Grundlagen und Methoden der Management-Diagnostik

Ein Überblick über typische Methoden und Strategien der Führungskräfteauswahl.

Grundfragen der Management-Diagnostik

Konzepte der Management-Diagnostik haben eine doppelte Funktion: Zum einen haben sie als manifeste Funktion den Anspruch, Führungskräfte oder Führungsteams bezüglich ihrer Führungsleistung oder in ihrem Führungspotenzial zu bewerten. Zum anderen transportieren sie idealerweise gleichsam als Kommunikationsmedien das in der betrachteten Organisation erwünschte Führungsverständnis, z.B. durch das verwendete Kompetenzprofil (s.u.). Auch sollten die zur Anwendung kommenden Verfahren die zentralen Werte der jeweiligen Organisation abbilden. So unterstreicht beispielsweise eine Managementdiagnostik, die auf so genannten Integrationsrunden (s.u.) beruht, viel stärker die Verantwortung der Führungskraft für die Managemententwicklung der nachgelagerten Ebenen als dies psychologische Verfahren, z.B. Tests, tun.

Bevor ein Konzept der Managementdiagnostik als Strukturelement in eine Organisation eingeführt wird, ist vor dem Hintergrund der jeweiligen Strategie und Organisationskultur zu erarbeiten, was in dieser Organisation das Bild einer zukunftsfähigen, gelungenen Führung ist. Erst wenn diese Vorstellungen geklärt und in einem für die Organisationsmitglieder glaubhaften Leitbild beschrieben werden konnten, erfolgt ihre weitere Konkretisierung in so genannten Leadership Competencies, die konkrete Verhaltens- und Erlebensanforderungen an Führungskräfte beschreiben.

Leadership Competencies

Diese Leadership Competencies (1) werden im Idealfall vor dem Hintergrund der Organisationskultur, der Strategie und vor allem des Führungsleitbildes organisationsspezifisch formuliert, ihre Anzahl schwankt je nach Aggregationsgrad typischerweise zwischen 4 und 15. Im Hinblick auf die heutigen, in dieser Artikelreihe schon mehrfach skizzierten Führungsherausforderungen, scheinen folgende Kompetenzen besonders relevant zu sein:

  • Unternehmerische Kompetenz beschreibt den Umfang, in dem eine Führungskraft in der Lage ist, ihr Führungshandeln als aktiven Beitrag zur Realisierung der Organisations- oder Bereichsziele zu gestalten.
  • Beziehungsgestaltungskompetenz (2) bildet zum einen die "klassischen" Komponenten sozialer Kompetenz ab, sie beschreibt zum anderen aber auch die Fähigkeit, belastbare personale Netzwerke zur Realisierung der Unternehmensziel zu schaffen und entsprechende mikropolitische Handlungen zu setzen (3).
  • Lern- und Entwicklungskompetenz fokussiert als mehrschichtige Variable auf Offenheit gegenüber Fremdem und Neuem sowie auf eigenes Lernen und die Förderung von Lernen im geführten Bereich.
  • Innere Unabhängigkeit fragt, in welchem Umfang eine Führungskraft ihre persönlichen Verhaltens- und Erlebensmuster kennt und in der Lage ist, sich in Situationen, in denen ihre jeweiligen Muster evoziert werden, auch entgegen diesen Mustern zu verhalten, wenn dies Sinn macht. Darüber hinaus ist sie ein Maß dafür, in wie weit eine Person auch in schwierigen Situationen eigenen Werten und Grundüberzeugungen treu bleibt, und sie beschreibt das Vermögen einer Führungskraft, auch in hochambivalenten Situationen ihre Handlungsfähigkeit aufrecht  zu erhaltenen.
  • Reflexive Kompetenz (4) gilt heute als Schlüsselkompetenz für das Management komplexer Situationen. Sie spiegelt die Bereitschaft und die Fähigkeit einer Führungskraft wider, professionell Reflexionsprozesse einzuleiten und durchzuführen. Dabei geht es um die Reflexion der eigenen Person und des eigenen Verhaltens ebenso wie um die Entwicklung einer reflexionsorientierten Kultur im eigenen Führungsbereich.
  • Fachliche Kompetenz gibt Aufschluss darüber, in wieweit eine Führungskraft die fachlichen/technischen Aufgaben ihres Bereiches beherrscht und darüber hinaus auch über interdisziplinäres Wissen verfügt.

