Den Weg des geringsten Widerstands managen

Der Ansatz des Amerikaners Robert Fritz liefert wertvolle Hinweise, warum manche Unternehmen kraftvoll nach vorne streben, während andere trotz intensiver Bemühungen nicht vom Fleck kommen.

Als die ersten amerikanischen Siedler in ihren Planwagen gegen Westen zogen, stellten sie fest, dass sie über weite Strecken einem Weg folgen konnten, der bereits vorgegeben war. Die Büffelherden, die seit Jahrhunderten über die großen Prärien gezogen waren, hatten ihn für sie ausgetreten. Als dann später die Gleise für die Eisenbahn verlegt werden sollten, stellten die Landvermesser fest, dass eben diese alten Bisonpfade die besten Routen zu den Rocky Mountains und dem dahinter liegenden Kalifornien boten. Die Büffel hatten den optimalen Weg gefunden und die Zukunftsbewegungen auf dem weiten Kontinent vorweggenommen. Geschafft haben sie dies, indem sie dem Prinzip vom Weg des geringsten Widerstands gefolgt sind. Was jeden ihrer Schritte leitete, war die Topgraphie des Landes. Wenn die Büffel auf ein Hindernis stießen, passten sie ihren Kurs an oder suchten nach der einfachsten Alternative für den nächsten Schritt.

Der Begriff "Weg des geringsten Widerstands" hat zwei unterschiedliche Bedeutungen: eine umgangssprachliche und eine wissenschaftliche. In der Umgangssprache ist damit "die einfachste Lösung" gemeint, oft verbunden mit der Vorstellung, sich damit vor der notwendigen Anstrengung zu drücken und damit ein schlechtes bis höchstens mittelmäßiges Ergebnis zu erzielen. Die wissenschaftliche Erkenntnis hingegen - und diese liegt den weiteren Ausführungen zugrunde - bezieht sich darauf, "dass Energie immer den Weg des geringsten Widerstands nimmt": Energie geht dort hin, wo sie am einfachsten hingelangt. Sie bewegt sich immer in die Richtung, in die sie am leichtesten fließen kann.

Erst verstehen, dann anwenden

Dieses Prinzip gilt nach Ansicht des Musikers, Komponisten, Malers, Filmemachers und Organisationsberaters Robert Fritz für Organisationen in der multinationalen Unternehmenswelt ebenso wie für das Wasser in einem Flussbett oder das Blut, das durch unsere Adern strömt. Und daraus ergeben wiederum sich einige für die Praxis wichtige Erkenntnisse und Einsichten.

  1. Energie nimmt immer den Weg des geringsten Widerstands.
    Daraus folgt: Veränderungen, die im Gegensatz zum Weg des geringsten Widerstands stehen, können auf Dauer nicht funktionieren.
  2. Der Weg des geringsten Widerstands entsteht nicht willkürlich, er ist vielmehr von der grundlegenden Struktur vorgegeben.
    Die Topographie des alten Westens bestimmte über den Weg, den die Büffel wählten. Wäre die Topographie eine andere gewesen, hätten sich die Büffel einen anderen Pfad gebahnt. Daraus folgt: Die Struktur legt den Weg des geringsten Widerstands fest. Auch Organisationen sind unausweichlichen Strukturgesetzen unterworfen, die ihr Verhalten steuern. Daher ist das Verstehen der Ursachen und Wirkungen von Strukturen die Voraussetzung, um den Weg des geringsten Widerstands gegebenenfalls verändern zu können.
  3. Wir können den Weg des geringsten Widerstands selbst bestimmen, indem wir neue Strukturen schaffen.
    Verändern wir die Strukturen, verändern wir den Weg des geringsten Widerstands. Um aber Organisationen so umzugestalten, dass der Weg des geringsten Widerstands in die Richtung zu führen beginnt, in die wir unsere Organisationen führen möchten, braucht es zwei Schritte: Verstehen und Anwendung. Ohne den ersten Schritt ist der zweite unmöglich. Daher geht es zuerst darum, ein Gespür für die Wirkungsweise der Strukturen zu entwickeln und für die Kraft, die im Weg des geringsten Widerstands liegt. Denn erfolgreiche wie nicht erfolgreiche Unternehmen folgen beide einem Weg des geringsten Widerstands, der sich jedoch in der zugrunde liegenden Struktur unterscheidet: Unterschiedliche Strukturen erzeugen unterschiedliche Möglichkeiten.

