Reformen dringend notwendig sind, um die schon absehbare Ausgliederung so zu gestalten, dass der Bereich als eigene Einheit lebensfähig ist. Für eine Unternehmenskultur und auch für ein Arbeits- und Dienstverständnis, das immer davon ausgegangen ist, dass das ein Staatsbetrieb ist und man da als Bundesbeamter lebenslang beschäftigt ist, ist diese Kulturentwicklung eine herausfordernde Aufgabe, weil das nicht von heute auf morgen funktioniert. Da geht es viel um Überzeugungsarbeit und parallel dazu um entsprechende Strukturmaßnahmen, damit neuen Arbeitsformen zum Durchbruch verholfen wird.

Ist das Entscheidendere, dass man Strukturen umbaut, um damit Signale zu setzen? Denn nur an der Einstellung der Leute zu arbeiten, nehme ich an, ist zu wenig?

Genau, dann verpufft das. Wir kennen das alles aus der Theorie, Stichwort Reframing, man muss dem Ganzen einen neuen Rahmen geben, einen neuen Bezugspunkt. Neue Arbeitsformen können Sie meiner Meinung nach nur unter einem neuen Kontext etablieren. Es ist eine völlige Überforderung, den Leuten zu sagen, verhalte dich anders, hab eine andere Einstellung, wenn man rundherum alles gleich lässt. Das ist eine Illusion.

Was haben Sie konkret geändert, woran haben Sie gedreht?

Wir haben tiefgreifende Strukturreformen vorgenommen. Ein Beispiel: Damals war der Bereich ähnlich organisiert wie andere Teile der Bundesverwaltung. Es gab sechs Landesdirektionen, die habe ich alle aufgelöst und an ihre Stelle 19 Postbuszentren eingerichtet, über ganz Österreich verteilt. Dadurch habe ich nicht nur sechs Stellen gehabt, die meine Ideen multipliziert haben, sondern 19 und die habe ich alle neu besetzt. Damit ist eine ganz andere Geschwindigkeit, ein ganz anderer Drive hinein gekommen. Das hat den Bezugsrahmen geändert.

Wie besetze ich da neu, wenn meine Führungskräfte alle pragmatisierte Bundesbeamte sind? Bin ich da nicht durch das Dienstrecht total eingeengt?

Keineswegs. Grundsätzlich ist es so, dass hier so wie in vielen anderen Organisationen viele hervorragende Leute beschäftigt sind und die Frage des Status des Dienstverhältnisses, ob das ein beamtetes oder ein angestelltes oder ein freies ist, sekundär ist. Das Primäre ist, wie gelingt es, die Leute so auszurichten, dass sie sehen, dass das Angestrebte eine vielversprechendere Zukunft ist als die momentane Situation.

Die Multiplikation war ganz wesentlich. Aber - das kann man nicht vom Prinzip her machen, sondern man muss immer genau schauen, in welchem Geschäft man sich bewegt. Regional- und Lokalverkehr ist ein lokales Business, das ist kein zentrales Business. Denn in den Städten, in denen die Direktionen saßen, gibt es überall Stadtbetriebe. Da waren also nur die Verwaltungen, der Verkehr selbst war draußen in den Regionen. Und dorthin gehören auch die Kompetenzzentren. Man muss sehr genau auf den Markt schauen, wenn man überlegt, was da eine sinnvolle Organisation sein könnte.

Als Bereichsleiter in der damaligen PTA hatten Sie noch Vorstände über sich. Was hieß dort Führung? Das war doch eine ganz andere Kultur, in die Sie hinein gekommen sind.

