Wie passiert Strategieentwicklung?

Vier Grundtypen im Umgang mit den Zukunftsfragen des Unternehmens.

Jedes Unternehmen entwickelt im Zug seiner Geschichte seine eigene Art und Weise, mit Zukunftsfragen umzugehen, auch wenn das im internen Sprachgebrauch nicht unbedingt "Strategie" genannt wird. Dennoch lassen sich nach Ansicht von Reinhart Nagel und Rudolf Wimmer, Autoren des Buchs "Systemische Strategieentwicklung" einige Grundmuster identifizieren, die man vier Grundtypen zuordnen kann.

  • die intuitive Strategieentwicklung
  • expertenorientierte Strategieentwicklung
  • evolutionäre Strategieentwicklung
  • systemische Strategieentwicklung

Die intuitive Strategieentwicklung

"Von einer intuitiven Entwicklung von Strategien sprechen wir dann, wenn eine oder wenige Schlüsselpersonen durch ihre engen Verbindungen zum jeweiligen Produkt und zu den Kunden in der Lage sind, aus ihrem impliziten, durch Erfahrung abgeleiteten Wissen um das geschäftlich Notwendige die entscheidenden Weichenstellungen vorzunehmen. Bei dieser Spielart steht die Person des Entscheidungsträgers im Mittelpunkt, weil ihr vom Rest des Unternehmens ganz selbstverständlich die Verantwortung für die Zukunftssicherung des Ganzen zugeschrieben wird."

Strategische Entscheidungen entstehen hier aus der Nähe des Unternehmensleiters zum Geschäft, sie wurzeln in dessen Erfahrung und seinem "Gespür" für geschäftliche Chancen. Ein expliziter Dialog im Unternehmen unterbleibt, oft kann der Unternehmer seine Strategie nicht einmal explizit benennen. Sein Verhalten ist geprägt vom "untrüglichen Riecher" und einem Agieren "aus dem Bauch heraus". Dabei ist nicht so wichtig, ob die Strategie vom Chef selbst stammt oder aus der Beobachtung anderer übernommen wurde. Im Vordergrund steht die ständige Suche nach neuen Chancen. Bei dieser Form der Strategieentwicklung nimmt sozusagen der Unternehmer die mit diesen Fragen unlösbar verbundene Unsicherheit auf sich. Aufgrund seiner Autorität und durch das Vertrauen auf die bisherigen Erfolge vermittelt er die Sicherheit, dass seine Entscheidungen auch künftig das Überleben sichern werden.

Am dominierendsten ist diese Spielart bei Pionier- und Familienunternehmen. Soweit vorhanden, agiert das mittlere Management in erster Linie in der Rolle des Vermittlers zwischen dem unternehmerischen Entscheidungsträger und der Belegschaft. Seine Kernfunktion besteht in der möglichst reibungslosen Umsetzung von Entscheidungen der Unternehmensspitze ins Tagesgeschäft. Neuerungen – auch von großer Reichweite – werden rasch entschieden und ebenso rasch umgesetzt. Der zentrale Risikofaktor liegt bei dieser Spielart in der Lernfähigkeit der Unternehmensspitze. Bisherige Erfolge können immunisierend wirken, mit der Gefahr erste Anzeichen von Misserfolg auszublenden und zu ignorieren. Da viele dieser Entscheidungsträger ihre strategischen Überlegungen mit niemandem aus dem Unternehmen teilen, unterbleibt oft ein im Fall des Wachstums unerlässliches Mitlernen der Führungskräfte aus der zweiten Ebene. Bei einem plötzlichen Ausfall des Entscheidungsträgers wird die langjährige Monopolisierung der unternehmerischen Entscheidungen zum gefährlichen Risiko.

Die expertenorientierte Strategieentwicklung

Diesem Grundmuster liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Intransparenz der Markt- und Wettbewerbsdynamik durch den gezielten Einsatz rationaler Analysemethoden erhellt werden kann. Wenn die Zahlen und Fakten nur möglichst umfassend erhoben und objektiv beurteilt werden, kann man – so die Theorie – rational abgesichert strategische Positionierungen vornehmen und die eigene Entwicklung zielsicher planen. Ergebnis dieser Spielart ist häufig ein ausgefeiltes, von internen Stäben oder externen Beratern erarbeitetes Strategiepapier, das dem Management erlaubt, zwischen mehreren Optionen zu wählen. Ist die Strategie einmal definiert, wird das Unternehmen gleichsam Mittel zum Zweck, nun muss die Strategie "lediglich noch umgesetzt werden".

