„Der zentrale Kompetenz-Engpass liegt in der Geschäftsführung“

Dr. Rudi Wimmer über die größten Managerherausforderungen in Zeiten der Digitalisierung.

Was sind derzeit aus Ihrer Sicht die größten Veränderungen in den Organisationen?

Wenn ich an die Kundenorganisationen denke, kommt der größte Veränderungsdruck, der momentan spürbar ist, aus dem Digitalisierungsgeschehen. Viele Geschäftsprozesse ändern sich dadurch, dass sie auf Daten beruhen und sich hier das Arbeitsgeschehen teilweise dramatisch ändert, ebenfalls massiv. Gleichzeitig sind die meisten Branchen auch in ihren Geschäftsmodellen tangiert, weil sich durch die Verlagerung der Wertschöpfung in solche Datenverarbeitungsprozesse, sprich internetbasierte Prozesse, bisher ungeahnte Möglichkeiten auftun.

Ein konkretes Beispiel?

Ein Beispiel ist der Handel. Dadurch dass sich der Point of Sales ins Internet verlagert und die Leute hier rund um die Uhr einkaufen können, stehen der klassische Handel, der stationäre Handel und der Versandhandel, vor enormen Herausforderungen, weil ein größer werdender Teil des Verkaufsgeschehens ins Netz wandert. Das bedeutet, dass sich die Handelsunternehmen fragen müssen, wie sie auf diese neuen Herausforderungen mit ihren angestammten Lösungen wie einer Filialstruktur, den Standorten, der Sortimentspolitik etc. reagieren. Man kann ja nicht einfach tatenlos zuschauen. Man hat beim Versandhandel am Beispiel „Quelle“ gesehen, wo das hinführt. Bei „Otto“ kann ich, weil ich da näher dran bin, beobachten, wie dieses Unternehmen intensiv damit ringt und was für Antworten es darauf gibt, dass das klassische Versandgeschäft pro Jahr 5-10 Prozent verliert. Wenn man darauf ein Milliardenunternehmen aufgebaut hat, müssen die Alarmglocken entsprechend läuten. D.h. die Unternehmen müssen schauen, wie sie ihre Onlinekanäle ausbauen, eine Transformation der Verkaufsprozesse selbst in Gang setzen und andererseits ganz neue Lösungen schaffen, z.B. eine Plattformlösung, ähnlich wie Amazon oder Zalando das schon machen. Aber das kannibalisiert natürlich das bisherige Geschäft. Zumindest die Botschaft ist bereits angekommen, wie die Unternehmen das realisieren wird sich weisen.

Wie kann das organisatorisch konkret ausschauen?

Eine konkrete organisatorische Lösung ist eine relativ potente eigene Einheit mit jungen start-up-affinen Leuten, die miteinander diese Innovationsprozessen voran treiben, herausgelöst aus dem herkömmlichen Geschehen, unbeeindruckt durch deren Regeln und Kultur, Incentives, Bezahlsystemen und Führungsprozessen, mit der Möglichkeit, neue Dinge auszuprobieren.

Diese Gleichzeitigkeit der Veränderung des bestehenden Geschäfts unter Berücksichtigung der Erfordernisse der Digitalisierung und das Entstehen solcher herausgelöster „Innovationsbuden“, die befreit sind von der bisherigen Organisationswelt - das erlebe ich zur Zeit als eine der Kernherausforderungen, wo im Moment viel in den Organisationen experimentiert wird. Ein anderes Beispiel ist Bosch. Die befinden sich in einem riesen Transformationsprozess und haben z.B. eine eigene Einheit mit rund 500 Mitarbeitern aufgesetzt, um Angebote an die Industrie zu entwickeln und ihren Kunden zu helfen, deren Industrie 4.0 Bestrebungen umzusetzen. Sie definieren sich selbst als Speerspitze des Digitalisierungsgeschehens, statt nur einzelne digitale Produkte zu verkaufen und sagen ihren Kunden: Wir helfen euch bei euren Umbauprozessen. Auch in Richtung „smart home“. Da verkauft man nicht nur einzelne Geräte, sondern sieht den gesamten Haushalt in seinen Möglichkeiten. Diese Transformationsprozesse erleben wir in der Automobilindustrie, schon lange in den Medien, wo sich die Werbewirtschaft massiv umgestellt hat und im Finanzsektor, der sich da gerade erst am Beginn befindet. Aber alle wissen, das kommt.

Eine der Kernkompetenzen von Führungskräften ist mehr denn je, in Szenarien zu denken: Was könnte denn passieren? Denn keiner weiß wirklich, was kommen wird. Betrachtet man typische Trendaussagen vor 10 oder 20 Jahren, dann haben nur wenige richtig gelegen. Entweder man hat sich grob in der Zeit verschätzt oder die falschen Dinge hoch geschrieben.