Klar. Als Bereichsleiter bist du direkt dem Vorstand unterstellt und verantwortlich. Da ging es auch darum, das Gremium von den notwendigen Reformmaßnahmen, insbesondere von deren Umsetzungsmöglichkeit zu überzeugen. Also nicht nur zu sagen, das und das sollten wir machen, sondern "das lässt sich auch durchsetzen". Das ist, glaube ich, sehr gut gelungen und wir haben dann große Strukturreformen umgesetzt. Dann kam der Punkt, wo in der Post der ganze Vorstand neu zu besetzen war. Da habe ich mich dann beworben und am 1.Juli 1999 eine Vorstandsfunktion übernommen.

Der Postbus wurde dann ausgegliedert.

Ja, noch im selben Jahr. Das hatte ich noch alles vorbereitet. Er wurde zu einer eigenständigen Tochter der ÖIAG abgespalten.

Nun waren Sie also im Vorstand der neuen Post AG. Wie war das ganz oben? Wie unterscheidet sich das von einer Bereichsleitung?

Die wesentliche Veränderung war der "Kontext". Es gibt andere Gremien, mit denen man zu tun hat, andere Personen und völlig andere Interessen. Ein Großteil der Führungsaufgabe ist das Handling der verschiedenen Interessen. Sie wirken zu lassen und trotzdem das Unternehmen nach vorne auszurichten. Das ist ein großer Unterschied zu anderen Führungsaufgaben.

Man hat plötzlich mit politischen Einflussnahmen zu tun...

Nein, nicht so sehr mit politischen Einflussnahmen, sondern eher mit Interessen, die aus Status, Eitelkeit, Bedeutung kommen. Beziehungsnetzwerke von Lieferanten, Kunden, Gewerkschaften. Ein ganzes Bündel von unterschiedlichen Interessen und die Interessen sind immer auch dominiert von persönlichen Lebenschancen, die einzelnen Untergebene, Mitarbeiter, Kollegen für sich verwirklichen wollen. In diesem Umfeld ist die Herausforderung: Wie kann man eine Ausrichtung nach vorne erzielen? Wie kann man das, was vorne ist, wo die Zukunft des Unternehmens liegt, zur Sprache bringen? Der Hauptpunkt ist: Wenn man von Mitarbeitern erwartet, dass sie einen Beitrag leisten, dann muss man ihnen eine für sie glaubwürdige, überschaubare und plausible Perspektive bieten. Und diese Perspektive, wenn sie glaubwürdig sein soll, ist nur mit ihnen gemeinsam erarbeitbar. Alles andere ist eine Illusion, vielleicht lehrbuchgemäß, aber nicht realistisch.

Was war das große Bild für die nächsten Jahre?

Meine Vorstandsverantwortung umfaßte u.a. alle Postämter, also das Filialnetz. Zuerst Marketing, Vertrieb und Filialnetz, dann ist statt Marketing und Vertrieb für die anderen Bereiche das Paketgeschäft dazu gekommen. Im Filialnetz war es so: Zuerst ist es in der Führungsaufgabe ja so ähnlich wie in der Medizin. Die Therapie ist erst dann erfolgreichl, wenn die Diagnose richtig ist. Erst wenn ich eine Diagnose erarbeitet habe -  besser gesagt eine Standortbestimmung, weil die immer auch den Bezug um Umfeld herstellt -  kann ich nach vorne schauen. Und das Interesse aller, sowohl des Unternehmens als auch der Beschäftigten und damit auch der Personalvertretung, kann ja nur sein, im Geschäft zu bleiben, zu wachsen und Beschäftigung durch gute Ergebnisse auch für die kommenden Jahre zu sichern.
Das heißt, ich muss mir im Zuge der Standortbestimmung und der Situationsanalyse einen Überblick verschaffen über die wirtschaftliche Situation und in einem Filialnetz heißt das, dass das Gesamtbild letztlich aus den Ergebnissen der einzelnen Filialen besteht. Diese einzelnen Filialen stehen jeweils in einem Marktumfeld und da muss man am Ende des Tages in überschaubaren Einheiten einschätzen, sind diese einzelnen Filialen konkurrenzfähig, wie schaut der Wettbewerb aus, wie schaut das Einzugsgebiet aus, wie hat sich das in den letzten Jahren entwickelt? Wenn man das sauber ausarbeitet, kommt man vielleicht zu dem Ergebnis, dass eine Strukturreform notwendig ist. Das hieß in unserem Fall, das Filialnetz den heutigen Kundenbedürfnissen und Gewohnheiten entsprechend zu redimensionieren. Und das ist auch unter Führungsgesichtspunkten nur möglich, wenn man gleichzeitig für die Stakeholder, Eigentümer, Management, Mitarbeiter, Personalvertreter und Kunden eine offensive Alternative anbieten kann.