Für ihre Umsetzung in Instrumente der Managementdiagnostik werden diese Kompetenzen je nach zu wählendem Verfahren operationalisiert, z.B. durch Verhaltensanker.

Die Frage nach dem Anforderungsprofil

Unterstellen die oben vorgestellten Leadership Competencies zumindest ansatzweise die Existenz situationsübergreifender Fähigkeiten von Führungskräften, so ist im Falle konkreter Maßnahmen wie beispielsweise einer Besetzung auch das stellenspezifische Anforderungsprofil zu betrachten. "Anforderungsprofil" darf dabei aber nicht in einem engen, rein technischen Sinne verstanden werden, sondern es sind auch historische, kulturelle und wertemäßige Aspekte der Organisation zu betrachten. Der Führungserfolg einer Person hängt neben ihrem Talent beziehungsweise ihrem Können auch wesentlich von der Frage ab, ob sie mit ihren Werten und mit ihrem Führungsverhalten in die betrachtete Organisation passt. Führungskönnen und –potenzial können nur bei gleichzeitiger Diskussion von Person und Kontext verstanden und bewertet werden. So kann es gut möglich sein, dass eine Führungskraft in einem Unternehmen höchst erfolgreich führt, nach einem Wechsel in ein anderes Unternehmen dort aber in der Führungsfunktion scheitert. Eine zukunftsorientierte Managementdiagnostik hat daher die Aufgabe, Führungskräfte beziehungsweise entsprechende Nachwuchskräfte, aber auch ganze Führungsteams vor dem Hintergrund ihres konkreten Handlungskontextes zu betrachten und zu bewerten. Traditionelle stellenbezogenen Anforderungsprofile sind damit sicher nicht nutzlos, sie sollten aber vor allem als Diskussionsgrundlage im Rahmen von Besetzungen oder Managementbewertungen gesehen werden und nicht als "Lastenheft". Das Kernthema im Hinblick auf eine Besetzung ist mit Mücke die Frage: "Kann der Manager seine Kernpersönlichkeit in der Organisation entfalten und kann das Unternehmen auf die Persönlichkeitsstruktur des Managers eingehen?" (5)

Skizze grundsätzlicher Zugänge und typische Methoden (6)

In einer ersten Näherung lassen sich drei grundsätzliche Ansätze der Managementdiagnostik unterscheiden:

  • Der Eigenschaftsansatz geht davon aus, dass Personen über relativ zeit- und situationsübergreifende Eigenschaften verfügen, die als stabile psychologische Faktoren auch systematisch gemessen werden können. "Eigenschaft" bedeutet in diesem Zusammenhang, wenn bestimmte Handlungen gemeinsam auftreten und eine Verhaltenstendenz erkennbar ist.
  • Der Verhaltensansatz unterstellt, dass das zukünftige Führungsverhalten im realen Kontext durch das gezeigte Verhalten in der diagnostischen Testsituation prognostiziert werden kann.
  • Der Biografische Ansatz geht davon aus, dass das zukünftige Führungsverhalten aus den Erfahrungen in der Vergangenheit vorhergesagt werden kann (wenn beispielsweise aufgrund früherer positiver Führungserfahrung bei den Pfadfindern Aussagen über zukünftigen Führungserfolg in einer Unternehmung getroffen werden).