Naja ich teile Ihre Einsicht, dass das Wichtigste derzeit ist, vor falschen Gewissheiten zu warnen. Das ist wieder das Problem der großen Beratungsunternehmen, denn die verkaufen Gewissheit. Das ist im Moment genau das Verkehrte, aber für viele Unternehmen ist es genau das Richtige, weil die Unsicherheit halt schwer aushaltbar ist. Sich selbst auf diesen Prozess der Ungewissheitsbearbeitung, des Experimentierens zu begeben, das ist bei vielen kulturell nicht anschlussfähig. Genau in diesem Zwiespalt bewegen sich viele Unternehmen. Wenn ich noch einmal an den Handel denke: Wenn die als Reaktion nichts anderes machen als das was sich im Moment schon beobachten lässt - Webshop-Lösungen in Ergänzung zum stationären Geschäft – dann sind das Antworten von Gestern auf die Digitalisierung. Das wird nicht wirklich den entscheidenden Beitrag zum eigenen Überleben leisten. Wenn man nicht experimentiert und sich aktiv auf die Suche begibt, was morgen oder übermorgen ein brauchbarer Zugang sein könnte – ohne vorschnelle Imitation schon bestehender Lösungen – dann wird Zukunftsfähigkeit immer schwieriger werden.

Seit einiger Zeit in der Beraterwelt sehr modern ist der Begriff der VUCA-Welt, volatility, uncertainty, complexity, ambiguity… Ist die Welt wirklich plötzlich so komplex oder war sie nicht immer schon komplex? Wobei natürlich durch die Digitalisierung gewisse Prozesse wesentlich beschleunigt wurden. Früher haben halt bestimmte Vereinfachungen noch eher gegriffen als heute, oder?

Ja, sie war immer schon komplex. Darum sind Begriffe, die behaupten, wir würden heute in einer ganz anderen Welt leben, in gewisser Weise eine ahistorische Betrachtungsweise, weil sie ein Stück weit leugnen, was sich ohnehin schon über die letzten 30-40 Jahre in der Wirtschaft und in den dort operierenden Organisationen, aber nicht nur dort, als Herausforderung gezeigt und getan hat. Man konnte halt lange Zeit noch mit Versprechen operieren, die Sicherheit suggeriert haben. Die haben zwar bereits einiges an Glaubwürdigkeit eingebüßt, werden aber nach wie vor generiert.

Um auf den Handel bzw. in diesem Fall den Lebensmitteleinzelhandel zurückzukommen: Natürlich wird es hier enorm wichtig werden, nicht nur zu schauen, was da eine Reihe von Start-ups machen, sondern auch hinzuschauen, wie sich im Lebensmittelhandel die Versorgungsmöglichkeiten in Zukunft weiter entwickeln werden. Da haben wir in den Ballungsräumen ein sehr dichtes Angebot, aber je besser die Zustellprozesse in den Ballungsräumen funktionieren, desto spannender wird es. Wenn Amazon es hinbekommt, da innerhalb von einigen Stunden selbst zuzustellen – und wenn man Amazon beobachtet, dann kann man wohl davon ausgehen, dass die das hinbekommen werden -  dann bekommen viele Firmen bzw. ganze Branchen ein massives Problem. Ich rate jedenfalls massiv davon ab zu glauben, dass sich Amazon da eine blutige Nase holen wird. Ich hatte vor einiger Zeit ein längeres Gespräch auf unserer Uni mit dem Europachef von Amazon über deren Entwicklungen. Gemäß ihrem Selbstverständnis verstehen die sich ja im Wesentlichen als innovativen Logistiker, weniger als Händler.  Die Innovationsauseinandersetzung passiert einerseits über die digitalen Lösungen, d.h. die Bestellprozesse und über die logistische Herausforderung, dass die Waren auch verfügbar sind und dann zeitnah an der Wohnungstür erwartungskonform abgeliefert werden können. Da können Sie davon ausgehen, dass Amazon das in 1,2 3 Jahren professionalisiert und perfektioniert hat - und wenn das gelingt, dann hat das wiederum massive Auswirkungen auf den ganzen Zustellmarkt. Post, DHL, Hermes, etc. die stehen da schon heute enorm unter Strom, weil ihnen Amazon damit das Messer an die Brust setzt. Entweder bekommen die die Logistikprozesse schnell dort hin oder Amazon macht es selbst. Damit wandert auch dieses Marktsegment zu Amazon. Das haben sie in den USA bereits vorgezeigt. Ich beobachte das schon einige Zeit und bin sicher, dass Amazon das in den Markt bringen wird. Das nötige Geld dafür haben sie, da sie nichts ausschütten, sondern fast 100 Prozent reinvestieren. Das sollte man ernst nehmen. D.h. die etablierten Handelsunternehmen müssen sich da rechtzeitig schlau machen, wie sie eine Nische bedienen können, die von den großen Plattformlösungen nicht abgedeckt wird.

Wie kommt man als Manager angesichts der vielfältigen, teils widersprüchlichen Entwicklungen zu einem adäquaten Bild, was da auf uns zukommt, wie die eigene Branche in 3 oder 5 Jahren ausschauen könnte? Im Nachhinein denkt man sich häufig, das hätten wir doch kommen sehen müssen, aber in dem Moment sieht es (fast) keiner. Wer spielt ständig Szenarien mit unterschiedlichsten Annahmen durch?