Also Redimensionierung einerseits und gleichzeitig die Entwicklung neuer Sortimente, neuer Standorte, neuer Vertriebs- und Betriebstypen. So haben wir einen Kiosk im Donauzentrum etabliert, das war eine tolle Sache. Diese Umstrukturierung war aus meiner Sicht ein durchaus  herzeigbarer Erfolg. Wir haben innerhalb von 6 Monaten 630 Standorte geschlossen und über 40 neue aufgebaut. Das ist nur erreichbar, wenn man den Mitarbeitern glaubwürdig kommunizieren kann, dass es eben um beides geht. Nicht nur um Restrukturierung in einer Spirale nach unten, sondern auch um neue Sortimente, neue Angebote und Dienstleistungen. Wenn man das richtig macht, dann hat man eine Zukunft.

Braucht man als Vorstand andere Fähigkeiten als als Bereichsleiter? Welchen Teil der Zeit verwendet man fürs Geschäft und wie viel Zeit geht drauf für Kämpfe, Konflikte?

Die stärkste Energie entsteht, wenn sich eine möglichst gemeinsame Sichtweise von der Zukunft des Unternehmens herstellen läßt. Das gibt Energie, das gibt Stoßrichtung und das erzeugt auch einen Sog, dem die nächsten Führungsebenen folgen können. Damit es aber gelingt, eine gemeinsame Ausrichtung zu finden, ist es unerlässlich, dass man die Zukunft des Unternehmens immer wieder zur Sprache bringt. Denn jeder Stakeholder hat von seinem eigenen Standpunkt aus eine andere Perspektive. Das muss man immer wieder auf den Tisch legen, sozusagen zur Verfügung stellen, in der Fachsprache "vergemeinschaften". Erst dann kann man klar sagen, das ist unsere gemeinsame Sichtweise, das sind unsere Differenzen, aber gemeinsam wollen wir das Unternehmen dort und dort hinbringen. Das ist eine ganz wichtige Führungsaufgabe, dieses Thema Zukunft am Kochen zu halten. Es hat keinen Sinn, über irgendwelche Dinge in 10, 20 Jahren zu reden, es muss so glaubwürdig sein, dass die Adressaten, die das verstehen sollen – die Eigentümer, repräsentiert durch den Aufsichtsrat, Managementkollegen und Mitarbeiter – unschwer andocken können. Sie müssen zum Ergebnis kommen können: OK, das ist für mich plausibel, so kann das gehen.

Aber es reicht ja nicht, ein klares Bild zu haben, wo es hingehen soll, man muss den Leuten doch auch sagen, wie man da hinkommen will. Wenn es keine Einigkeit über den Weg gibt, bleibt das Zielbild eine leere Phrase, oder?