Bei der so genannten Prozessdiagnostik (7) steht nicht die auf einen Zeitpunkt bezogene einmalige Bewertung einer Führungskraft im Mittelpunkt der Diskussion, sondern deren Veränderung über mehrere Beurteilungszeitpunkte. Nicht die punktuell erhobene Führungsleistung oder das Führungspotenzial, sondern der beobachtete Entwicklungs- beziehungsweise Lernzuwachs wir zum Indikator der zu erwartenden längerfristigen Bewährung.

Die am häufigsten verwendeten Verfahren der Managementdiagnostik sind

  • Das Interview, das sehr unterschiedliche und vielschichtige relevante Informationen über den Kandidaten liefern kann, je nach Art des Interviews und der verwendeten Fragen. Anwendung in der Unternehmenspraxis findet es vor allem im Rahmen der Rekrutierung und bei Potenzial- und Fördergesprächen.
  • Psychologische Testverfahren, bei denen typischerweise zwischen Leistungs- und Persönlichkeitstests unterschieden wird. Aus den erhobenen Daten sollen im Fall von Leistungstests Aussagen über das zukünftige Leistungsverhalten getroffen werden, Persönlichkeitstests sollen ein valides Bild der Führungspersönlichkeit liefern.
  • Situative Verfahren, wie sie vor allem in Gruppen- und Einzel-Assessment Center Anwendung finden. Hier geht es darum, "…in geeigneter Weise Erfolgsfaktoren aus dem sozial-interaktiven Bereich zu erfassen" (8). Reale Situationen aus dem Führungsalltag werden hier zum Beispiel in Form von Rollenspielen, Präsentationen, Fallstudien usw. simuliert. Dabei wird das von den Kandidaten gezeigte (Führungs-) Verhalten durch ein Assessoren-Gremium (das meist aus Führungskräften der Organisation und externen Beratern besteht) auf Basis der jeweiligen organisationsspezifischen Führungskriterien bewertet.

Sehr verbreitet in der Managementdiagnostik sind heute Gruppen- und Einzel-Assessment Center, wo situative, interaktionale Verfahren mit Tests und Interviews kombiniert werden. Gruppen-Assessment Center kommen vor allem auf Ebene von Nachwuchskräften zum Einsatz, für bereits etablierte oder höhere Führungskräfte wird auch aus Gründen der Diskretion das Einzel-Assessment Center vorgezogen.

Management Audits bestehen in ihrem Kern aus mehrstündigen Intensiv- beziehungsweise Tiefeninterviews, die meist von zwei externen Beratern durchgeführt werden. Zur Ergebnissicherung werden manchmal im zeitlichen Abstand von einigen Wochen zwei Audit-Interviews von zwei unabhängigen Berater-Paaren geführt, deren Einschätzungen später dann zu einem Urteil integriert werden. Ergänzt werden kann das Audit-Interview typischerweise durch ein 360° Feedback.

Die Managerdisputation, oft auch Hearing genannt, kommt schwerpunktmäßig bei Besetzungen im oberen Führungsbereich zur Anwendung, wo es darum geht, sehr komplexe organisationale Sachverhalte abzubilden. Die zu bewertende Führungskraft hat dabei die Aufgabe, in einer professionellen Präsentation zu aktuellen oder zukünftigen unternehmensspezifischen Fragestellungen Position zu beziehen. Beispielsweise kann die Aufgabe gestellt werden, konkrete Umsetzungsprojekte für die Realisierung der zukünftigen Unternehmensstrategie zu entwickeln und zu vertreten. Ein Panel von internen höheren und Top-Führungskräften, eventuell ergänzt durch Externe, bewertet die Darstellung sowohl in Bezug auf ihren Inhalt, als auch im Hinblick auf die Persönlichkeit des Bewerbers sowie sein Verhalten.

Zur Erhöhung der Validität, aber auch um ein möglichst umfassendes Bild der zu evaluierenden Führungskraft zu erhalten, empfiehlt es sich, unterschiedliche Ansätze parallel zu nutzen (wie es typischerweise im AC erfolgt). Erweitert werden können die beschriebenen Verfahren durch das Einholen von Referenzen, Konzepte des Self Assessment oder (s.o.) 360° Feedbacks.