Kommt es dabei zu Problemen, wird das normalerweise als Versagen einzelner Führungskräfte oder als Widerstand von Einzelpersonen oder Bereichen interpretiert, nicht aber als Folge eben dieses expertenorientierten Vorgehens bei der Strategiefindung. Denn zum einen ist Strategieentwicklung ein ideales Feld um Machtinteressen auszutragen, da es hier immer auch um die Verteilung von Resourcen auf Bereiche und Abteilungen geht. Je weniger diese Auseinandersetzung aufgrund der mangelnden Einbindung der Linienmanager im Zuge der Strategieentwicklung passiert, desto wahrscheinlicher passiert sie in der "Umsetzungsphase". Zudem weisen Kritiker dieses Ansatzes auf zwei problematische Grundannahmen hin, nämlich dass die für die strategische Neuausrichtung notwendigen Informationen alle verfügbar sind und dass es so etwas wie berechenbare Grundregeln der Marktdynamik gibt, aus denen sich verlässliche Erfolgsstrategien ableiten lassen. Beide Annahmen sind höchst zweifelhaft. Nicht umsonst wurden viele der hier verwandten Methoden bei großen Unternehmen in reifen Branchen entwickelt.

Evolutionäre Strategieentwicklung

Es spricht einiges dafür, dass strategische Neuorientierungen seltener das Ergebnis rationaler Konzepte sind, sondern häufiger eher zufällig und beiläufig aus einer Vielzahl kleiner Beobachtungen und Entscheidungen verschiedenster Funktionsträger resultieren. Im Lauf der Zeit verdichten sich einige dieser Veränderungen mitunter zu radikalen Kursänderungen. Diese Spielart basiert also auf der Überzeugung, dass sich neue Strategien mehr oder wenig zufällig aus nicht vorhersehbaren Anstößen ergeben. Lässt man marktnahen Einheiten, so die These, die Möglichkeit, Chancen eigenverantwortlich aufzugreifen, dann bietet das bei ohnehin nicht vorhersehbaren Marktentwicklungen die besten Aussichten: Was erfolgreich ist, wird verstärkt! Hier dominiert also das Bild des erfolgreichen Mitschwingens des Unternehmens mit sich zufällig ergebenden Marktchancen, angestoßen durch Marktveränderungen.

Diese Form der Strategieentwicklung ist häufig bei dezentral organisierten Unternehmen und Geschäftseinheiten  anzutreffen, die relativ autonom entscheiden können. Die Funktion des Top-Managements besteht hier eher darin, einen groben Orientierungsrahmen abzustecken, "die Leitplanken", um die autonomen Teilstrategien in eine gemeinsame Richtung zu lenken. Die Gefahr dieses Ansatzes liegt vor allem darin, dass die Gesamtlinie verloren geht, es entsteht ein Wirrwarr an Produkten und Technologien. Umso wichtiger sind periodische, strategieorientierte Abstimmungsprozesse zwischen den dezentralen Einheiten.

Systemische Strategieentwicklung

Die wichtigste Annahme dieses Ansatzes ist, dass wesentliche Einflussfaktoren auf die Eigendynamik des eigenen Umfeldes nicht durchschaubar, geschweige denn direkt beeinflussbar sind und dass die Zukunft auch mit noch soviel Aufwand nicht im Voraus berechenbar ist. Eine weitere Annahme lautet, dass Strategieentwicklung eine nicht delegierbare, gemeinschaftliche Führungsleistung ist, d.h. eine Aufgabe, die im Kern nicht an Stäbe, Berater oder Experten delegiert werden kann. Anders als beim reinen "Mitschwingen" der evolutionären Ansätze geht es hier stärker um gemeinsam erarbeitete Zukunftsentwürfe, die Orientierung und Richtung geben sollen, allerdings periodisch hinterfragt werden müssen. Vor allem geht es darum, die eigenen Überzeugungen und Grundannahmen (wie schätzen wir die technologische Entwicklung ein, warum so und nicht anders, auf welche Technologien schauen wir, auf welche nicht) offen zu legen, zu hinterfragen und zur Diskussion zu stellen - sich sozusagen "beim Beobachten zu beobachten" - um bislang unentdeckte blinde Flecken, aber auch Chancen in den Blick zu bekommen. Nicht umsonst meint Gary Hamel in seinem Buch "Das revolutionäre Unternehmen" so treffend: "Die meisten Unternehmen einer Branche sind auf die gleiche Weise blind – sie achten alle auf die gleichen Dinge und sind den gleichen Dingen gegenüber unaufmerksam." Nur wer aus diesem Sog gemeinsamer Realitätskonstruktion ausbricht, wird jene ungewöhnlichen Entwicklungen, "Lücken" und bislang nicht befriedigten Kundenbedürfnisse aufspüren, die andere noch nicht im Blick haben, um daraus künftige Geschäftschancen zu gewinnen. Und genau darum geht es ja schließlich.

Autor: Mag. Peter Wagner

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