Was sich da schon geändert hat, ist, dass mit Blick auf die von Ihnen angesprochene Dynamik auch der Umgang mit Strategieentwicklung gefordert ist, neue Wege zu gehen. Weil eben diese Rhythmik von Strategieprozessen, wo man sich in Abständen den Markt angeschaut und immer wieder mal eine Repositionierung gemacht hat, für diese Herausforderungen nicht mehr angemessen ist. Darum braucht es organisatorische Lösungen und Führungsprozesse, die mehr Gleichzeitigkeit der Veränderungen einerseits im bestehenden operativen Geschäft und andererseits in Bezug auf die neuen Themen ermöglichen. Diese neuen Themen generieren neue Geschäftsmodelle, die wiederum disruptive Veränderungen auf das bestehende Geschäft auslösen. Da ist meine Erfahrung, dass die etablierten Führungskräfte an der Spitze der Unternehmen einer Generation angehören, die nicht ausreichend vertraut ist mit der Kombination von Technologie-Know-How (was tut sich da technologisch in der Digitalisierung, bei Big Data, Artificial Intelligence) und der Frage, wie man das in neue Geschäftsmodelle transformieren kann. Wenn ich aber den Führungsetagen keine Leute habe, die das erfahrungsgetränkt, nicht nur aus einer gewissen Beobachtung heraus, verstehen (ich kann mir das zwar erklären lassen, aber deswegen bin ich damit noch lange nicht ausreichend vertraut mit diesen Themen) dann ist genau das heute der zentrale Engpass, dass sich die Führungsteams bislang nicht mit solchen technologievertrauten Persönlichkeiten ausgestattet haben. Wenn ich die nicht in den Entscheidungsgremien habe, dann rede ich als Führung über etwas, wovon ich eigentlich keine Ahnung habe. Das zu delegieren, führt dazu, dass man dann die Frage an die eigenen IT Leute stellt oder das Management „Learning Journeys“ macht und ins Silicon Valley fährt – dadurch wird man vielleicht offener – aber dadurch entsteht noch nicht die nötige Kompetenz. Dazu kommt: Die eigenen IT-Leute sind da oft auch wenig antwortfähig, denn die stammen häufig noch aus einer ganz anderen IT-Welt. Oder man kauft sich das von außen ein - da gibt es viele Anbieter für Webshops, Innovation Labs, etc. - aber auch damit entsteht nicht rasch genug der eigene Kompetenzaufbau in den eigenen Führungsriegen.

Was genau ist die zentrale Kompetenz?

Ich brauche Leute, die das Neue denken können und einen Freiraum, wo diese Leute ausprobieren können. Das geht nur über Versuch und Irrtum. So wie halt Start ups auch monatelang oder gar jahrelang am Probieren sind, welche kundenadäquate Leistung am Markt ins Fliegen kommt. Das funktioniert nur durch Ausprobieren. Letztlich bleibt keinem Unternehmen der Aufwand erspart, in diese Start-up-förmigen Ausprobierprozesse hineinzugehen. Das aber in einer bestimmten Weise: kontrolliert und beobachtbar gemacht für Leute in Entscheidungsgremien, die beurteilen können, was da in diesen Start-up-förmigen Einheiten getrieben wird. Was man da aushalten, dulden, ausgeben muss – bleiben wir dabei oder setzen wir das Geld woanders besser ein? – wenn diese Urteilskraft in den Top-Ebenen und Managementgremien nicht vorhanden ist, bekommt das ein Eigenleben. Dann entsteht in der Führung das Gefühl: Die verbrennen nur Geld! Da kommt nichts Gescheites dabei raus! Drehen wir das Ganze wieder zu oder verkaufen wir es, solange andere da noch Illusionen haben! Diese Kompetenzkombination sehe ich als einen zentralen Engpass. Solche Leute gibt es inzwischen, aber sie sind rar. Das sind Leute mit 10 Jahren Start-Up-Erfahrung, eigenen Scheitererfahrungen, aber auch erfolgreichen Exits. Wenn Sie mich fragen, worauf es ankommt, dann ist es, auf der Führungsebene genau diese Urteilskraft aufzubauen, statt zu hoffen, dass man durch Delegation diese Lösungskraft irgendwo einkaufen kann. Da wird man erstens nicht schnell genug sein und zweitens nicht treffsicher genug.

Das meint die Idee, da gibt es viele Start-ups und da kaufe ich dann eine, die passt?

Genau. Aber auch dafür brauche ich jemand, der das beurteilen kann. Der die Start-ups screent und die Urteilskraft hat. Diese Leute können nur einen Filter schaffen, aber nicht die Urteilskraft der Führung ersetzen. Eine weitere, nicht zu unterschätzende Herausforderung ist kultureller Natur: Wenn Führungskräfte sehen, dass sie ihr angestammtes Geschäft noch effizienter machen müssen, damit das verdiente Geld dann in einem anderen Bereich von jungen Hüpfern verbrannt wird, dann muss man das erst einmal aushalten. Persönlich und als Organisation.

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Prof. Dr. Rudolf Wimmer, osb-i