Das Praktische Seminar

Betrachtet man internationale Managementausbildungen und MBA-Lehrgänge, fällt auf, dass in keinem Programm der Baustein "Strategie" fehlt. Folglich – so der logische Schluss – müssten Unternehmen zuhauf auf strategisch denkende und handelnde Führungskräfte setzen können. Doch ist das auch so?

Strategieentwicklung wird in vielen Unternehmen immer noch als reine "Top-Management-Aufgabe" betrachtet, allenfalls unterstützt durch externe Strategieberater. Somit bleiben die strategischen Potenziale der nächsten Mitarbeiterebenen weitgehend ungenutzt – mit fatalen Auswirkungen auf die häufig beklagte mangelhafte Umsetzung der an der Spitze ausgedachten Strategien.

Zudem wird das Thema Strategie in Aus- und Weiterbildungskursen überwiegend im "Trockentraining" anhand von theoretischen Inputs und der berühmt-berüchtigten "Case Studies" behandelt. Dies führt bestenfalls zu mehr Wissen auf der persönlichen Ebene. Dem Unternehmen selbst bringt es keinen Nutzen, da das Gelernte kaum auf die eigene Realität übertragbar ist. So spannend eine Konkurrenz- oder SWOT-Analyse großer Schweizer und deutscher Banken für die Seminarteilnehmer auch sein mag, ihr Nutzen für die strategische Entwicklung eines international operierenden Windparkbetreibers oder einer europaweit tätigen Handelskette ist äußerst dürftig. Diese Mankos sind vielen Unternehmen durchaus bewusst. Was aber wäre die Alternative? Klar ist: Unternehmerisches und strategisches Denken der Mitarbeiter wird für Firmen immer wichtiger. Ebenso klar ist: Strategisches Denken und Handeln erlernt man nicht in klassischen Seminaren, sondern über die praktische Arbeit an konkreten strategischen Aufgaben des eigenen Unternehmens.

Das "Praktische Seminar"

Wie lassen sich die beiden Maximen am besten in die Unternehmenspraxis einführen? Einen effektiven und nachhaltigen Weg bietet der Ansatz des "Praktischen Seminars". Das Konzept beruht auf dem Prinzip, dass die Vermittlung der grundlegenden Instrumente der Strategieentwicklung Hand in Hand geht mit der Bearbeitung von "Real Cases" aus dem Unternehmen der Teilnehmer. In dem in der Regel zweimal 2 Tage umfassenden Seminar mit Workshopcharakter verlaufen Theorievermittlung und Praxis durchgehend parallel.

Die Teilnehmer des Seminars wählen zwei bis drei strategische Fragestellungen aus, die in ihrem Unternehmen anstehen oder in Bearbeitung sind. Eine erste Aufgabe besteht darin, Linienmanager dafür zu gewinnen, strategische Themen aus ihrem Bereich im Seminar bearbeiten zu lassen. Zu Beginn erhalten die Teilnehmer einen generellen Überblick über sämtliche Schritte eines Strategieentwicklungsprozesses. Dies hilft ihnen, ihr Thema, dessen Bearbeitung im Unternehmen unterschiedlich weit fortgeschritten sein kann, erst einmal zu verorten. Wo stehen wir derzeit in Bezug auf diese strategische Frage? Was wären die nächsten Schritte?

Die weitere praktische Bearbeitung erfolgt je nach Entwicklungsstand des Themas. Dazu wenden die Teilnehmer grundlegende Arbeitsinstrumente an wie das Erstellen einer Konkurrenz- oder Kundennutzenanalyse, wenn sich das Thema in der Anfangsphase befindet, das Herausarbeiten der Marktstellungsziele oder das Erstellen eines Businessplans, wenn sich der Aufgabenbereich bereits in einer fortgeschrittenen Phase befindet.

"Real Cases" statt "Case Studies"

Auf diese Weise erhalten die Teilnehmer – je nach Zielgruppe erfahrene Führungskräfte oder Nachwuchsführungskräfte – eine plastische Vorstellung von den wichtigsten Phasen und Bestandteilen eines Strategieprozesses. Zudem wenden sie die Instrumente umgehend auf konkrete Aspekte der eigenen Unternehmensstrategie an. Sie identifizieren sich daher in hohem Maß mit den von ihnen bearbeiteten strategischen Überlegungen und leisten mit ihrer Arbeit direkt einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Strategie des eigenen Unternehmens bzw. des eigenen Geschäfts. Genau darin liegt der Unterschied zur weitverbreiteten Arbeit mit "Case Studies". So spannend diese im Einzelfall auch sein mögen, sie haben keinen Bezug zum eigenen Unternehmen. Ganz im Gegenteil zu "Real Cases", deren Bearbeitung direkte Relevanz für die eigene Firma hat.