Wenn von Strukturen die Rede ist, denken viele Manager an irgendwelche Kästchen in der Unternehmenshierarchie. Doch dies sagt nichts über die von Fritz gemeinte strukturelle Dynamik aus, die eine Organisation antreibt und ihr Verhalten steuert. Genau darum geht es aber: Zu wissen, welche strukturellen Kräfte in der eigenen Organisation am Werke sind. Bei Strukturen denken wir meist an starre, festgefügte Objekte, die unbeweglich erscheinen, jedoch ist es hilfreicher, sich unter Strukturen dynamische Kräfte vorzustellen, die von ihrem Wesen her auf Veränderung ausgerichtet sind. Diese Strukturen bleiben uns oft verborgen, die Auswirkungen dieser Strukturen können wir aber mühelos erkennen: Etwa unzureichend finanzierte Projekte, denen die volle Unterstützung des Unternehmens fehlt; unklare Strategien; widersprüchliche Vorgehensweisen innerhalb des selben Unternehmens; Belohnungen, die für ganz andere Werte verteilt werden als für diejenigen, von denen das große Poster in der Eingangshallte kündet; eine alle paar Jahre wechselnde Ausrichtung der Organisation; Visionserklärungen, die im Alltagsgeschäft ignoriert werden; usw.

Eine erste kurze Definition: Struktur ist eine Einheit, die sich aus einzelnen Elementen oder Teilen zusammensetzt, die zueinander Beziehungen bilden und sich dadurch gegenseitig beeinflussen.

Fritz definiert in der Folge 9 Gesetze der Organisationsstruktur:

1. Entweder die Organisation oszilliert oder sie bewegt sich voran.

Wenn eine Aktion in einem Unternehmen auftritt, dessen Struktur auf Fortschritt ausgerichtet ist, hat sie eine völlig andere Wirkung als in einem Unternehmen, dessen Struktur auf Oszillieren angelegt ist. In beiden Organisationsformen kommt es zu einzelnen Erfolgen. Doch bei der sogenannten "voranschreitenden Struktur" zieht der Erfolg weitere Erfolge nach sich. Man kann darauf bauen, neue Erfolge hervorbringen sowie Schwung, Energie und Motivation entwickeln. In Organisationen, in denen die "strukturelle Oszillation" vorherrscht, ist der Erfolg hingegen nur etwas Vorübergehendes. Fritz verdeutlicht den Unterschied anhand eines Spielzeugautos und eines Schaukelstuhls. Stößt man den Schaukelstuhl an, schwingt er nach vorne, doch ab dem Scheitelpunkt kehrt sich die Bewegung um. Stößt man das Auto an, bewegt es sich in eine Richtung. Bei der strukturellen Oszillation verläuft der Weg des geringsten Widerstands zwar auch von einem Ort zum anderen, kehrt dann aber wieder zur ursprünglichen Position zurück.

2. In Organisationen, die oszillieren, wird der Erfolg aufgehoben. In Organisationen die sich voran bewegen, wird der Erfolg zur Grundlage weiterer Erfolge.

In einer oszillierenden Organisation können einzelne Mitarbeiter, Teams, Abteilungen, Bereiche durchaus Erfolge erzielen, aber der Erfolg in einer Abteilung führt häufig zu Problemen in anderen Teilen der Organisation. Drei Faktoren tragen dazu bei, das Oszillieren einer Organisation zu übersehen. Zum einen werden Erfolge gern belohnt – mit Prämien, Beförderungen, erweiterten Aufgabenbereichen – unabhängig davon, ob der Erfolg auch auf lange Sicht erfolgreich ist oder scheitert, wodurch die Erfolgreichen in ihren Bemühungen bestärkt werden. Zweitens machen Organisationen trotz Oszillation begrenze Fortschritte: einige Schaukelstühle schieben sich mit der Zeit tatsächlich ein Stück voran. Wer zwei Schritte vor und eindreiviertel Schritte zurück macht, ist tatsächlich vorangekommen. Aber um welchen Preis? Drittens kann sich die Oszillation über einen langen Zeitraum, möglicher Weise über Jahre erstrecken, weshalb oft nicht sofort offensichtlich ist, dass hier ein strukturelles Muster am Werk ist. Erst recht nicht in immer kürzer getakteten Organisationen, in denen die Aufmerksamkeit vor allem auf die Lösung kurzfristig drängender Probleme gerichtet ist.