Exakt. Da sind viele Voraussetzungen zu schaffen. Erstens, es muss eine klare Führungsstruktur geben und es muss über die Führungsstruktur genau das kommuniziert werden. Das kann auf relativ hoher Ebene noch abstrakter sein, je weiter runter desto konkreter muss es sein. Und damit das möglich ist, ist eine saubere Kommunikationsleistung notwendig. Es ist eine der wesentlichen Führungsaufgaben, diese Zukunftsbilder zu kommunizieren. Die kann ich nicht an eine Agentur oder an eine interne Abteilung delegieren, die dann ohne Unterschied der Person ein Massenmail schreibt. Es muss über die Führungskräfte gehen. Es muss klar sein: Die Führungskräfte müssen vom Prinzip her, um als Führungskraft agieren zu können, einen Informationsvorsprung haben. Wenn ich mit einem Massenmail alle gleich behandle, schwäche ich die Führungsstrukturen. Ich desavouiere alle die drüber sind, denn die Leute an der Basis sagen dann: Was bist denn Du für eine Führungskraft? Du weißt ja auch nicht mehr als ich!

Also: Es muss sauber kommuniziert sein und sauber heißt, Einhaltung der Strukturen, um den Leuten einen Informationsvorsprung zu verschaffen. Das halte ich für eine wichtige Führungsaufgabe, denn wenn man die inhaltlichen Themen nicht adressatengenau kommunizieren kann, ist es umsonst. Da sind Organisationen wie die Post, die eine bürokratische Vergangenheit haben, wo viel über Dienstanweisungen und solche Regulatorien funktioniert hat, ganz empfindlich, was eine saubere Führungskommunikation anlangt. Speziell wenn diese schriftliche Kommunikation ersetzt wird durch eine glaubhafte Führungskraft. Das mag in anderen Unternehmen anders sein, aber dort war das von großer Bedeutung.

Was macht das für einen Unterschied? Ist das System irritiert, weil man schriftliche Anweisungen gewohnt ist und nun die Führungskräfte direkt kommunizieren?

Ja, irritiert ist der richtige Ausdruck. Wenn man mit irgendeiner Praxis aufhört, aus guten Gründen, kann das nur gehen, wenn sie ersetzt wird durch etwas Besseres. Nur zu sagen, das ist pfui, das reicht nicht. Das ist völlig daneben. Man muss etwas besseres haben, etwas glaubwürdiges, das auch in den Augen der Betroffenen etwas Besseres ist. Nur zu sagen, das ist alles nichts, was ihr früher gemacht habt, und überhaupt die Beamten - das ist katastrophal. Es gilt zu transportieren: Wenn wir das so machen, erreichen wir schneller unsere Ziele.

Jetzt gibt es im Vorstand oft mehrere unterschiedliche Führungs- und Organisationsverständnisse. Wenn es dann jeder in seinem Bereich ein bisschen anders macht, geht das Problem doch schon los, oder? Ist das überhaupt realistisch, in einem so großen Unternehmen ein klares einheitliches Bild hinzukriegen, es oben zu vergemeinschaften?

Es ist sowieso eine Illusion zu glauben, dass die Führung in großen Unternehmen nach einem einheitlichen Bild funktionieren kann, weil der Kontext dazu zu unterschiedlich ist. Mit Kontext meine ich in diesem Fall: Führung hat immer wesentlich zu tun mit den Personen, die diese Führung ausmachen. Das Gemeinsame ist eben ein gemeinsames Bild von Zukunft, denn in der Zukunft hat jeder recht. In der Gegenwart geht es immer um Reviere, um Grenzziehung, oder was auch immer, aber in der Zukunft hat jeder recht. Die Kunst ist nur, diese gemeinsame Zukunft immer am Kochen zu halten, immer wieder zu bearbeiten und zu prüfen, sehen wir das noch gemeinsam. Anders gesagt: Wie groß ist der gemeinsame Kern, was ist erlaubt an unterschiedlichen Sichtweisen, denn jeder kommt aus einer anderen beruflichen Sozialisation. Wo ist da jetzt das Gemeinsame, das ist die große Kunst. Zentrale Anforderung an jeden Vorstand ist, diese Zukunftsthemen am Kochen zu halten.

Herr Mag. Halbmayr, herzlichen Dank für das Gespräch.

12.2004

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Mag. Josef Halbmayr, Vorstand der ÖBB