Integrationsrunde oder Managementkonferenz als Königsweg (9)

Um interne Führungskräfte in ihrer Führungsleistung oder in ihrem Führungspotenzial einzuschätzen, verwenden Unternehmen mit zeitgemäßer Managemententwicklung heute oft so genannte Integrationsrunden, je nach Organisation oder Anwendungsschwerpunkt auch als Management- oder Potenzialkonferenz bezeichnet. Dabei werden Führungskräfte einer Ebene von ihrem direkten Vorgesetzten anhand einer Checkliste in ihrer Führungsleistung und ihrem Führungspotenzial bezüglich der jeweiligen Leadership Competencies eingeschätzt, im Idealfall rein qualitativ.

Um klar zwischen dem aktuellen Führungsverhalten und zukünftigen Entwicklungsspielräumen zu unterscheiden, werden die Vorgesetzten aufgefordert, ihre jeweils zu bewertenden Führungskräfte zu jeder Leadership Competency im IST und im POTENZIAL zu beschreiben und (erst) dann eine globale Einschätzung abzugeben. Dabei ist es wichtig, sich so weit als möglich an beobachtbarem Verhalten zu orientieren und die eigenen Aussagen mit konkreten Beispielen zu hinterlegen. Jenseits der Leadership Competencies sollte dabei auch bewertet werden, in welchem Ausmaß das Verhalten der betrachteten Führungskraft der jeweiligen Organisationskultur entspricht.

In der Managementkonferenz werden dann pro Organisationseinheit alle Leiter (10) einer Ebene von den jeweils bereichszugehörigen Leitern der nächst höheren Ebene (also die Vorgesetzten der Kandidaten) und deren Leiter (Leitungsteam) kritisch im Quervergleich diskutiert. Die vorbereitete Checkliste zur Management-Evaluierung stellt hierbei eine wichtige Unterlage dar. Die endgültige Bewertung der Führungsleistung und des Führungspotenzials wird nach eingehender Diskussion von der Konferenz getroffen, das heißt, die Konferenz ist die Institution, die Führungsleistung und –Potenzial der Kandidaten definiert. Um die Managemententwicklung in einem Unternehmen auf eine solide, breite Basis zu stellen, bietet es sich an, das Verfahren strukturgleich über alle hierarchischen Ebenen zu kaskadieren. Sinnvoll kann es sein, die Einschätzung des Linienvorgesetzten im Einzelfall durch geeignete Verfahren der Parallelvalidierung zu ergänzen, und zwar vor der Konferenz. Hierfür bieten sich beispielsweise Einzel- Assessment Center oder Management Audit an.

Die Validität des skizzierten Verfahrens dürfte um so höher sein, je mehr Aufmerksamkeit und Sorgfalt die beurteilenden Führungskräfte dem Thema Management-Bewertung (oft auch Qualitative Managementplanung genannt) widmen. Hiermit ist zum einen die Professionalität der Urteilsbildung angesprochen. Zum anderen basiert das Verfahren aber auch auf der laufenden Wahrnehmung der nachgelagerten Führungskräfte. Will man eine Führungskraft besonders differenziert bewerten (beispielsweise im Hinblick auf einen anstehenden Karrieresprung), so kann ihr Vorgesetzter sie mit einer besonders herausfordernden Führungsaufgabe (z.B. in einem Projekt) betrauen und dabei ihre Entwicklung beobachten und bewerten ( Prozessdiagnostik). Auch tragen Verfahren, die auf Integrationsrunden beruhen, aus naheliegenden Gründen dazu bei, dass organisationsspezifische Standards für Führung über alle Führungsebenen hinweg intensiv kommuniziert und damit auch entsprechend stark im Unternehmen verankert werden.

Anmerkungen:

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