3. Wenn die Organisationsstruktur unverändert bleibt, wird die Organisation in ihr früheres Verhaltensmuster zurückfallen.

Die typische Erfahrung in den meisten Unternehmen ist: Experten, Systeme und Wahlsprüche kommen und gehen, während das Unternehmen relativ unverändert bleibt.

4. Eine Veränderung der Struktur führt zu einer Veränderung des Organisationsverhaltens.

Welche konkrete Art von Veränderung hilft nun einer Organisation, von einem oszillierenden zu einem voranschreitenden Verhaltensmuster überzugehen? Der entscheidende Faktor, der den Weg des geringsten Widerstands formt, ist Spannung. Damit ist nicht Stress und Angst gemeint, sondern eine strukturelle Dynamik, die durch die Diskrepanz oder den Unterschied zwischen zwei Dingen entsteht. Vergleichbar dem Durst als Diskrepanz zwischen der Flüssigkeitsmenge, die der Körper braucht und der aktuell vorhandenen Menge im Körper. Spannung erzeugt ein Ungleichgewicht und strebt von sich heraus nach Auflösung.

LINK: Der Dreischritt: Ziele, Realität, Handlungspläne

5. Wenn die Organisation von struktureller Spannung beherrscht wird, macht sie Fortschritte.

Niemand will oszillierende Muster, warum gibt es sie dann? Weil n diesem Fall eine grundlegende Struktur einen Weg des geringsten Widerstands vorgibt, der es besonders leicht macht, zuerst die eine Handlungsweise, Strategie oder Taktik zu verfolgen und dann später das genaue Gegenteil zu tun. In diesem Fall ist ein struktureller Konflikt im Spiel. Beim strukturellen Konflikten erzeugen zwei konkurrierende Ziele zwei konkurrierende Systeme von Spannung und Auflösung. Ein typisches Beispiel: Hunger (Spannung) führt zum Essen (Auflösung). Aber wenn wir übergewichtig sind, erzeugen wir ein weiteres System von Spannung und Auflösung: Übergewicht (Spannung) führt zu Diät (Auflösung). Das Problem dabei: Diät führt zurück zu Hunger, der Teufelskreis schließt sich. Wenn sich bei strukturellen Konflikten das eine Spannungs-Auflösungs-System auf seine Auflösung zubewegt, wird das andere dominant. Weniger Spannung in einem System führt zu mehr Spannung im anderen.

6. Wenn eine Organisation von strukturellen Konflikten beherrscht wird, führt das zur Oszillation.

Ein typisches Beispiel: Eine Organisation will ihre Leistung verbessern und ihr Potenzial besser ausschöpfen. Ein Veränderungsbedürfnis (Spannung) führt zu einer Veränderungsbemühung (Auflösung). Das Unternehmen führt ein großes Veränderungsprogramm ein, Systeme werden reorganisiert, fachübergreifende Teams gebildet, neue Bewertungsmethoden angewendet und Mitarbeiter auf neue Positionen gesetzt. Im Lauf der Veränderung verbreitet sich bei den Mitarbeitern ein wachsendes Gefühl von Instabilität und Orientierungslosigkeit. Sie finden es schwieriger, ihre Arbeit gut zu erledigen, weil vertraute Ansprechpartner und Kommunikationswege verschwinden. Sie wissen nicht genau, was von ihnen erwartet wird und wer jetzt wofür die Verantwortung trägt.  Sie haben den Eindruck, dass die Realität mit den propagierten Idealen wenig gemeinsam hat. Sie sehnen sich nach Kontinuität, was sich schließlich zur dominierenden Spannung entwickelt und aufgelöst wird, indem sie Veränderungen vermeiden. Die Mitarbeiter fangen an, die neuen Zuständigkeiten zu umgehen und die neuen Verfahren zu ignorieren. Die Unterstützung für die Veränderung wird schwächer, die Veränderungsbemühungen untergraben und die Arbeitsmoral sinkt. Ab einem bestimmten Punkt wendet sich das Management dann von seiner Veränderungsbemühung ab und die Organisation kehrt zu ihrem gewohnten Verhaltensmuster zurück.