Der für ein Thema zuständige Linienmanager steht während des "Strategischen Seminars" den Teilnehmern via Telefon- oder Videokonferenz – eventuell auch durch seine persönliche Anwesenheit – zur Verfügung, um Fragen zu beantworten oder auf Ideen zu reagieren, die im Lauf der Zeit aufgetaucht sind. Daraus entwickeln sich oftmals intensive Diskussionen, die sowohl auf Seiten der Teilnehmer wie auch auf Seiten des Linienmanagers tiefen Eindruck hinterlassen. In der Regel werden nicht nur wichtige Fragen aufgeworfen, die den Linienmanager fordern und ihm aufzeigen, wo er bereits gut gewappnet ist und wo gegebenenfalls noch Antworten gefunden und Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Q&A-Session (Question & Answer) führt dem Linienmanager vor allem auch vor Augen, dass er es mit Mitarbeitern zu tun hat, die für "sein" Strategiethema wertvolle Arbeit leisten. Teilnehmer des "Praktischen Seminars" werden denn auch immer wieder eingeladen, ihr Thema in der Folge weiter zu bearbeiten und die Umsetzung zu unterstützen. So arbeitete beispielsweise eine Gruppe von "High Potentials" eines internationalen Unternehmens an einem Strategieprojekt mit dem Ziel, auf dem südafrikanischen Markt ein neues Produkt einzuführen. Im Anschluss an das Seminar flog einer der Teilnehmer nach Südafrika, um die Arbeitsergebnisse zu präsentieren; er erhielt umgehend das Angebot, das Projekt weiter zu betreuen und bei der Umsetzung – der Markteinführung – mitzuwirken.

Praxisbeispiel

KSB, ein in über 100 Ländern tätiger großer Pumpen- und Armaturen-Hersteller, entwickelte in den vergangenen Jahren eine neue Unternehmensstrategie. Erklärtes Ziel im Rahmen der Weiterbildung ist nun die Stärkung der strategischen Kompetenzen der Führungskräfte. Dazu setzt KSB auf den Ansatz des "Praktischen Seminars". "Die Mitarbeiter arbeiten in diesem Seminar an einem konkreten Thema und bringen einen wertvollen Beitrag mit zurück, und das wird vom zuständigen Linienmanagement sehr geschätzt", sagt Andreas Laschke, Leiter Strategische Planung bei der KSB in Frankenthal. Dazu zwei Beispiele aus dem laufenden Seminarzyklus:

Real Case 1:
Alternative Energien spielen in Zukunft eine immer größere Rolle. Für KSB eröffnet dies neue Wachstumsfelder. Die eingeleitete Energiewende in Deutschland und deren Förderung mit öffentlichen Mitteln geben einem stark wachsenden Markt zusätzlichen Auftrieb. Für die Vorwärtsintegration zieht das Unternehmen die Kooperation mit wichtigen Playern dieses Zukunftsmarkts in Betracht. Für das Seminar wurde ein konkretes Projekt als "Real Case" ausgewählt. Aufgabe des Teams war es, eine SWOT-Analyse zu erarbeiten und aus dieser die Hauptherausforderungen abzuleiten. Am Ende des Seminars kam das Team mit einer strategischen Risikoanalyse zurück, die direkt bei der Evaluation des Falles eingesetzt wurde.

Real Case 2:
Nicht nur in den wichtigen und großen asiatischen Zukunftsmärkten wie China und Indien ist KSB seit Jahrzehnten vertreten, sondern auch in Pakistan besteht seit über 50 Jahren eine eigene Gesellschaft mit Produktion. Ein Seminarteilnehmer aus Pakistan brachte eine Aufgabenstellung als "Real Case" mit, in dem es darum ging, ein ganzheitliches Konzept für den lokalen Markt im Bereich "Submersible Pumps" auszuarbeiten. Mit dem Seminarteam arbeitete er an den Pros und Cons und konnte von den Erfahrungen der anderen Regionen profitieren. Eine detaillierte Konkurrenzanalyse unterstützte die klare Definition der Ziele. Das Ergebnis nahm der Mitarbeiter in Form eines Businessplans mit nach Pakistan.

Die 10 Thesen:

  1. Strategisches Denken und Handeln der Mitarbeiter auf breiter Basis sind für ein Unternehmen überlebenswichtig.
  2. Mitarbeiter lernen strategisches Denken nicht in klassischen Seminaren, sondern in praktischen strategischen Aufgaben.
  3. Die besten Strategen für ein Unternehmen sind seine Mitarbeiter.
  4. Die wirkliche Expertise holen Sie sich von Ihren Kunden (und Ihren Nichtkunden) – und nicht von externen Beratern.
  5. Strategische Instrumente und Konzepte sind hinlänglich bekannt oder können leicht erworben werden.
  6. Eine selbst erarbeitete Strategie setzen Mitarbeiter auch selbst um – ohne Change Management.
  7. Der Unternehmensleitung konzentriert sich bei der Strategieentwicklung auf die richtige Frage- und Aufgabenstellung.
  8. Durch die gemeinsame Erarbeitung von Strategien entstehen eine Kultur des Dialogs und eine gemeinsame Sprache.
  9. Die strategische Gesamtverantwortung liegt in jedem Fall bei der Unternehmensleitung.
  10. Durch den integrierten Ansatz entsteht eine "einzigartige" Strategie, die auf die Bedürfnisse des Unternehmens zugeschnitten und nur schwer oder überhaupt nicht nachzuahmen ist.

Autor:
Ignaz Furger unterstützt seit 20 Jahren Unternehmen bei der Entwicklung und Umsetzung von nachhaltigen Strategien. Die Ausbildung der Mitarbeiter in strategischem Management mit praktischen Aufgaben bildet dabei eine zentrale Rolle. Er ist Inhaber der Firma Furger und Partner AG Strategieentwicklung in Zürich.


Quelle: Der Artikel erschien erstmals im Controller Magazin Nov. Dez. 2011

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Ignaz Furger, Furger und Partner AG