Nach allgemeiner Ansicht sind Veränderungen immer schwierig und die meisten Veränderungsbemühungen scheitern. Aber gilt das auch, wenn man einen guten Grund für die Veränderung hat? Kennen Sie jemanden, der zur Schreibmaschine zurückgekehrt ist, nachdem er die Vorzüge eines Textverarbeitungsprogramms kennen gelernt hat? Einige Veränderungen setzen sich leicht, quasi über Nacht, und dauerhaft durch. Ungeachtet der Komplexität von Organisationen sind Veränderungen möglich, WENN die grundlegende Struktur diesen Wandel unterstützt, weil sie einen voranschreitenden Weg des geringsten Widerstands erzeugt. Wenn jedoch die dominante Struktur der strukturelle Konflikt ist und der Weg des geringsten Widerstands zur Oszillation führt, wird auch das beste Veränderungsprogramm seine Stoßkraft verlieren und schließlich neutralisiert werden. Die meisten Menschen halten strukturelle Konflikte für Probleme, die gelöst werden müssen, doch das ist ein Irrtum, dies kann die Oszillation sogar noch verstärken.

7. Eine ungeeignete Organisationsstruktur kann nicht repariert werden. Aber man kann von einer ungeeigneten zu einer geeigneten Struktur übergehen.

Es ist besser, eine Organisation zu überdenken und neu zu gestalten, als sie wie ein Problem zu behandeln, das gelöst werden muss. Oft jedoch möchten wir uns von dem befreien, was wir nicht wollen, bevor wir verstanden haben, wodurch die Situation verursacht wurde.

LINK: Das Aufdecken oszillierender Muster

8. Wenn ein übergeordnetes Organisationsprinzip fehlt, oszilliert die Organisation. Wenn ein übergeordnetes Organisationsprinzip vorherrscht, schreitet die Organisation voran.

Auch bereichsübergreifende Teams können keinen Fortschritt bewirken, wenn ein Ordnungsprinzip fehlt. Der Versuch wird neutralisiert, weil das Team feststellt, dass es keine echte Unterstützung durch die Organisation erfährt. Umso wichtiger ist, dass das Management es erkennt, wenn es durch seine Entscheidungen strukturelle Konflikte fördert (z.B. durch widersprüchliche Ziele oder den Versuch, Widersprüche zu „balancieren“) und damit den Weg des geringsten Widerstands so verändert, dass er nicht ans Ziel, sondern von ihm wegführt.

9. Die Werte, die eine Organisation beherrschen, verdrängen schwächere, konkurrierende Werte.

Die größte schöpferische Kraft wird von einer Vision geweckt, der es gelingt, die Menschen im Innersten zu bewegen. Eine große Vision erzeugt große Werte. Wenn Menschen sich zusammen schließen, um ein gemeinsames Ziel zu verwirklichen, trifft jeder einzelne die persönliche Entscheidung zur Teilnahme. In dieser aktiven Wahl liegt eine immense Kraft. Wenn wir jedoch zur Teilnahme gezwungen oder dazu manipuliert werden, lehnen wir uns dagegen auf. Aktiv oder passiv aggressiv. Wir rebellieren und leisten Widerstand. Zu einer gemeinsamen strukturellen Spannung kommt es, wenn Menschen nicht nur die Vision, sondern auch die Auffassung von der gegenwärtigen Realität teilen.

Quelle: Robert Fritz: Den Weg des geringsten Widerstands managen, Klett-Cotta Verlag, 2000

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